KUMPEL ANTONS ENDE
In Wanne-Eickel zirpen die Bergarbeiter-Kinder auf den Spielplätzen den Abzählvers: »Eene -- meene -- muh, min Motter melkt de Kuh, minne Vatter jeht noh Mannesmann, dat mer wat zu esse han.« Aber für die 1700 Kumpel der Mannesmann-Zeche »Unser Fritz« in Wanne-Eickel stimmen der Vers und die Kohlen nicht mehr. Die Schachtanlage wird in den nächsten Monaten stillgelegt.
Vor kurzem drängte das ganze Grubenvolk aufgeregt in das größte Kino der Stadt. Es war die letzte demonstrative Betriebsversammlung.
Belegschaftssprecher kanzelten den Bergwerksdirektor Dr.-Ing. Werner Hoevels ab, weil er die Kohle-Interessen gegenüber dem Mannesmann-Konzernvorstand angeblich nicht energisch genug vertreten habe. Hauer Reinhold Luck sprang aufs Podium und schrie ins Mikrophon: »Der Hoevels ist umgefallen wie Mende. Man hörte den Bums bis auf die siebte Sohle.«
Dann bedauerte der Betriebsratsvorsitzende Bernhard Potthast die Stilllegung: »Unser Fritz« hätte in kurzer Zeit die Förderung auf den Rekord von 3,7 Tonnen je Mann und Schicht bringen können.« Ein Kumpel, dem dieses Gerede zu zahm klang, rief von hinten laut »Scheiße«. Damit gab er der Stimmung von 12 000 Leidensgefährten Ausdruck, denen sich das Kraftwort in letzter Zeit öfter denn je zwischen die Zähne drängte.
An der Ruhr sind 12 000 Bergleute arbeitslos. Jahrelang hatten sie über die Maloche unter Tage geflucht, und ihre Frauen verwünschten bei jeder Grubenkatastrophe das Bergmannslos. Aber die harten Männer waren auch stolz auf ihren Job und die gutbezahlte Vorzugsstellung. Jetzt rostet ihr Werkzeug.
Dem Heer der 12 000 Püttmänner, die zu Müßiggang und sozialem Abstieg verurteilt sind, werden sich in den nächsten zwölf Monaten noch etwa 30 000 Zechenkumpel anschließen, denn bis zum Frühjahr 1968 sollen noch über ein Dutzend Schachtanlagen stillgelegt werden.
Vor den Stempelstellen der Arbeitsämter drängen sich außer den Bergarbeitern rund 15 000 Entlassene aus der Stahlindustrie. Auch sie ist krisenkrank. Als das Warmwalzwerk der Hüttenwerke Siegerland AG in Neheim-Rüsten (Sauerland) geschlossen wurde, riefen die 800 gekündigten Arbeiter ihren Heimatpatriarchen, den Bundespräsidenten Heinrich Lübke, um Hilfe an. Ihre Petitionen nutzten ebensowenig wie die Bemühungen des Werkvorstandes, den Betrieb an den amerikanischen Aluminium-Konzern Alcoa zu verkaufen.
Zur Zeit sind in Nordrhein-Westfalen 129 000 Männer ohne Arbeitsstelle. Der blaue Brief mit der Kündigung warf sie wieder zurück auf den Lebensstandard von 1950. Wer als Hauer im Steinkohlenbergwerk zum Beispiel monatlich unter Tage 920 Mark netto verdiente, muß jetzt mit 510 Mark Unterstützung auskommen. Nach Abzug der Miete, der Lichtrechnung und der Abzahlungsraten bleiben ihm und seiner Familie knapp 300 Mark übrig zum Leben.
Das bedeutet Rückkehr zu Eintopfsuppen, billiger Blutwurst, Rübenkraut und Margarinestullen. Und alles muß gleich bar bezahlt werden, denn der Kaufmann an der Ecke schreibt nicht mehr an.
