JUGEND Kulturkampf im Kinderzimmer
Regina Schäfer, 16, hat ein Problem: Wenn sie vergisst, ihren »Sim« auf die Toilette zu schicken, pinkelt der einfach in die Ecke. Von allein. Ihr virtueller Freund kann ziemlich eigensinnig sein: »So wie ich«, sagt die Berliner Schülerin. Sie zoomt sich mit einem Tastendruck näher an Sim ran, der auf dem Computerbildschirm in blauen Hosen durch seine Wohnung streunt. Sie will seinen Gesichtsausdruck sehen, wissen, ob es ihm gut geht. »Na, mein Kleiner«, sagt sie, »was machen wir denn heute?« Duschen, frühstücken, arbeiten oder mit der Nachbarin flirten?
»Die Sims« sind das erfolgreichste Computerspiel aller Zeiten - weltweit 55 Millionen Mal verkauft. Wie in einer Seifenoper landet der Spieler in einer Nachbarschaft mit ein paar Häusern. Er kann vorhandene Charaktere übernehmen, sie formen, seine eigene Familie gründen - und dann ganz kontrolliert das Leben spielen mit allem, was dazu gehört: Liebe, Lust, Frust und Tod.
Die Puppenstubenwelt der »Sims« war für Jörg B. viel zu unspektakulär. Er war ein Star auf dem Schlachtfeld. Jörg B. zählte zu den hundert besten Counterstrike-Spielern in Europa. Das Computergame gehört zu den meistgespielten sogenannten Ego-Shootern, geliebt in der Szene, gehasst in der Öffentlichkeit. Der Spieler schlüpft in die Rolle eines Terminators. Nur die bewaffnete Hand der Figur ragt ins Bild, sobald sich ein Gegner im Fadenkreuz blicken lässt, wird er per Mausklick weggeballert.
Jörg B., 25, wurde süchtig nach dem Killerspiel: »Ich wollte der Beste sein.« Er dachte nicht mehr an sein Studium an der Fachhochschule Wedel. Ihn interessierte nur noch, mit welcher Waffe er am effektivsten die Wand durchschießen konnte, hinter der er einen Feind vermutete. Auf welcher Höhe sollte er das Fadenkreuz halten, falls plötzlich ein Terrorist auftaucht? Jörg B. trainierte zehn bis zwölf Stunden am Tag. Im realen Leben bedeutete das für ihn: Game over. Die Hochschule exmatrikulierte ihn, weil er die Zwischenprüfung nach sieben Semestern immer noch nicht anging.
Axel Würthele, 32, plagte dagegen ein einfaches Problem: die Langeweile des wirklichen Lebens. Er war sanft gelandet, als Beamter auf Lebenszeit im Bauamt Hannover. Dort beugte er sich Tag für Tag über Anträge, Bauskizzen und Raumordnungspläne, von neun bis fünf. Nun hockt er in einem 16 Quadratmeter großen Hinterhofbüro in Hamburg-Altona und hackt mit müden Augen Programmiercodes in seinen Computer, 60 Stunden die Woche. Er hat den Job als Beamter hingeschmissen und mit seinen Freunden Thomas Lehr und Sascha Kaddatz ein eigenes Entwicklungsstudio für Spiele gegründet. Ende des Jahres sollen unter www.goalunited.org der Ball und der Rubel rollen: Das Start-up-Trio bastelt an sechs Monitoren gleichzeitig an einem Fußballspiel für das Internet. Pünktlich zum WM-Jahr hofft Würthele auf das ganz große Geschäft.
Wie Regina Schäfer und Jörg B. ist er Akteur in einem Milliardenspiel. Games für Computer, Konsolen, im Internet und für Handys sind die wichtigsten Wachstumstreiber der Unterhaltungsindustrie. Bis zu
30 Milliarden Dollar Umsatz wird die Branche in diesem Jahr erwirtschaften - und der nächste Quantensprung steht bevor: Die neue Generation der Konsolen, über die Videospiele gesteuert werden, ist in der Pipeline. Bill Gates' Microsoft wird mit der X-Box 360 schon zum Weihnachtsgeschäft angreifen. Im kommenden Jahr wird dann Marktführer Sony seine Playstation 3 unters spielende Volk bringen und Nintendo die Konsole »Revolution«.
