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Europa Kreuze beim Nein

Vorbei die Zeiten, da die Deutschen als Mustereuropäer galten. Bei der Regierungskonferenz zur EU-Reform zeigt sich Bonn als Bremser. Die Regierung mag ungern Kompetenzen an Brüssel abgeben. Doch eine Stärkung der Europa-Institutionen ist unumgänglich. Ohne einen gründlichen Umbau kann die Gemeinschaft eine Erweiterung nicht verkraften.
aus DER SPIEGEL 40/1996

Der Kanzler läßt keinen Zweifel zu: Die Deutschen sollen die besten Europäer sein - auch wenn sie sich über Brüssel ärgern müssen.

Der Krach mit der Kommission um die Subventionen für Ostdeutschland tut schon fast nicht mehr weh. Bonn, so versprach Helmut Kohl letzte Woche, werde alles tun, die Währungsunion voranzubringen und »einen miserablen Start des Euro« zu verhindern.

Doch die Musterknaben, als die der Kanzler sie gern präsentiert, sind die Deutschen nicht. Bei der Regierungskonferenz, die sich diese Woche zum Sondergipfel in Dublin zusammenfindet, zeigt sich Bonn als schwieriger Partner: Politische Kompetenzen mag Deutschland nur zögernd an Brüssel abgeben.

Mitte September schickten die Iren, derzeit turnusgemäß Inhaber der Präsidentschaft in der Europäischen Union, allen EU-Regierungen einen Fragebogen über die Einführung des Mehrheitsprinzips bei Ratsentscheidungen. Noch immer können zentrale Fragen der Gemeinschaft nur einstimmig entschieden werden, das Veto eines einzigen der 15 Partner blockiert alles.

Nur durch Abschied vom Einstimmigkeitsprinzip ist eine demnächst auf 20 bis 27 Mitglieder erweiterte EU handlungsfähig. Zum informellen Gipfel der Staats- und Regierungschefs, für Ende dieser Woche in der irischen Hauptstadt geplant, sollte handfestes Reformwerk auf den Tisch. In einer fünfseitigen Übersicht sollten die Regierungen ankreuzen, so die Bitte aus Dublin, über welche Themen sie künftig mit Mehrheit entscheiden lassen wollen.

Der Fragenkatalog wurde - vorsichtshalber - in den Bonner Ministerien erst mal als interne Vorlage herumgeschickt. Das Auswärtige Amt, traditionell integrationsfreudig, votierte zu den meisten Themen mit »ja« für Mehrheitsentscheidungen.

Doch aus anderen Bonner Ressorts gab es reihenweise Kreuze beim »Nein«. Das Ergebnis der Umfrage fiel so negativ aus, daß die Regierung auf eine Antwort an Dublin vorläufig verzichtete.

Innenminister Manfred Kanther (CDU) sperrt sich dagegen, einem Brüsseler Mehrheitsvotum bei der Sicherheits- und Asylpolitik folgen zu müssen. CSU-Finanzminister Theo Waigel legt sich quer gegen jeglichen Ansatz, die europäischen Steuersysteme per Mehrheitsentscheid harmonisieren zu lassen.

Wirtschaftsminister Günter Rexrodt (FDP) mag auch nicht auf sein Vetorecht verzichten. Er fürchtet beispielsweise um den Bestand der deutschen Handwerksordnung, mit der sich deutsche Bäcker- und Installateurmeister ausländische Billigkonkurrenz vom Hals halten.

Dem Landwirtschaftsminister Jochen Borchert (CDU) paßt die ganze Richtung nicht. Er verlangt sogar, die Macht der Europäischen Kommission in Brüssel zu beschneiden und deren Initiativrecht für EU-Vorlagen einzuschränken. So hofft Kohls Mann für die Bauern, über den Ministerrat mehr Einfluß auf die europäische Agrarpolitik zu gewinnen.

Borcherts Vorstoß, klagt ein Bonner EU-Diplomat, wirke auf viele Partner-Staaten »mindestens so böse« wie vor kurzem der Rechtsbruch des Dresdner Regierungschefs Kurt Biedenkopf (CDU), der entgegen der Entscheidung der EU-Kommission Millionen-Subventionen an Volkswagen auszahlte.

