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SCHULEN / UNTERRICHT Kringel malen

aus DER SPIEGEL 13/1967

Thomas Kilian, 6, aus Frankfurt-Unterliederbach ist nach dem Urteil seines Vaters »hochbegabt, aber kein Wunderkind«. Der hoffnungsvolle Sprößling hat noch keine Schulbank gedrückt, beherrscht aber -- auf Papas Schoß erlernt -- spielerisch das Pensum von Drittkläßlern. Nur darf er sich nicht mit ihnen messen: Eine gemeinsame Plattform, die Schule, wird ihm aus Altersgründen noch verwehrt.

Denn starre Schulpflichtgesetze hindern deutsche Frühbegabte in allen Bundesländern an vorzeitiger Einschulung. Sogar das pädagogische Musterland Hessen erlaubt seinem Nachwuchs das Lernen des Abc und des Einmaleins erst nach dem sechsten Geburtstag. Frühestens zu Beginn des zweiten Schuljahres dürfen besonders begabte Kinder eine Klasse überspringen.

Nun soll der Frankfurter Thomas ein Modellfall werden. Sein Vater Walter Kilian, 53, Werbekaufmann und Freizeit-Soziologe, kämpft für den Sprung gleich in die dritte Klasse. Notfalls will er -- so drohte er dem Kultusministerium in Wiesbaden -- das Überspringen zweier Klassen mittels Verfassungsklage erzwingen. Kilian sieht sich dabei als Vorstreiter für »mindestens achtzig Prozent der Elternschaft«, die nach seiner Schätzung ebenfalls frühbegabte Kinder ihr eigen nennen.

Die Wissenschaft weiß er auf seiner Seite. So stellte der Gießener Pädagoge Professor Werner Correll fest, der Mensch nehme »zu keiner Zeit leichter und intensiver Wissensstoff (auf) als in den ersten fünf Lebensjahren«. In fünfzehn Kindergärten haut Corrells Institut in diesem Frühjahr vollautomatische Lernmaschinen auf. Drei- bis Fünfjährige sollen damit in sechs Monaten lesen lernen.

Und auch unter den in Hessen oppositionellen CDU-Politikern fand Vater Kilian Verbündete. Im Landtag sprachen sich Christdemokraten bereits für eine weniger starre Einschulungsgrenze aus.

Unterdes gibt der Vater dem Sohn Heimunterricht. Täglich zwei Stunden vermittelt er ihm Grundbegriffe des Lesens, Schreibens und Rechnens. Grundlage sind die Lehrbücher der drei Jahre älteren Schwester. Thomas hilft ihr schon bei den Hausaufgaben.

Wöchentlich liest er drei bis vier Jugendromane und Geschichten über »Das Eselchen Grizella«, »Unser Schweinchen im Regen« oder »Matthias und das Eichhörnchen«. Und so geübt, wie Gleichaltrige Murmeln kullern oder« Bauklötze schichten, zerlegt er einen Satz nach Subjekt und Prädikat, subtrahiert er in Sekunden 687 von 976 oder dividiert er fünfstellige Zahlen »bis nach dem Komma« (Vater Kilian).

Hessens Kultusministerium, auf die väterlichen Unterrichtserfolge hingewiesen, erinnerte an die gesetzliche Hürde. Unter Aktenzeichen E IV -- 130/01-188 versprach es lediglich, den Wunsch auf leistungsgerechte Einschulung »bei der bevorstehenden Novellierung der hessischen Schulgesetzgebung« zu überprüfen. Sie ist für 1968 zu erwarten, für Thomas wäre es zu spät: Er wäre dann schon sieben.

Alt-Kilian über Jung-Kilians Schul-Perspektiven: »Soll er im Unterricht vielleicht Zeitung lesen, wenn die anderen ihre Kringel malen?«

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