Alle drei versprechen wunderbar neue Welten: Die Konsolen sind zu Multimedia-Hochleistungsrechnern herangewachsen, auf denen Spiele immer schneller werden und deren Optik mit der von Kinofilmen mithalten kann. »Der Markt wird sich in den nächsten fünf Jahren verdoppeln«, sagt Jörg Trouvain, Geschäftsführer der Deutschland-Filiale von Electronic Arts (EA), dem Weltmarktführer für Videospiele.
Der Boom ist längst da. Ob auf dem Handy an der Bushaltestelle, allein zu Hause vor dem Computer oder mit Tausenden gleichzeitig im Internet: Im Land der Dichter und Denker leben Millionen Daddler. In künstlichen Welten aus Bits und Bytes fahren sie Autos zu Schrott, köpfen Zombies oder kaufen Bayern München. Für viele wird der viereckige Bildschirm zum Tor zur Welt.
Über eine Milliarde Euro wurden vergangenes Jahr mit den elektronischen Welten in Deutschland umgesetzt. 2005 sind zehn Prozent Wachstum trotz Konsumflaute sicher. Die Fachzeitschrift »Computer Bild Spiele« erreicht die satte Auflage von 670 000 Exemplaren. Und allein 300 000 Deutsche haben sich in dem Online-Rollenspiel »World of Warcraft« angemeldet, in dem sich weltweit drei Millionen Gamer im Netz treffen, Allianzen planen und Kriege führen. Vergangenes Jahr strömten über 100 000 Besucher zur glitzernden Computerspiel-Messe »Games Convention« nach Leipzig: In diesem Jahr vervierfachte sich der Vorverkauf. Hinter Los Angeles und Tokio ist die diese Woche stattfindende Leipziger Messe das drittwichtigste Spielespektakel der Welt.
»Die Spiele haben längst den Mainstream erreicht«, sagt Jürgen Fritz, Leiter des Forschungsschwerpunkts Wirkung virtueller Welten an der Fachhochschule in Köln. »Alle machen es, aber es ist kein öffentliches Thema.« Tatsächlich wird die Goldgräberstimmung der Branche von einem Problem getrübt: ihr Image. »Wer sagt, dass er für einen Spielehersteller arbeitet, oder zugibt, dass ihn Games faszinieren, wird in Deutschland angeguckt wie ein Dealer«, klagt EA-Geschäftsführer Jörg Trouvain. Tatsächlich hat sich die Szene nie vom Erfurter Schulmassaker erholt. Robert Steinhäuser, der bei seinem Amoklauf in einem Gymnasium erst 16 Menschen und dann sich selbst erschoss, war ein fanatischer Counterstrike-Spieler.
»Ein unverkrampfter Umgang mit dem Gaming findet nicht mehr statt«, sagt Spieleexperte Jürgen Fritz. Die Szene fühlt sich stigmatisiert. Zementiert wird das Misstrauen durch einen digitalen Graben in der Gesellschaft: »Wir sind zum ersten Mal in einer Situation, in der die jüngere Generation eine Kulturtechnik besser beherrscht als die ältere«, sagt die Psychologin Simone Trautsch, die spielsüchtige Kinder therapiert. Die Eltern wissen nicht, was ihre Kinder tun. Sie sind ratlos - und überfordert mit der Technik: zu schnell, zu grell, zu laut. Das führt zu Verhärtungen: Während Spieler und Spieleindustrie gern so tun, als ginge es nur um das Gemeinschaftserlebnis und die Schulung strategischer Fähigkeiten in einer Pfadfindergruppe am virtuellen Lagerfeuer, sind für Kritiker interaktive Spiele die Droge für eine verfettete, emotional verkümmerte und gewaltbereite Generation.
Eltern finden es in Ordnung, wenn ihre Kinder bei Brettspielen am heimischen Esstisch Armeen verschieben oder Playmobil-Ritter hundert Tode sterben. Im Videospiel ist es für sie schlicht unheimlich: Sie sehen irritiert, wie der liebe Kleine mit Tempo 180 juchzend Autos in den Graben setzt oder beängstigend echt aussehendes Blut fließen lässt. Von der Wissenschaft erhalten sie keine Hilfe: Es ist weder bewiesen noch widerlegt, dass Gewaltspiele auch reale Gewalt provozieren. Doch Spiele werden »fast ausschließlich unter diesem Aspekt diskutiert«, sagt Jürgen Fritz.
