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FAMILIENPOLITIK Krieg um Zahlen

Ursula von der Leyen hat ihren politischen Erfolg eng mit der Entwicklung der Geburten verknüpft. 2008 wurden in Deutschland weniger Babys geboren, in der Statistik liegt es europaweit ganz hinten. Ist die Ministerin mit ihrer Politik gescheitert?
Von Kerstin Kullmann und Merlind Theile
aus DER SPIEGEL 33/2009

Jemanden wie Uta Gielke dürfte es aus Sicht von Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen gar nicht geben. Gielke ist 38 Jahre alt, hat eine glückliche Beziehung und einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Ihr Chef ist kinderfreundlich, und in ihrem Wohnort Hamburg ist die Zahl der Krippenplätze überdurchschnittlich hoch. Auf den ersten Blick spricht nichts dagegen, dass sie Mutter wird. Das Dumme ist nur: Sie möchte das gar nicht.

Gielke spürte keinen Kinderwunsch, als sie studierte, keinen, nachdem sie vor acht Jahren mit ihrem Freund zusammenkam. Und immer noch keinen, als sie ihren Job antrat. Die Regierungsjahre Ursula von der Leyens zogen an ihr vorbei. Sie fühlte sich nicht vom Elterngeld angesprochen und auch nicht vom Ausbau der Krippenplätze. Und doch machte ihr die Familienministerin damit das Leben schwer.

Deutschland braucht mehr Kinder, damit die Gesellschaft nicht überaltert, damit die Renten und die Gesundheitsversorgung finanzierbar bleiben. Vor allem hochqualifizierte Frauen wie Uta Gielke sollen diese Kinder gebären. Von der Leyen lässt es so aussehen, als müsste sie bloß ein paar Instrumente bereitstellen, und die Geburtenrate ist gerettet. Aber damit, sagt Gielke, sei aus ihrer persönlichen Entscheidung gegen ein Kind plötzlich eine politische geworden.

Die Gespräche im Bekanntenkreis hätten einen schärferen Ton bekommen. »Du hast doch deinen Freund, deinen Abschluss, deinen Job, und jetzt gibt es dieses Elterngeld - müsstest du nicht endlich ein Kind kriegen?« Nein, müsse sie nicht. Inzwischen hat sich Gielke, blond, zierlich, freches Lächeln, an die Reaktionen gewöhnt, an den Vorwurf, unausgesprochen, eine kinderfeindliche Egoistin zu sein. »Ich mag Kinder«, sagt sie. »Aber ob ich selbst eins will, bleibt meine eigene Entscheidung.«

Kein Kind wollen, obwohl der Staat mehr Geld an Eltern überweist? Keine Babys planen, obwohl es mehr Krippenplätze gibt? Frauen wie Uta Gielke dürften Familienministerin von der Leyen allmählich verzweifeln lassen. Seit fast vier Jahren ist sie im Amt. Sie hat das Elterngeld, die Vätermonate und die Zuschüsse für die Betreuung der unter Dreijährigen in der Großen Koalition durchgesetzt. Sie wollte eine Politik machen, die es den Deutschen nahelegt, sich für ein Kind zu entscheiden.

Doch es tut sich nichts bei den Geburten. 2008 kamen in Deutschland rund 683 000 Kinder auf die Welt. Das waren ein paar tausend weniger als im Vorjahr. Und es bleiben immer mehr Frauen kinderlos. Unter den westdeutschen Akademikerinnen, die 35 Jahre und älter sind, hat schon fast jede dritte keinen Nachwuchs mehr.

Am Montag vergangener Woche gab das Amt für Statistik in der Europäischen Union bekannt, dass in allen Ländern der EU die Zahl der Geburten pro tausend Einwohner gestiegen ist. Nur in Deutschland nicht. Deutschland bleibt Schlusslicht.

Die Vorzeigeministerin im Kabinett der Großen Koalition muss sich nun Kritik anhören. Dass der CDU wohl die Ideen ausgegangen seien, mäkelte Frank-Walter Steinmeier. Dass es nichts bringe, auf die Geburtenrate zu starren wie das Kaninchen auf die Schlange, spottete Manuela Schwesig, die Sozialministerin aus Steinmeiers Kompetenzteam. Dass von der Leyen statistische Schönfärberei betreibe, kritisierten die Grünen. Sie sei an ihrem eigenen Anspruch, die Geburtenzahlen zu erhöhen, gescheitert.