Hunderte von Kumpels verkauften ihren Volks- oder Mittelklassewagen. Allerdings gibt es unter den Arbeitslosen auch Snobs, die zum Auszahlungstermin mit ihrem auf Wechseln ]aufenden Auto bei der Stempelstelle vorfahren. Sie zehren ihre Sparkonten auf oder nehmen sich aus den Lohntüten ihrer erwerbstätigen Frauen, was sie brauchen.
Der Esso-Tankwart an der Ausfallstraße am Westrand von Bochum freut sich über jeden Kunden, der »einmal voll« verlangt. Er klagt: »Die meisten tanken jetzt nur noch zehn Liter. In meiner Schublade habe ich lauter Armbanduhren. Die Kunden haben sie als Pfand bis zum nächsten Zahltag hiergelassen.« Ein Sachbearbeiter des Arbeitsamtes Essen berichtet: »Ständig kommen Leute zu mir und bitten um Vorschüsse, weil sie sonst ihre Teilzahlungsverpflichtungen nicht mehr erfüllen können, und dann würde die neue Wohnzimmereinrichtung, die Klubgarnitur, der Fernsehapparat oder Geschirrspülschrank abgeholt.«
In Bonn erwog Wirtschaftsminister Karl August Schiller bereits, den notleidenden Opfern der Zechenstillegung als Abschiedsgeschenk eine Beihilfe von etwa 5000 Mark zu gewähren, damit sie ihren Zahlungsverpflichtungen nachkommen können.
Während des stundenlangen Schlangestehens vor den Zahlschaltern der Arbeitsämter ziehen die ältesten Erwerbslosen oft Vergleiche zwischen der Weltwirtschaftskrise in den letzten Jahren der Weimarer Republik und der trüben Gegenwart. Damals gingen allein in Essen 50 000 Arbeitslose stempeln. Die Depression in Berg-bau und Eisenindustrie hielt bis zur braunen Machtübernahme an. Viele dauerarbeitslose Kumpel versuchten, sich mit Seidenraupenzucht, Hühner-farmen und Gemüsetreibhäusern eine neue Existenz aufzubauen.
»Wenn sich damals die arbeitslosen Bergleute zusammenrotteten und mit roten Transparenten durch die Straßen zogen, so waren das wütende Hungerdemonstrationen«, erinnert sich der evangelische Bergmannspfarrer Werner Karg in Gelsenkirchen. »Das graue Elend war nicht zu übersehen; heute leidet keiner, der demonstriert, wirklich Hunger.« Gleichwohl wittert der Püttpastor akute Gefahr: »Wenn es an der Ruhr brennt, reicht das Wasser im Rhein nicht zum Löschen.«
In Essen bemühen sich Arbeitsamt und Jugendbehörde, die aufsässigen Jung-Erwerbslosen von der Straße zu holen. Arbeitsamtsdirektor Winkler ("Arbeitslosigkeit ist eine böse Seuche, für junge Menschen aber wie Rausch-gift") verordnete ihnen Beschäftigungstherapie mit geringem Neben-verdienst in Parks und Gärten. Das .Tugendamt lockt sie zum Fußballplatz und zu Wettkämpfen in die Schwimmbäder, um sie mit Sport und Spiel von ihrer Misere abzulenken.
Dem Kummer der arbeitslosen Väter ist jedoch nicht so leicht beizukommen. Sie verstehen die moderne Wirtschaftswelt nicht mehr, die das einst so begehrte Ruhrprodukt -- deutsche Steinkohle -- verschmäht und die tödliche Konkurrenz des ausländischen Öls hereinströmen läßt. Ein alter Hauer erzählte im Bochumer Arbeitsamt, daß er noch oft um fünf Uhr früh aus den Federn fahre und meine, er müsse zur ersten Schicht. Dann grüble er schlaflos vor sich hin -- über das Problem, das bisher noch keiner gelöst hat:
Im Herzen der deutschen Industrie wütet die ärgste Strukturkrise des .Jahrhunderts. Wo sich früher die Förderräder auf hohem Stahlgerüst drehten, verschließen jetzt dicke Betonplatten mit 100 Tonnen Gewicht wie Sargdeckel die lahmgelegten Schächte. Zwischen Rhein und Ruhr liegt der größte Zechenfriedhof Europas.
