HINRICHTUNGEN Kühler Hauch
Die Gehilfen des Scharfrichters schnallten Kopf und Oberkörper der Delinquentin an die Rückenlehne des elektrischen Stuhls, banden ihre Unterarme an die Armstützen und bedeckten ihr Gesicht mit einem schwarzen Tuch. Auf einen Wink des Anstaltsdirektors schloß der Scharfrichter den Stromkreis.
Die Frau bäumte sich auf. Der Stromimpuls warf ihren Körper hin und her. Aber er vermochte sie weder zu töten, noch machte er sie bewußtlos. Der Scharfrichter legte den Schalthebel zurück, erhöhte die Stromspannung und schaltete wieder ein.
2000 Volt durchführen jetzt die Delinquentin, die wiederum nicht einmal das Bewußtsein verlor. Nach einigen Minuten ließ der Staatsanwalt die Exekution unterbrechen. Die Frau wurde losgebunden und in ihre Zelle zurückgebracht.
Aber eine Stunde später schnallte man sie erneut auf den Stuhl. Der Scharfrichter hatte mittlerweile noch einmal die Spannung erhöht. Und nachdem der so verstärkte Stromimpuls mehrere Minuten lang durch den Körper der Delinquentin gefahren war, starb sie schließlich.
Diese makabre Betriebsstörung ereignete sich zu Anfang der 30er Jahre bei der Hinrichtung der Gattenmörderin Judd im New Yorker Zuchthaus Sing Sing. Einen Augenzeugenbericht darüber nahm der Münsteraner Jurist Kurt Rossa, 36, in eine jetzt erschienene Todesstrafen-Dokumentation auf***. Der Autor: »Wer alles von uns Christen wissen will, lese die Bergpredigt, wer mehr von uns wissen will, eine Geschichte der Todesstrafen.«
Es war der französische Romancier und Sozialkritiker Victor Hugo, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts prophezeite: »Im zwanzigsten Jahrhundert wird die Errichtung des Schafotts der Nation Europa als eine Schmach erscheinen, und die Enthauptung eines Menschen wird unmöglich sein.«
Hugo irrte. Zwar wird die Todesstrafe in 69 Ländern heute nicht mehr verhängt oder vollstreckt. Zwei Staaten gibt es, die in ihren Strafgesetzen sogar die Hinrichtung auch für Kriegs- und Notzeiten sowie bei militärischen und politischen Delikten ausschließen: Uruguay ist, seit 1807, ein sogenannter Abolitionsstaat »mit ehrwürdiger Tradition« (Rossa); Westdeutschland wurde ein Abolitionsstaat, nachdem die Deutschen »schrecklich belehrt« (Rossa) worden waren.
Aber gleichwohl stehen in allen fünf Erdteilen noch immer Scharfrichter in Arbeit und Brot - und laut Rossa sind es häufig Menschen, die »nicht nur andere, sondern schließlich auch sich selbst richten« (siehe Auszug Seite 116). In allen fünf Erdteilen wird noch immer gehängt, mit dem Fallbeil gerichtet, vergast, erschossen, mit der Garotte erdrosselt oder per Starkstrom aus der Gesellschaft entfernt:
- Mit der Guillotine - für die der französische Arzt Dr. Guillotin einmal mit der Bemerkung warb, der Delinquent verspüre »höchstens« einen kühlen Hauch« - wird in der DDR, in Dahomey und in Frankreich gerichtet.
- Per Schlinge und Falltür lassen zahlreiche afrikanische Staaten, Japan, Australien, die Türkei, Kanada und sieben Bundesstaaten der USA Verurteilte töten.
- Elektroden, durch die der Scharfrichter-Stromstöße bis zu 2000 Volt jagt, werden den Todeskandidaten auf den Philippinen, auf Formosa und in 20 US-Bundesstaaten angelegt.
- Vor ein Peloton läßt die Justiz der UdSSR, Jugoslawiens, Marokkos, Thailands und Griechenlands die Delinquenten schleppen.
- An Blausäuregas, das eine sogenannte Gewebserstickung hervorruft, lassen elf amerikanische Bundesstaaten die Delinquenten in der Gaskammer sterben.
- Ein eisernes Halsband, die Garotte, das sich mit Hilfe einer Schraube zusammenziehen läßt, legen die Henker in Spanien und Kuba den zum Tode Verurteilten um; je nach Ausführung renkt die Garotte dem Opfer entweder die Wirbelsäule aus oder durchschneidet sein Rückenmark.
In Persien, Laos, Kambodscha, in El Salvador und in der Zentralafrikanischen Republik vollziehen die Henker -Schaustellern gleich wie ihre Vorfahren im Mittelalter - ihr Handwerk noch immer auf öffentlichen Plätzen. So drängten sich mehr als 100 000 Schaulustige im Stadion von Leopoldville, als dort am 2. Juni dieses Jahres vier ehemalige kongolesische Minister aufgeknüpft wurden. Und ein Kuriosum der Barbarei erfanden die Gesetzgeber des US-Bundesstaates Ohio. Sie hielten es für einen Akt besonderer Fortschrittlichkeit, als sie den Todeskandidaten die freie Wahl zwischen Galgen, Kugel und Fallbeil einräumten.