Die Familienministerin war 2005 angetreten, um die Deutschen vom Bann der sinkenden Geburtenzahlen zu befreien. Acht Jahre lang war es da schon abwärtsgegangen. Im ganzen Land schlug man Alarm, die Sozialsysteme würden kollabieren, vom »Gebärstreik«, vom Aussterben der Deutschen und »harten Verteilungskonflikten« zwischen Jung und Alt war die Rede.

Im April 2008 kann von der Leyen einen Etappensieg verkünden. Sie steht in ihrem Büro am Berliner Alexanderplatz, die Hände in den Hosentaschen, sie lacht ein großes Ministerinlachen. 2007 sind erstmals seit zehn Jahren mehr Kinder auf die Welt gekommen. Am 1. Januar 2007 war ihr Elterngeld in Kraft getreten. Sie sagt: »Wir hatten zum ersten Mal seit Jahren keinen Geburtenrückgang mehr, sondern mit 1,45 die höchste Geburtenrate seit der Wiedervereinigung. Ich sehe eine Trendwende, mit ausgelöst durch die neue Familienpolitik.«

Es war die erste Sternstunde ihrer Amtszeit. Dachte sie. In Wahrheit war die Zahl nicht so gut wie zunächst verkündet. Als im August die endgültigen Zahlen für 2007 vorlagen, stellte sich heraus, dass die Quote nur von 1,33 auf 1,37 Kinder pro Frau gestiegen war. Es gab dann noch häufiger Verwirrungen um die Zahlen.

Und nichts ist für Ursula von der Leyen so wichtig wie Zahlen. Sie hatte sich dazu entschieden, den Erfolg ihrer Politik am Anstieg der Geburten im Land zu messen. Demnach ist sie gescheitert.

Keine deutsche Familienministerin hat bisher gewagt, den Zusammenhang zwischen ihrer Politik und der Geburtenzahl so deutlich zu betonen wie von der Leyen. Selbst Helmut Kohl, der Kanzler, dem die »Familje« angeblich über alles ging, beschied seine Ministerin Claudia Nolte, als die sich 1998 über die Überalterung der Gesellschaft sorgte, dass das Kinderkriegen leider »Sache der Leute« sei. Der Kanzler habe da kein Weisungsrecht.

Ursula von der Leyen dagegen kämpft für eine höhere Geburtenrate, und das merkt auch Monica Marcu in Luxemburg; sie ist Statistikerin bei Eurostat, der Behörde, die in jedem Jahr die Daten über die Geburtenentwicklung in Europa zusammenstellt. Marcu wurde bereits am Montagnachmittag gebeten, die Statistik, die Deutschland auf dem letzten Platz zeigt, zu korrigieren. Das deutsche Familienministerium hatte sich beschwert, man habe falsche Zahlen verwendet.

Marcu sagt, die Zahlen seien fristgerecht Mitte Mai beim Statistischen Bundesamt abgerufen worden. Und dass das Bundesamt zu diesem Zeitpunkt wohl noch von einer etwas niedrigeren Geburtenzahl für das Jahr 2008 ausgegangen sei, von 675 000. Marcu: »So etwas passiert häufig. Jetzt sind es rund 7000 Geburten mehr.« Sie pfeift einmal deutlich beim Ausatmen. »Das macht einen Zuwachs von 0,07 Prozent.«

Es ist ein seltsamer Krieg um Zahlen, den sich die Familienministerin seit ein paar Monaten mit den Statistikern liefert. Sie kämpft ihn jedes Quartal aufs Neue.

Seit von der Leyen im Amt ist, veröffentlicht die Abteilung »Bevölkerung« beim Statistischen Bundesamt in Wiesbaden jeden Monat, zum Quartal und zur Jahresmitte die Geburtenzahlen, die Geburtenrate oder eine Prognose von beidem. Vor 2005, sagt ein Mitarbeiter, habe man einmal im Jahr vermeldet, wie viele Kinder geboren wurden und wie viel das im Schnitt pro Frau war. Das reichte.

Heute veröffentliche man auch die erste, zweite und dritte Schätzung. So wird das Jahr vollgepackt mit einem Auf und Ab von Eventualitäten, bis die Spekuliererei im Spätsommer ihr Ende findet. Dann liegen die endgültigen Geburtenzahlen vor.