Dabei wäre die Frage, warum wir spielen, die wichtigere. Fritz sieht in der virtuellen Spielmanie einen »Spiegel der Gesellschaft«. Vereinzelung, brutaler Konkurrenzkampf um den Arbeitsplatz und Verunsicherung in einer globalisierten Welt fördern die Sehnsucht nach einem überschaubaren Reich, in dem man Erfolg haben kann, die Fäden in der Hand hält - und sei es mittels einer Tastatur: »Rollen ausprobieren, ohne Sanktionen fürchten zu müssen«, sagt Fritz.
Im Foyer der Deutschland-Zentrale von Electronic Arts in Köln steht ein Regal mit den Topspielen des vergangenen Jahres. Crashrennen mit hochgetunten Autos auf illegalen Pisten? »Need for Speed Underground« macht es ohne jeden Kratzer möglich: 6,5 Millionen Mal verkauft. Als tapferer Kämpfer die Welt retten? »Der Herr der Ringe: Die Rückkehr des Königs« lässt den Blockbuster-Film noch mal ablaufen - und jedes Pickelgesicht darf sich wie Aragon fühlen: 5,2 Millionen Mal verkauft. Diktatoren vertreiben und Geiseln befreien? Das Kriegsstrategiespiel »Medal of Honor: Rising Sun« macht jeden zu einem Helden: 4,3 Millionen Mal verkauft.
Gerald Köhler sitzt in Jeans und T-Shirt im abgedunkelten Testlabor von EA. Er ist ein Star dieser Szene. In seiner Jugend brachte er es zwar nur zum rechten Verteidiger des 1. FC Igersheim. Aber seitdem
er nur noch virtuell gegen den Ball tritt, läuft das Leder. Köhler ist Chefprogrammierer für die Fußballspiele von EA, ein Aushängeschild des Unternehmens - denn da geht es um Strategie, Sport und Leidenschaft. Wichtig für EA, denn man will weg vom Image des bösen Buben, der die Jugend verführt.
Bisher sind die meisten Spieler männlich und unter 35. Nun gilt es, Frauen und Ältere zu erobern. Gleichzeitig werden die Spieler immer anspruchsvoller. Die Games müssen ständig schneller, schwieriger, überraschender werden. Die Kosten für Neuentwicklungen erreichen mit bis zu zehn Millionen Euro Budgets wie in der Filmindustrie. »Die Spieler lernen mit, parallel zu der künstlichen Intelligenz«, sagt Köhler.
Eine Form der Intelligenz, die in den USA zurzeit heiß diskutiert wird. Der Journalist Steven Johnson versucht in seinem Buch mit dem angriffslustigen Titel: »Everything Bad Is Good for You« eine Verteidigung neuer Medien: Sie machen nicht dick und dumm, sondern zwingen den Spieler, Entscheidungen zu fällen und sich mit der künstlichen Intelligenz des Computers zu messen. Sie trainieren analytische und strategische Talente. Der Inhalt des Spiels sei für das Gehirn-Jogging dabei so egal wie beim Schach. »Kollaterallernen« nennt der Autor das.
Simone Trautsch muss sich jeden Tag mit Kollateralschäden beschäftigen. Sie arbeitet als Psychologin im Wichernhaus im Ostseebad Boltenhagen, dem einzigen Therapiezentrum für Mediensucht in Deutschland. Die 18-jährige Roberta quält sich in Boltenhagen jeden Morgen um Viertel vor sieben aus den Federn - für den Frühsport am Strand. Um die Zeit hat sie sich in ihrem anderen Leben schnell noch mal ins Bett gelegt, damit ihre Eltern beim Wecken glaubten, sie hätte geschlafen.
In Wahrheit hat sie ihre Nächte in der »World of Warcraft« verbracht, einem Online-Rollenspiel. Drei Millionen Mitspieler treffen sich in dieser Fantasy-Welt, in der Zwerge und Druiden gegen Orks und Zombies kämpfen. Schauplatz des episch aufgemotzten Gemetzels ist das Land Azeroth. Wer weniger als neun Stunden pro Tag in Azeroth verbringt, wird von Mitspielern als Schwächling belächelt. Mittels Kopfhörer und Chatkanal kommunizierte Roberta mit ihren Mitspielern: »Es war aufregend, mit einem Schweden eine Strategie gegen einen Australier zu entwickeln«, schwärmt sie.