Trotz Weltraumfahrt, Atomtechnik und Elektronik - eines erfand die Menschheit nicht: eine Methode, ihre Mitglieder, die sie namens der Gerechtigkeit zum
Tode verdammt hat, wenigstens auf todsichere Weise zu exekutieren.
Die Geschichte der Hinrichtungen ist zugleich eine Geschichte der Hinrichtungs-Pannen. Schilderungen von Tötungen, da selbst raffiniert ausgeklügelte Maschinerien versagten, ziehen sich denn auch, einem blutig-roten Faden gleich, durch Rossas Buch.
»Sicherheit bei der Ertheilung des tödtlichen Streichs«, lautete einer der Grundsätze zur »Würdigung... der verschiedenen Todesstrafen«, die der Göttinger Gelehrte Wilhelm Böhmer zu Anfang des vorigen Jahrhunderts aufstellte. Daß die Strafe »mit aller nur möglichen Schnelligkeit« zu vollziehen sei, besagte eine andere Forderung Böhmers, der ein Befürworter der Todesstrafe war.
Beides - eine hundertprozentige Zuverlässigkeit und den sofortigen Tod des Delinquenten - garantierten weder so altväterliche Hinrichtungswerkzeuge wie die zu Böhmers Zeiten gerade in Mode gekommene Guillotine, noch so technisch perfektionierte Einrichtungen wie Gaskammer oder elektrischer Stuhl. Charlotte Corday, die den Jakobiner Jean-Paul Marat im Bad erstach und dafür am 17. Juli 1793 unter das Fallbeil kam, soll den Henkersknecht mit »Entrüstung« angestarrt haben, als dieser nach der Hinrichtung ihren abgeschlagenen Kopf ohrfeigte.
1956 erklärten zwei französische Mediziner, die Leichen Hingerichteter unmittelbar nach der Enthauptung untersucht hatten, »daß alle vitalen Teile« das Köpfen überlebten - und zwar könne das Überleben »Minuten dauern, bei völlig gesunden Personen sogar Stunden«. Und der britische Guillotine-Historiker Alister Kershaw verknüpfte diese Beobachtungen mit der gar nicht einmal abwegigen Vorstellung, daß ein abgeschlagener Kopf »seinen eigenen schrecklichen Zustand betrachtet«.
Als Johann Baptist Reichart - mit 2848 Hinrichtungen meistbeschäftigter Scharfrichter der Nazijustiz, 1946 Gehilfe seines amerikanischen Kollegen Wood bei der Hinrichtung der Nürnberger Kriegsverbrecher und heute Hundezüchter in Deisenhofen bei München 1940 in Wien den Auslösehebel der Guillotine zog, blieb das Messer auf halbem Wege in seiner Führung stecken. Während der Delinquent um Gnade flehte, zog Reichart das Messer wieder hoch. Beim zweiten Versuch fiel es dann, und der Scharfrichter - so überlieferte es ein Reichart-Freund - »der an allen Gliedern zitterte, litt vier Wochen an nervösen Störungen«.
Schnell und todsicher - wie es Böhmer verlangte - funktionierte auch der Strick zuweilen nicht. So berichtete 1927 ein Kolonialarzt im »British Medical Journal«, daß der Körper eines Gehenkten, der eine Viertelstunde nach der Vollstreckung vom Galgen abgenommen war, »ein Keuchen« von sich gegeben und »krampfhafte Atemzüge« gemacht habe. Erst als man den Delinquenten nochmals für eine Viertelstunde hatte baumeln lassen, gab er kein Lebenszeichen mehr.
Einem kanadischen Schnürhänschen - so nannte altdeutscher Volksmund den Henker - kostete ein nicht seltenes Mißgeschick den Posten: Statt, wie vorgesehen, beim Fall das Genick zu brechen, hatte seine Schlinge einer Delinquentin den Kopf abgerissen. Und Clinton T. Duffy, bis vor einigen Jahren Direktor des kalifornischen Zuchthauses San Quentin und Zeuge oder Mitwirkender bei 150 Exekutionen, äußerte einmal nach der Hinrichtung eines gewissen Lisemba durch den Strang: »Ich wünschte, alle hätten sehen müssen, wie der Strick das Fleisch in Fetzen von Lisembas Gesicht riß, den halb vom Rumpf getrennten Kopf, seine durch den Druck hervorgequollenen Augen mit den geplatzten Adern und die unförmige Zunge.«
Es waren die Nordamerikaner, die der Menschheit neben Fließband und Airconditioning auch die Elektrokution, die Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl, bescherten. Als die Elektrokution um 1890 eingeführt wurde, bezeichneten Zeitgenossen den Stromtod im Stuhl als einen »Schritt vorwärts in Richtung der höheren Zivilisation«. Doch daß die führende Industrienation der Erde ihren elektrischen Stühlen nicht voll vertraut, besagt schon ein New Yorker Gesetz: »Um jede Möglichkeit auszuschließen,
daß der Mensch wieder ins Leben zurückkehrt«, muß des Exekutierten Leib sofort von Ärzten geöffnet werden.