So ist viel Nervosität in ein Thema gekommen, das eigentlich einen langen Atem braucht. Es ist politisch unklug von der Familienministerin, ständig nach Zahlen zu jiepern. Die Kinderzählerei bringt ohnehin nichts, da der Erfolg ihrer Politik sich nicht in Monaten, sondern in Jahren zeigen wird. 10, 15 Jahre könnte es dauern, bis das Elterngeld und der Krippenausbau Wirkung zeigten, warnte Hans Bertram, der Familienforscher aus ihrem Expertenteam. Doch dafür hätte die Familienministerin geduldiger sein müssen. Aber Geduld ist nicht Ursula von der Leyens Stärke.

Gleichwohl fragt man sich, weshalb sie nicht ablässt von ihrem Wahn mit den Zahlen. Denn sie hat durchaus schon etwas erreicht in Deutschland. Nicht die Zahlen haben sich geändert, aber die Stimmung.

Die Familienministerin hat immer auch versucht, am Zeitgeist zu drehen. Sie wollte, dass sich mehr Mütter trauen, arbeiten zu gehen. Im Herbst 2005 fragte Frank Plasberg von der Leyen in seiner Talkshow, ob sie lieber eine schlechte Ministerin oder eine schlechte Mutter abgeben würde. Die Hälfte der Gäste verdrehte die Augen. Die andere Hälfte fand das genau die richtige Frage. Es war eine Debatte, wie sie in dieser Schärfe noch nicht in der Bundesrepublik geführt wurde. Sie ist noch keine vier Jahre her, aber es wirkt so, als wären inzwischen Jahrzehnte vergangen.

Der Zeitgeist hat sich gedreht. 16 Prozent aller Elterngeldempfänger sind Väter. Männer, die Zeit daheim bei ihren Kindern verbringen wollen. Über 70 Prozent der Geschäftsführer und Personalverantwortlichen erklären, es sei eine gute Sache, wenn junge Väter mal weniger arbeiteten. Und zwei Drittel der Bevölkerung wünschen sich, dass mehr Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren angeboten werden. Es ist ein neues Verständnis, eine neue Akzeptanz für das Thema Vater, Mutter, Kind und Beruf entstanden. Das ist auch ein Verdienst der Familienministerin.

Jetzt denkt das Land zwar neu, aber deshalb werden nicht mehr Frauen schwanger als früher. Statt weiter auf die Zahlen zu starren, könnte von der Leyen darüber nachdenken, wo sie noch etwas für Familien bewegen kann.

Welche Malaise hält Deutsche davon ab, mehr Kinder zu bekommen? Was braucht es, um junge Frauen und Männer dazu zu bringen, sich für ein Kind zu entscheiden? Es ist wohl vor allem der Hang zur Perfektion und zur Sicherheit, der die Deutschen bremst. Erst muss die Ausbildung abgeschlossen, dann der Job fest und gut bezahlt sein. Schließlich rennt den jungen Erwachsenen ab Ende 20 die Zeit davon.

Im Alter zwischen 27 und 35 geraten sie in jene Phase, die Soziologen wie Hans Bertram die »Rushhour des Lebens« nennen. Der Zeitdruck, den Mann und Frau dann erlebten, sei viel größer als in anderen Ländern, meint Bertram. »In dieser kurzen Phase von fünf bis sieben Jahren müssen Entscheidungen getroffen werden, die das ganze Leben bestimmen.«

Ausbildung abschließen. Job finden. Lebenspartner kennenlernen. Und mit ihm in derselben Stadt leben. Das alles auf einmal zu schaffen fällt vielen schwer. »Die Eltern waren viel früher mit der Ausbildung fertig«, sagt der Soziologe Bertram. »Sie hatten vier, fünf Jahre länger Zeit für diese Lebensphase.«

Und sie hatten weniger Wahlfreiheiten. Heute stehen jungen Erwachsenen alle Möglichkeiten offen: Sie gehen Partnerschaften ein, ohne gleich an Kinder zu denken.

Sie nehmen einen Job an und sind schon auf dem Sprung zum nächsten. Sie vertagen immer wieder ihre Lebensentscheidungen, in der Hoffnung auf eine noch bessere Chance. Es könnte ja der perfekte Partner auftauchen. Und der perfekte Job in einer anderen Stadt. Und irgendwann wird schon der perfekte Zeitpunkt für ein perfektes Kind kommen.

So verpassen sie ihn mit Sicherheit. Aus »temporär gewollter Kinderlosigkeit« werde leicht eine »endgültige ungewollte Kinderlosigkeit«, sagt die Gießener Familienwissenschaftlerin Uta Meier-Gräwe. Daran sind nicht selten die Männer schuld: Weil sie bis ins hohe Alter Nachwuchs zeugen können, zögern sie die Kinderfrage noch länger hinaus als ihre Partnerinnen.