Als sie immer dünner wurde, weil sie das Essen vergaß, die Noten immer schlechter wurden, weil sie im Unterricht einschlief, und sie ihre Freunde vernachlässigte, weil sie ja jederzeit Fabelwesen treffen konnte, zogen die Eltern den Stecker. Roberta verstand nicht, warum. Im Therapiegespräch erzählte sie, dass sie doch viele Freunde habe. »Wir gehen zusammen schwimmen oder kochen, setzen uns unter Bäume und quatschen über Jungs.« Es dauerte eine Weile, bis Trautsch begriff, dass diese Freunde alles Wesen aus der »World of Warcraft« waren.
Im Wichernhaus darf Roberta auch eine Rolle spielen. Vier Wochen lang lebt sie dort mit 60 anderen Jugendlichen, die ein Theaterstück einstudieren. So können sie erfahren, dass Rollenspiele auch in der realen Welt Spaß machen. Im Garten geht sie barfuß über Kiesel, Moos, Sand, Baumrinde oder Erde und schärft wieder ihre Sinne: Riechen, Schmecken, Fühlen.
Das Krankheitsbild Computerspielsucht ist noch unerforscht und von den Krankenkassen nicht anerkannt. Die Kinder in Boltenhagen sind hyperaktiv, nervös und haben Essstörungen. »Bis zu 80 Prozent der über Zwölfjährigen in Deutschland haben einen PC im Kinderzimmer«, sagt Trautsch. Sie rechnet mit rund 600 000 jugendlichen Extremspielern.
»Die Evolution der Technik ist schneller als die Evolution des Gehirns«, befürchtet sie. Gerade Kinder brauchten deshalb die Rückkoppelung zur realen Welt, zu ihren realen Möglichkeiten. Es ist leicht, im Spiel ein erfolgreicher Held zu sein, weil sich der Schwierigkeitsgrad anpassen lässt. Der Körper belohnt den Spieler mit Dopamin und Adrenalin: schnelles Glück. Das lockt.
Für eine halbe Stunde am Tag darf Roberta auch im Wichernhaus den PC mit Internet-Zugang nutzen: E-Mails schreiben, Material für ihre Workshops recherchieren oder Hausaufgaben machen. »Computer sind so wichtig geworden. Die Frage ist nur: Wie lerne ich den gesunden Umgang damit?«, sagt Trautsch. Ob ein Spiel ein Segen oder Fluch wird, hängt vor allem von der Medienkompetenz der Eltern ab: »Die müssen sich endlich damit beschäftigen«, meint die Psychologin.
Peter Vorderer, Professor an der Annenberg School for Communication in Los Angeles, glaubt, dass Deutschland diese Diskussion verschläft. Die Spielerrealität sei schon viel weiter als die moralische Debatte darüber. »Videospiele haben die Gesellschaft längst infiltriert. Ihre Bedeutung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden als Leitmedium in der Unterhaltung«, sagt er. Die Spiele werden Trends prägen: in der Sprache, Mode, Musik.
Zwischen 70 und 120 Stunden beschäftigt sich ein Spieler mit einem durchschnittlichen Game, bis er erstmals alle Geschicklichkeitsstufen gemeistert hat. Viel Zeit, in der der Spieler hochkonzentriert und aufnahmebereit ist. »Interaktive Spiele eignen sich für den Schulunterricht genauso wie für die Vermarktung von Autos, Schuhen, Songs - oder Ideen«, sagt Vorderer. »Dieses Medium wird alle Bereiche der Gesellschaft erreichen - Politik, Religion, Kultur, Wirtschaft.«
Auf seinem Campus gibt es ein neues Institut. Es trägt den hübschen und harmlosen Titel »Creative Technologies«. Dort wird erforscht, wie Menschen über interaktive Spiele zum Beispiel zügig über fremde Landessitten und Kulturen aufgeklärt werden oder sich in fremder Umgebung schnell orientieren und taktisch klug verhalten: mit Waffen oder Worten. Das Labor »Creative Technologies« wird vollständig vom US-Militär finanziert. MARKUS DEGGERICH