Zur Ausgabe
Artikel 6 / 51

BONN / KOALITION Krise im Juli

aus DER SPIEGEL 26/1967

Der schwarz-roten Regierungsehe von Bonn droht der erste große Krach. Die Jungvermählten zanken sich ums Haushaltsgeld.

Die Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages in den beiden letzten Wochen brachte es an den Tag.

Aus einer Lagebesprechung in ihrem Fraktionszimmer hasteten die Führer der Sozialdemokraten in den Plenarsaal. Die Klingel läutete zur Abstimmung. Als letzter erreichte Entwicklungshilfeminister Hans-Jürgen Wischnewski, Benjamin unter den SPD-Kabinettsherren, das Ziel.

Im Saal bot sich Wischnewski das Bild einer bizarren Allparteienmehrheit: Seine eigene SPD-Fraktion, alle Freidemokraten und die Linksbänkler der CDU reckten zustimmend die Arme. Arglos schloß sich der Bundesminister dem Votum an.

Wischnewski ahnte nicht, daß er gegen seinen CDU-Kanzler Kiesinger, gegen das schwarz-rote Kabinett und gegen sich selbst die Hand erhob. Wider seinen Willen, aber mit seiner Stimme, erlitt die Bundesregierung Ende vorletzter Woche ihre erste Abstimmungsniederlage seit Bildung der Großen Koalition.

Zur Entscheidung stand eine Testfrage der Nothelfer-Regierung Kiesinger an die Bonner Volksvertreter: ob das Parlament bereit sei, mit der Sanierung der zerrütteten Staatsfinanzen endlich Ernst zu machen. Im Kabinett hatten sich die Minister der schwarz-roten Koalition zu der Erkenntnis durchgerungen, daß es dabei nicht ohne schmerzliche Schnitte am aufwendigen Sozialetat, dem Paradestück des Bonner Wohlfahrtsstaates, abgehen werde. Mit dem Sparen wollten die Minister bei den Altersrenten anfangen.

Doch schon der erste schüchterne Versuch -- eine Kürzung der staatlichen Rentenzuschüsse um 200 Millionen Mark im Jahre 1967 -- scheiterte im Bundestag an einer unheiligen Allianz. SPD-Sozialprofessor Schellenberg hatte, zur stillen Freude der Fraktionsgenossen und zum Entsetzen des SPD-Ministerflügels, beantragt, die 200-Millionen-Kürzung wieder rückgängig zu machen. Die Arbeitnehmergruppe der CDU mochte nicht hintanstehen; die freidemokratische Mini-Opposition nutzte die Chance, den Koalitionsfrieden zu stören. Die Regierung unterlag.

Kanzler Kiesinger war empört. Denn was die Linkstruppen seiner eigenen Koalition im Verein mit den oppositionellen Liberalen im Handstreich zerstörten, war ja erst der Anfang des großen Sanierungswerks, mit dem er weitere Milliarden -- vor allem aus dem Sozialetat in den nächsten vier Jahren einzusparen gedachte.

Auf der nächstfälligen Kabinettssitzung am Dienstag letzter Woche knöpfte sich Kiesinger den vermeintlichen Überläufer aus der Ministerrunde vor. Die Brille auf die Nasenspitze gerückt, las der Kanzler mit erhobener Stimme aus der Geschäftsordnung des Kabinetts: »Gegen die Auffassung der Bundesregierung zu wirken, ist den Bundesministern nicht gestattet.«

Anderntags behandelte Kiesinger seinen Entwicklungsminister unter vier Augen weiter. »Es war ein reiner Irrtum«, beteuerte Wischnewski zerknirscht. In der Sache stehe er zwar auf seiten Schellenbergs, doch würde er sich nie erlauben, die Kabinettsdisziplin bewußt zu verletzen. »Sonst müßte ich ja meinen Zylinder nehmen.«

Was bei Wischnewski bloß läßliche Sünde war, das hatte Schellenberg vorsätzlich begangen. Nach drei verlustreichen Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Niedersachsen glaubten die vom Wähler enttäuschten und über die Konsequenzen ihrer Bonner Regierungsbeteiligung besorgten Genossen, die SPD müsse sich nun erst recht an ihr Prestige als soziale Fortschrittspartei klammern. Aus Angst vor weiteren Stimmenverlusten beschlossen sie, sich dem Volk als die Garanten des sozialen Besitzstandes zu empfehlen.