Tatsächlich war die Gattenmörderin Judd nicht der erste und auch nicht der letzte Delinquent gewesen, bei dem der elektrische Stuhl versagte: 1904 überlebte ein Michael Skiller im Staatsgefängnis von Ohio eine solche Exekution, obwohl der Henker die Spannung des Stromstoßes bei einem zweiten und dritten Versuch erheblich erhöht hatte.
1938 mußte in Huntsville (US-Staat Texas) ein schon auf dem Stuhl angeschnallter Mörder drei Stunden lang zusehen, wie das Gefängnispersonal die gestörte Apparatur wieder klarzumachen versuchte. Der Mann wurde schließlich wieder in seine Zelle zurückgebracht, die endgültige Hinrichtung fand vier Tage danach statt.
»Brennen« wird die Elektrokution im Jargon amerikanischer Gangster genannt, seit der Mörder White im Staatsgefängnis zu Columbus im elektrischen Stuhl nicht durch den Stromtod starb, sondern buchstäblich verbrannte. Wie es in einem Protokoll über Whites Ende heißt, »schlugen helle Flammen aus dem zuckenden Körper Whites hervor, und der Geruch verbrannten Fleisches erfüllte das Hinrichtungszimmer ... Der Tod war nicht durch den elektrischen Schlag, sondern durch Verbrennung eingetreten«.
Und von einem Delinquenten namens Apple (zu deutsch: Apfel) ist denn auch ein makabrer Kalauer überliefert. »Gleich werdet ihr einen Bratapfel haben«, soll er gesagt haben, als ihn die Henkersknechte auf dem elektrischen Stuhl festbanden.
Einen qualvollen Todeskampf bereitete oft auch die Gaskammer dem Delinquenten. Der Chinese Gee John war der erste Verurteilte, der an Blausäuregas starb (am 8. Februar 1924 im US-Staat Nevada), der Räuber und Notzüchtiger Caryl Chessman der berühmteste. Nach zwölfjähriger Haft und achtmaligem Hinrichtungsaufschub wurde Chessman am Abend des 2. Mai 1960 in der kalifornischen Strafanstalt San Quentin in die achteckige, grell ausgeleuchtete Stahlkammer gesperrt. Um 18.03 Uhr ließ der Scharfrichter zwei Gazebeutel mit Zyankalikugeln in die Säurebehälter fallen, aus denen dann das Blausäuregas in die Kammer quoll. Tot war Chessman erst um 18.12 Uhr, also neun Minuten später.
Denn obschon die Gaskammer, wie Autor Rossa sarkastisch vermerkt, als »Gemeinschaftsleistung von Naturwissenschaft und Technik ... auf der Höhe unserer Zeit« steht, muß dort der Delinquent weitgehend selbst bestimmen, wie lange er stirbt: Atmet er das Blausäuregas - wie ihm der Henker vor dem Gang in die Stahlkammer gewöhnlich rät - tief ein, dauert sein Todeskampf möglicherweise nur Sekunden. Mißachtet er den Rat des Vollstreckers, geht es ihm - so Rossa - »übel in seinen letzten Momenten, und die Zuschauer müssen zu Zeugen eines entsetzlichen Todeskampfes werden«.
Ein kalifornischer Geistlicher, der Zeuge einer solchen Hinrichtung wurde, berichtete darüber: »Das war das Schrecklichste, was ich je gesehen habe.«
Der Geistliche hatte, bevor er erstmals an einer Gasexekution teilnahm, immerhin schon 52 Hinrichtungen durch Erhängen beigewohnt.
***Kurt Rossa: »Todesstrafen - Ihre Wirklichkeit In drei Jahrtausenden«. Gerhard Stalling Verlag, Oldenburg; 246 Seiten; 22,80 Mark.
Hinrichtung durch die Guillotine*: Sieht ein abgeschlagener Kopf ...
... seinen eigenen schrecklichen Zustand?: Hinrichtung durch Erschießen**
Scharfrichter Reichart
Zittern an allen Gliedern
Hinrichtung durch Garotte, Galgen*: Mit einem eisernen Halsband . . .
. . . aus der Gesellschaft entfernt: Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl, in der Gaskammer**
* öffentliche Hinrichtung eines Mörders 1929 in Grenoble, Frankreich.
** Hinrichtung eines Mörders 1954 in Santiago, Chile.
* Links: Zu Anfang des Jahrhunderts auf Kuba; rechts: 1926 in den USA.
** Links: 1958 in Lucedale im US-Staat Mississippi; 1960 im kalifornischen Zuchthaus San Quentin.