Die EU-Kommissarin Monika Wulf-Mathies hält das Bonner Umfrageergebnis für erschütternd: Die Minister des Ober-Europäers Kohl erwiesen sich wieder einmal als »europaskeptische Bremser«. Für die streitbare Europäerin steht fest: »An das Initiativrecht der Kommission wird nicht gerührt.«

Die Befugnisse der Kommission sind auch Thema im Auswärtigen Amt. Der EU-Regierung soll die Finanzhoheit für das eigene Personal beschnitten, die Zahl der Kommissare begrenzt werden. Die Mitgliedstaaten sollen nicht mehr, wie bisher, alle mindestens einen Kommissar stellen, sondern nur noch in einem Rotationssystem zum Zuge kommen.

Die Bonner Europa-Vision »wird anspruchsloser«, analysiert der britische Economist. Nun hätten endlich auch die Deutschen »ein Europa der Nationen« im Blick und nicht mehr - wie wohl einst Helmut Kohl - »die Nation Europa«.

Grundsätzlich seien in Bonn alle für eine Vertiefung der Gemeinschaft, weiß Kohls Beauftragter für die EU-Regierungskonferenz, Staatsminister Werner Hoyer (FDP). Wenn es aber »ans Eingemachte«, die Zuständigkeiten der Ressorts gehe, »überwiegen häufig die Ausnahmen die Regel«.

Etwa beim Thema Arbeitslosigkeit. Zwei Drittel der EU-Staaten wollen die Gemeinschaft stärker als bisher auf das politische Ziel verpflichten, von Brüssel aus für mehr Arbeitsplätze und Beschäftigung zu sorgen - und dies auch in den Unions-Vertrag schreiben. Aus Bonn kommt bisher ein kategorisches Nein.

Das Ankurbeln der Wirtschaft sei Sache der nationalen Regierungen, argumentieren die Deutschen. Über Brüssel würden Milliarden, womöglich auch noch über Kredite finanziert, unnütz verschleudert. Auch Textvorschläge aus Dublin, die lediglich unverbindlich ein »hohes Beschäftigungsniveau« als Ziel markierten, seien, so ein vertrauliches Positionspapier des Auswärtigen Amtes, »strikt abzulehnen«.

Ohne Inspiration schleppt sich so die Regierungskonferenz zur Reform der EU dahin. Seit mehr als einem halben Jahr verhandeln die Beauftragten der 15 Regierungen. Die Zeit drängt: Ohne eine gründliche Reform der Brüsseler Institutionen und der Entscheidungsabläufe ist an eine Erweiterung nicht zu denken.

Jacques Santer, Präsident der EU-Kommission, wirft den Regierungen in der EU »Gleichgültigkeit« und »geringen Ehrgeiz« vor. Der Sondergipfel in Dublin soll nun für neuen Schwung sorgen. Nur so könne, hofft ein deutscher Unterhändler, »der Widerstand der Bedenkenträger« gebrochen werden.

Die Bedenkenträger sitzen natürlich nicht nur in Bonn. Frankreich etwa sperrt sich gegen eine Aufwertung des Europaparlaments - was gerade den Deutschen wichtig ist. Bonn will den Abgeordneten das Recht zugestehen, mit Mehrheit getroffene gesetzgeberische Beschlüsse des Rates abzuändern oder gar abzulehnen.

Das Parlament bekäme damit quasi die Funktion einer zweiten Kammer neben dem Rat - ähnlich wie der deutsche Bundesrat. Unklar ist, wie im Konfliktfall das Vermittlungsverfahren laufen soll.

So sperrig sich die Franzosen mit Blick auf ihre Nationalversammlung gegenüber neuen Befugnissen für die Europa-Abgeordneten zeigen, so bereit sind sie anscheinend, der Einführung von Mehrheitsentscheidungen bei der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zuzustimmen. Noch ist umstritten, ob künftig ein Politiker oder ein hoher Beamter die Union nach außen vertreten wird.