Verflogen war der schwarz-rote Korpsgeist, der die SPD-Md~s noch vor einem halben Jahr dazu gebracht hatte, dem CDU-Kanzler für seine Regierungserklärung lebhaft Beifall zu klatschen. Kiesinger am 13. Dezember 1966 vor dem Bundestag: »Wir müssen ... die jährlichen Zuwachsraten der Sozialleistungen ... mit den Grundsätzen einer gesunden Finanzpolitik in Einklang bringen.«

Einträchtig waren dann die Sozialdemokraten Schiller und Carlo Schmid mit den Christdemokraten Strauß und Schmücker in den neu gebildeten »Kabinettsausschuß für mittelfristige Finanzplanung« eingezogen, der die längst fällige Reform des Staatshaushaltes vorbereiten soll: Zum ersten Male seit Bestehen der Bundesrepublik soll der Etat nun nicht mehr von Jahr zu Jahr zusammengerechnet, sondern für einen Zeitraum von vier Jahren, mit einer nach der Wichtigkeit abgestuften Rangfolge der Staatsaufgaben, vorausgeplant werden.

Schockierendster Fund der vier Etatplaner: Erhards Mißwirtschaft hinterläßt dem Staat in den kommenden vier Jahren noch ungedeckte finanzielle Verpflichtungen in Höhe von schätzungsweise zwanzig Milliarden Mark. Da sich die Herren mangels einer zeitgerechten wehrpolitischen Konzeption nicht zum großen Abstrich am Verteidigungsetat entschließen konnten, mußten sie -- außer auf Bauern- und Entwicklungshilfe, auf Wohnungs-, Hochschul- und Straßenbau -- vor allem auf den Sozialetat zurückgreifen. Von 14,5 Milliarden Mark Sozialausgaben will Strauß nicht weniger als 2,7 Milliarden streichen.

Entschlossen präsentierte Strauß den Finanzplanern sein Demontage-Vorhaben. Dieses sah vor:

> die Staatszuschüsse an die Rentenversicherung zu drosseln;

> die Altersrenten an die Lohnsteigerungen nur noch verzögert anzupassen;

> die Kriegsopfer-Grundrenten für 30- und 40-Prozent-Beschädigte zu kürzen oder ganz zu streichen.

SPD-Schellenberg hingegen sammelte seine Sozial-Genossen zum Widerstandskampf: Bei den sozialen Errungenschaften dürften die Sozialdemokraten nicht zurückstecken, die Sozialpolitik dürfe nicht »untergebuttert« werden. Einen Ausgleichsvorschlag blieben die Genossen schuldig.

Mit dem ersten Abstimmungssieg der SPD-Fraktion über die eigene Regierung setzte Schellenberg das Signal für die Kraftproben, die den schwarzroten Bund fortan belasten werden.

Für den 5. Juli schon steht der große Krach ins Haus. Am übernächsten Mittwoch, wenn der Bundestag in die Sommerferien gegangen ist und der Kanzler sich zur ersten Amerikareise rüstet, muß das Kabinett in einer ganztätigen Sitzung an der finanziellen Bewältigung der Zukunft seine Regierungsfähigkeit nachweisen. Bis dahin muß sich der SPD-Ministerflügel schlüssig werden, was ihm höher steht: die Loyalität zum Kanzler oder die Treue zur Fraktion, der schwarzrote Bund oder das Profil der Partei.

Die Sozialdemokraten sind gewarnt. CSU-Chef und Finanzminister Strauß im Parlament: »Dieses Problem (der Einsparungen) wird die Existenz der Großen Koalition entscheiden.«

Denn: CDU-Chef und Kanzler Kiesinger erwägt, seine Sparpläne notfalls mit der Vertrauensfrage zu ertrotzen. Sollte die SPD dann wegen des Sozialetats Kiesinger die Gefolgschaft versagen, kann der Kanzler den Bundespräsidenten nach Artikel 68 des Grundgesetzes um Auflösung des Bundestages bitten.

Neuwahlen fürchten die Christdemokraten nicht. Sie verlassen sich auf Demoskopen-Prophetie. Die nämlich sagt: Bei der gegenwärtigen Verteilung der Wählergunst kann die CDU/CSU in einem neuen Bundestag mit der absoluten Mehrheit rechnen.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 6 / 51
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren