SOWJET-UNION / INDUSTRIE Künftig mit Gewinn
Ein bislang unbekannter Wirtschaftsprofessor aus Charkow namens Liberman hat es unternommen; an einem Tabu der marxistisch-leninistischen Weltanschauung zu rütteln: dem Prinzip der zentralisierten Wirtschaftsplanung.
Sein Beitrag, wie der kränkelnden sowjetischen Wirtschaft zu helfen sei, wurde Anfang September im Zentralorgan der sowjetischen KP, der Moskauer »Prawda«, veröffentlicht.
Libermans Artikel erregte bei den Wirtschaftsmanagern der Sowjet-Union großes Aufsehen; er wird seither von Professoren, Planwirtschaftlern und Technikern diskutiert, ohne daß die Partei offiziell Stellung genommen hätte.
Was der Professor aus Charkow in seiner Fleißarbeit, die fast eine ganze »Prawda«-Seite füllte, vorzuschlagen hatte, läuft in der Tat auf eine radikale Änderung der Sowjetischen Wirtschaftsführung hinaus. Demnach soll
- jeder Betrieb künftig seinen eigenen Produktionsplan aufstellen, wobei sich die Mitwirkung der zentralen Planungsbehörden lediglich auf die Bestätigung und Überwachung, der betriebsinternen Produktionspläne beschränkt;
- ein neues Prämiensystem eingeführt
werden, das nicht mehr wie das derzeit gültige allein von der Soll-Erfüllung abhängt, sondern die Rentabilität der Betriebe als Maßstab für entsprechende Lohnzuschläge benutzt.
Professor Liberman: »Meine Vorschläge befreien die Betriebe von der kleinlichen Bevormundung durch die zentralen Planungsbehörden sowie von kostspieligen Versuchen, auf die Produktion nicht mit ökonomischen, sondern mit administrativen Mitteln einzuwirken.«
Wichtigstes Instrument der staatlichen Wirtschaftslenkung ist in der Sowjet-Union nach wie vor der zentral ausgearbeitete Plan, der für sämtliche 200 000 Betriebe bis in die kleinsten Einzelheiten bestimmt, was und wieviel produziert werden darf. Maßstab für den wirtschaftlichen Erfolg ist dabei, ob die vorher festgesetzte Brutto-Produktion des Betriebes wie der Volkswirtschaft im ganzen (in Rubel und Mengen) erfüllt wird oder nicht. Danach richtet sich auch die Höhe der Prämien, die aus der Staatskasse den Betrieben zufließen.
Solche bürokratischen Lenkungsmethoden haben in vielen Köpfen Vorstellungen entstehen lassen, die sowjetische Wirtschaftswissenschaftler als »Tonnen-Ideologie« kritisieren. Höchstes Ziel der Tonnen-Ideologen ist die buchstabengetreue Befolgung aller Planbefehle, seien sie wirtschaftlich auch noch so widersinnig.
Möbel und Lampen werden zum Beispiel bei der Planerfüllung - und damit auch bei der Prämienberechnung - nach Gewicht bewertet. Das hat dazu geführt, daß die Zimmerdecken In den dünnwandigen Neubauwohnungen unter der Zentnerlast der montierten Kronleuchter zusammenzubrechen drohen und die Möbelungetüme kaum In die winzigen Zimmer passen.
Aus dem gleichen Grunde sind die Papierfabriken bestrebt, möglichst dickes und schweres Papier zu erzeugen, da nur so der Plan erfüllt und hohe Prämien erzielt werden können.
Hüttenwerke müssen den hochklassifizierten Erzen taubes Gestein zusetzen, wenn der Plan eine geringere Güteklasse vorsieht.
Die Tonnen-Ideologie wurde allmählich zum Alpdruck der sowjetischen Planwirtschaft. Sie verführt die Betriebe zu Nachlässigkeit, Pfuscharbeit und Planbetrug. Erfolgsmeldungen werden gefälscht, Statistiken frisiert.
»Wir melden Arbeitssiege, die es gar nicht gibt«, beklagte sich ein Stahlwerker aus Leningrad in der »Prawda«. »Neulich höre ich Radio und traue meinen Ohren nicht. Man berichtete über die vorfristige Fertigstellung einer Presse, an der ich noch arbeite.«
All dies ist in der Sowjet-Union seit langem Gegenstand ausgiebiger Erörterungen in Presse und Rundfunk. Mit einem Unterschied: Bisher wurden für Mängel und Mißstände stets untergeordnete Wirtschaftsorgane oder Einzelpersonen verantwortlich gemacht.
Noch Im Juli hatte Andrej Kirilenko, Mitglied des Parteipräsidiums und rechte Hand Chruschtschows in der Russischen Unionsrepublik, eine »strenge Bestrafung« der Schuldigen für die in den obersten Planungsorganen anzutreffende Desorganisation gefordert.
Knapp zwei Monate später konnte Professor Liberman aus Charkow - gewiß nicht ohne Aufmunterung hoher Funktionäre - das gesamte sowjetische Planungs- und Prämiensystem zur Debatte stellen.
Sein Haupteinwand richtet sich gegen die Reglementierung der Betriebe durch eine nach Hunderttausenden zählende Armee von Planbürokraten. Die Staatsbetriebe sollen vielmehr - wie Liberman in Anlehnung an jugoslawische Vorbilder vorschlägt - selbständig wirtschaftende Einheiten werden, die über Investitionen, Löhne, Preise und Beschäftigte nach eigenem Ermessen entscheiden.
Liberman: »Ohne wirtschaftliche Bewegungsfreiheit kann man den Nutzeffekt der Produktion nicht merklich erhöhen.«
Das bisherige Prämiensystem soll abgeschafft werden. Stattdessen soll künftig - ebenso wie In der kapitalistischen Marktwirtschaft des Westens - nur ein Grundsatz gelten: die Rentabilität des Betriebes.
Liberman hat zu diesem Zweck eine Tabelle ausgearbeitet, die als Grundlage für die Prämiierung aller Betriebe dienen soll. Je nach der Höhe des Reingewinns sollen die Prämien zwischen 0,1 und 5,3 Kopeken je Rubel des Betriebsvermögens betragen.
Das wiederum setzt eine nach kapitalistischen Grundsätzen vorgenommene Gewinn- und Verlustrechnung voraus, die bisher in der sowjetischen Wirtschaft nicht üblich war. Man produzierte ohne Rücksicht auf Zeit, Arbeitsaufwand und Kosten. Das soll nun anders werden.
Die Liberman-Thesen wurden von den meisten Wirtschaftlern und Technikern der Sowjet-Union zustimmend aufgenommen. »Die wichtigste Kennziffer Ist der Gewinn, um den die gesamte Arbeit des Kollektivs kreisen wird«, begeisterte sich ein Planökonom.
Andere Diskussionsteilnehmer waren zurückhaltender. Gegen ihre Einwände, er rede »kapitalistischen Prinzipien« das Wort, hatte sich der Sowjetprofessor bereits ideologisch rückversichert.
In dem von der »Prawda« veröffentlichten Brief schrieb er: »Unser Gewinn hat mit dem des Kapitalismus nichts gemein, im Gegenteil: er nützt erfolgreich dem Aufbau des Kommunismus.«
Krokodil, Moskau
»Wie kriegen wir ihn da bloß herauf?«