BUNDESHAUSHALT Kröten geschluckt
Im Bonner Bundestag dröhnten die Lautsprecher. »Diese Debatte«, so höhnte am Mittwoch vergangener Woche der CDU-Abgeordnete Heinrich Windelen, »wird alle jene tief enttäuschen, die auf einen Streit zwischen der Regierung und den Koalitionspartnern gehofft haben.«
Keine 24 Stunden zuvor hatten je vier Abgeordnete der Christ- und Sozialdemokraten, darunter die ehemaligen Minister Barzel, Blank und Stücklen, der Großen Koalition Erste Hilfe geleistet: Mit »fragwürdigem Zahlenmaterial«, so »der FDP-Abgeordnete Kurt Spitzmüller, deckten sie eilends Löcher im Sozialetat zu, die einen Streit wert gewesen wären.
Angetrieben von den einander immer ähnlicher werdenden Fraktionschefs Rainer Barzel und Helmut Schmidt, hatten sich die Koalitions-Unterhändler am Dienstag noch rechtzeitig vor dem Kaffeetrinken geeinigt, > die Rentenversicherungs -- Pflichtgrenze für Angestellte von bislang 18OO Mark aufzuheben und alle Angestellten in die Altersversicherung hineinzuzwingen;
> den Rentnern zwei Prozent ihrer Altersbezüge als Krankenversicherungs-Beitrag abzunehmen;
> die jeweils erste Rentenzahlung um einen Monat zu verzögern;
> die Rezeptgebühr für Arzneien kranker Erwerbstätiger zu verdoppeln.
In panischer Angst vor einer zweiten Regierungskrise binnen Jahresfrist stimmte wenig später die Unionsfraktion dem Paket bei nur zwölf Enthaltungen zu. Dabei hätte sich bei einer sachlichen Diskussion, so der CDU-Abgeordnete und Vorsitzer des Finanzausschusses Dr. Otto Schmidt, »in der CDU/CSU sicher eine Mehrheit dafür gefunden, die Pflichtgrenze in der Angestelltenversicherung nicht ganz zu beseitigen, sondern sie, etwa bei 2100 Mark Monatsgehalt, neu zu ziehen.«
Die SPD-Fraktion begann mit ihren Beratungen erst zwei Stunden nach den Christdemokraten, weil Parteichef Willy Brandt sich bei der Rückkehr aus Luxemburg verspätet hatte. Aber obwohl sich die Parlamentarier beispielsweise noch eine Woche zuvor in Berlin einstimmig geweigert hatten, den Rentnern Krankenversicherungsbeiträge aufzubürden, fühlten sich am Dienstagabend nur mehr 28 SPD-Abgeordnete zum Neinsagen stark genug. Sechs enthielten sich der Stimme.
Das Motiv der parlamentarischen Übung war nicht etwa der Wunsch nach sinnvollen sozialpolitischen Reformen, sondern ausschließlich nach mehr Geld für die Staatskassen. Den Rentenversicherungen droht in den kommenden Jahren der finanzielle Kollaps, weil Bundesregierung und Parteien nicht gewillt sind, das System »der dynamischen Rente und die einmal gewählte Versicherungsformel abzuändern.
In dem 1957 geschaffenen Versorgungswerk war festgelegt worden, daß die Ruhegelder alljährlich so stark steigen sollen wie die Bruttolöhne im Durchschnitt der jeweils voraufgegangenen drei Jahre. Die verzögerte Rentenanpassung führt dazu, daß in Jahren stagnierender Löhne -- wie etwa 1967 -- und damit stagnierender Beitragseinnahmen die Renten entsprechend dem stärkeren Lohnzuwachs der Vorjahre weiter klettern. Da zudem die Zahl der Ruhegeldempfänger im Verhältnis zu den Erwerbstätigen in Zukunft ständig steigt, werden die Rentenversicherungen in den kommenden vier Jahren 8,5 Milliarden Mark Defizit machen.
Entgegen den Vorschlägen aller neutralen Experten aber sind Bundesregierung und die beiden großen Parteien nicht gewillt, die mathematischen Realitäten hinzunehmen und die Rentendynamik entsprechend abzuschwächen. Statt dessen sollen die Arbeitnehmer bis 1971 fast 13 Milliarden Mark mehr Beitrag zahlen als nach geltendem Recht, ohne daß ihre Versorgungsansprüche wachsen.
Um den Fetisch der volldynamischen Rente zu retten, spielten die Volksvertreter sogar mit gezinkten Karten: Was sie als Beitrag der Rentner zur Krankenversicherung ausgeben (Gesamtaufkommen 1968: 460 Millionen Mark), kommt tatsächlich einer Rentenkürzung gleich.
Ein Ruheständler beispielsweise, der jetzt 511 Mark Monatsrente bezieht, konnte getreu dem dynamischen Prinzip 1968 auf 552 Mark rechnen. Statt dessen werden ihm am Postschalter nur 541 Mark ausgezahlt werden.
Von den fehlenden elf Mark aber werden die Krankenkassen nur vier Mark kassieren dürfen, die restlichen sieben Mark behält die Rentenversicherung ein. Die geprellten Krankenkassen sollen sich nach dem Vorschlag der Regierungsparteien mit höheren Rezeptgebühren an den Erwerbstätigen schadlos halten. Die Apotheker werden für jedes Rezept statt bisher 50 Pfennig im nächsten Jahr eine Mark kassieren. Falls der Betrag nicht ausreicht, um die Krankenkassen zu heilen, wird erwogen, die Gebühr auf zwei Mark anzuheben.
Derart akrobatische Rechenspiele schienen am Ende sogar dem Bundesfinanzminister Strauß verdächtig. Insbesondere mißfällt ihm der Plan, den Rentnern die Pensionszahlung um einen Monat zu verkürzen: Wer bisher beispielsweise am 15. Oktober 65 Jahre alt wurde, bekam sein Ruhegeld rückwirkend vom 1. desselben Monats an. In Zukunft soll er sich bis zum 1. November gedulden.
Als die Sozialpolitiker beider Regierungsparteien Strauß weiszumachen versuchten, sie könnten durch diesen kleinen Kniff jährlich etwa 180 Millionen Mark sparen, belehrte der Minister die Experten: Der finanzielle Erfolg sei ungewiß, denn in der Wartezeit würden die Rentner statt dessen den Krankenkassen, der Arbeitslosenversicherung oder sogar der Sozialhilfe zur Last fallen.
Der Einwand hinderte freilich die von Barzel und Schmidt gedopten Fraktionen nicht, den Plan dennoch gutzuheißen. »Wir haben«, so bekannte CDU-Abgeordneter Dr. Otto Schmidt, »manche Kröte geschluckt.«