Vielleicht würden ohne Elterngeld noch weniger Babys geboren, aber die wahren Gründe für die Kinderlosigkeit entziehen sich dem Einfluss des Staats. In einer Allensbach-Umfrage von 2007 nannten kinderlose Frauen und Männer als größtes Hemmnis das Fehlen des richtigen Partners.

Mareike Lebert*, 35, wäre bereit dazu, Mutter zu werden. »Seit zwei, drei Jahren höre ich meine biologische Uhr ticken«, sagt sie. Davor ging es wie bei vielen begabten Frauen erst mal um Ausbildung und Karriere: Auf das Studium folgte ein Job bei einer Bank in der Schweiz, mit 70-Stunden-Woche und sechsstelligem Jahresgehalt. Lebert war Single und lebte für die Arbeit.

Mit 33 lernte Mareike Lebert über das Internet einen Mann kennen und verliebte sich. Mit 34 gab sie ihren Job auf und zog zu ihm nach Norddeutschland. Für ein

Kind war ihr neuer Partner aber offenbar nicht bereit; die Beziehung zerbrach.

Nun wohnt Mareike Lebert allein, ohne Kind und festen Job. Seit ein paar Monaten hat sie einen neuen Freund, doch bevor sie sich für ein Kind entscheidet, will sie erst wieder eine gute Arbeitsstelle finden.

Berufliche Sicherheit ist nach einer Studie der Robert Bosch Stiftung die wichtigste Bedingung für die Erfüllung des Kinderwunschs: 57 Prozent der kinderlosen 20- bis 49-Jährigen sagen, dass sie einen sicheren Job brauchen, um Eltern zu werden.

Die Deutschen sind kein risikofreudiges Volk, und die aktuelle Wirtschaftskrise verunsichert sie noch mehr. »Die Angst vor dem Jobverlust hindert die Menschen daran, sich für ein Kind zu entscheiden«, sagt der Familiensoziologe Hans-Peter Blossfeld.

Dagegen kann von der Leyen nichts machen. Doch ein Instrument gibt es, mit dem die Ministerin den Wunsch nach Kindern befördern kann: Betreuungsplätze.

Beruf und Familie lassen sich in Deutschland noch immer schwer vereinbaren. In einer Studie des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung nennen zwei Drittel der Eltern das Betreuungsangebot unzureichend. 19 Prozent der Frauen wären mit passender Betreuung früher in den Beruf zurückgegangen.

Der Unterschied zwischen Ost und West ist riesig. In Sachsen-Anhalt, wo Familien das Recht auf einen Kitaplatz haben, gehen 53 Prozent der unter Dreijährigen in die Krippe, in Nordrhein-Westfalen nur 9,4 Prozent. In Ostdeutschland bleiben 14 Prozent der Akademikerinnen ab 35 kinderlos. Im Westen ist es ein Drittel. Es scheint, als lasse sich die Skepsis von Männern und Frauen, ein Kind zu kriegen, vor allem mit guten Betreuungsplätzen überwinden.

Von der Leyen hat sich dafür starkgemacht, obwohl eigentlich die Länder zuständig sind. Sie hat im August 2007 durchgesetzt, dass der Bund den Ausbau der Kleinkindbetreuung mit vier Milliarden Euro fördert. Bis 2013 soll für ein Drittel der unter Dreijährigen ein Kitaplatz bereitstehen. Doch sie scheint über ihre Zahlenkämpfe dieses Ziel aus den Augen verloren zu haben. Der Kita-Ausbau im Westen läuft schleppend an. Bis 2013 werden es viele Länder nicht schaffen, so viele Plätze wie vereinbart zur Verfügung zu stellen.

Vergangene Woche steht von der Leyen von Kindern umzingelt auf dem Rasen der DRK-Kindertagesstätte in Hannover. Die Sonne scheint, die Kinder krabbeln durch Holzreifen, später werden Bananen geschnippelt. Die Kleinen können das alles wunderbar. Kein Wunder, Tim, Jordy und Dejan sind ja auch schon vier. Niedersachsen, das Heimatland Ursula von der Leyens, ist das Schlusslicht bei der Kinderbetreuung. Nur 9,2 Prozent der unter Dreijährigen gehen in die Kita. Weniger als hier sind es nirgendwo in Deutschland.

KERSTIN KULLMANN, MERLIND THEILE

* Name von der Redaktion geändert.

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