Einig ist man sich in Paris und Bonn immerhin, daß die Außenvertretung künftig koordiniert werden soll. Viel zu sagen wird der dafür Verantwortliche allerdings nicht haben, es hapert nach wie vor an Gemeinsamkeit in der Sache.

Der Bonner Europa-Beauftragte Hoyer plädiert dafür, in Brüssel einen ständigen Rat von Europabeauftragten der Regierungen im Rang stellvertretender Außenminister einzurichten. Die Juniorminister mit ständigem Sitz in der europäischen Hauptstadt sollen die Alltagsprobleme abarbeiten und dem Rat der Außenminister die Tagesordnung für Hochpolitisches freihalten (siehe Interview Seite 24).

Kernpunkt einer neuen deutsch-französischen Initiative soll eine »Flexibilitätsklausel« sein. Hinter dieser Formel stecke, so ein Außenamts-Mitarbeiter, das »wohl schwierigste Problem der Regierungskonferenz«.

Es geht um die Frage, ob und nach welchen Regeln in Zukunft ein Teil der EU-Staaten voranmarschieren darf, wenn nicht alle mitmachen wollen - etwa beim humanitären Einsatz von Soldaten oder der Bekämpfung von international operierenden Drogendealern.

Ohne zusätzliche Flexibilität, das steht fest, ist die Union bald am Ende ihrer Handlungsfähigkeit. Doch ein Vorpreschen weniger Staaten birgt die Gefahr in sich, daß die Union sich mehr und mehr in Partikularinteressen aufspaltet - und sich am Ende ganz auflöst.

Deshalb wollen Bonn und Paris für alle Politik-Pfeiler der Union - Wirtschaft, Äußeres und Sicherheit, Innen und Justiz - speziell zugeschnittene Spielregeln formulieren und vertraglich festschreiben lassen. Diese Regeln sollen drei nur schwer vereinbare Vorgaben gleichzeitig erfüllen:

* Kein EU-Staat soll mehr per Veto verhindern können, daß die übergroße Mehrheit der anderen vorangeht.

* Es darf aber auch kein Staat gezwungen werden, sich an einem vereinbarten Projekt zu beteiligen.

* Gleichzeitig muß dafür gesorgt sein, daß jederzeit jeder Staat teilnehmen kann. Die einen dürfen also nicht so weit vorpreschen, daß ein Aufschließen der anderen unmöglich ist.

Es müsse für die Zukunft verhindert werden, fordert Außenminister Klaus Kinkel (FDP), »daß ein Schiff den ganzen Konvoi aufhält«. Das zielt vor allem auf die Briten, die sich unter Führung der Konservativen immer stärker vom europäischen Geleitzug lösen.

Nur bei einem Thema der Regierungskonferenz sind sich die Briten mit Paris und Bonn einig: Vor einer Erweiterung der Union müssen die Gewichte der einzelnen EU-Staaten in den Unionsgremien neu austariert werden. Sonst würde der Einfluß der großen Staaten zurückgehen.

Wenn künftig über die meisten Fragen mit Mehrheit entschieden wird, wächst die Gefahr, daß die europäischen Kernstaaten von einer Vielzahl neu aufgenommener Länder majorisiert werden - beispielsweise von Malta und Zypern und einer ganzen Reihe mittel- und osteuropäischer Staaten.

Mehrheitsentscheidungen in den Räten sollen deshalb nur gelten, so die Forderung der Deutschen, wenn dabei auch die Mehrheit der Bevölkerung der Gemeinschaft vertreten wird. Kommt es zu dieser »doppelten Mehrheit« (Brüsseler Amtsjargon), dann kommt an den 80 Millionen Deutschen, verbündet etwa mit den 58 Millionen Franzosen und den 57 Millionen Italienern, kaum eine Koalition kleinerer Staaten vorbei.

Die vorhersehbare Gegenwehr der Kleinen bringt gerade die Bonner Unterhändler auf der Regierungskonferenz in die Klemme. Im Interesse der Währungsunion, so lautet nämlich der klare Auftrag Helmut Kohls, sei »Streit mit den Kleinen« unbedingt zu vermeiden.

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Aufbau der EU

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