Berge von Abraumgeröll wurden in die toten Gruben geschüttet, aber in den Querschlägen und Stollen rumoren noch die Berggeister. Und es rumort auch in den Städten und Bergmannsdörfern, in den Kotten, Kneipen und Kumpelvereinen. Fast jedes Wochen-ende demonstrieren die Brüder aus Zechen und Gruben gegen das Bergmannslos 1967: Feierschichten, Betriebsstillegungen und Entlassungen.
Selbst der Verband der Steinstaublungen-Kranken drohte mit einer Protestaktion in Bonn, wenn die Regierung nicht endlich eingreife. Es tröstete sie wenig, daß ein Grubenpoet die Kollegen aufmunterte:
Kohlschwarzer Mann, du darfst dich waschen,
bleibst für die Zukunft lupenrein.
Es wird dich sicher überraschen:
Du wirst nie wieder Kumpel sein.
Zu Ende ist das Lied gesungen,
das Hohelied vom braven Mann,
mit steinstaubvollgepumpten Lungen
stehst du nun da und schaust uns an
Billigere Energiestoffe -- Heizöl und Erdgas -- haben die Kohle immer mehr zurückgedrängt. Mit milder Hand versuchte die Regierung, den naturgegebenen Fortschritt zu bremsen. Über eine Milliarde Mark streute sie jährlich als Subventionen über das Ruhrrevier und verzögerte damit nur den notwendigen Prozeß der Anpassung, der jetzt unter dem grauen Himmel der Rezession die Bergarbeiterfamilien doppelt hart trifft.
Seit 1957 wurden bereits 84 Zechen in der Bundesrepublik geschlossen, die insgesamt jährlich 35 Millionen Tonnen Steinkohle gefördert hatten. Um den Schrumpfprozeß zu beschleunigen, zahlte die Bundesregierung den Zechenherren für die vernichtete Förderkapazität je Tonne 12,50 Mark Stilllegungsprämie. Weitere 12,50 Mark erhielten die Stilleger aus einem Gemeinschaftsfonds der Bergbauunternehmen.
So kassierten die Grubenbesitzer bisher 234,8 Millionen Mark Liquidationsprämie, aber der gewünschte Effekt -- Drosselung des Kohleabbaus und Anpassung an den Bedarf -- wurde nicht erreicht. Denn parallel zu der Liquidation lief die bisher gewaltigste Aufrüstung des Ruhrbergbaus, der in den letzten zehn Jahren acht Milliarden Mark in neuen Abbaumaschinen und Förderanlagen investierte.
Wenn ein Schacht gestorben war, schickten die Arbeitsämter die Kumpel sofort zum nächsten Zechenbüro. 1500 Mark Kopfprämie war der Preis für den Püttwechsel. Außerdem wurden 26 000 Gastarbeiter in Marokko, Tunesien und Spanien angeworben. Selbst Koreaner hieben wild in die Flöze und halfen mit, daß jährlich rund 140 Millionen Tonnen Kohle produziert wurden.
Dieses Richtmaß hatte Ludwig Erhard den Zechengesellschaften vor fünf Jahren als Bedarfsquote angegeben, die ohne Schwierigkeit zu verkaufen sei. Doch Erhards Schätzungen erwiesen sich als böse Täuschung. Selbst Kraftwerke im Revier feuern heute zum Teil mit Öl, weil sie sonst den Strompreis erhöhen müßten. Mehrere städtische Gaswerke stellten sich auf billigeres Erdgas um.
Im vergangenen Jahr beschränkte sich der Bergbau schon von selbst auf 126 Millionen Tonnen, aber auch das war noch zuviel -- verkauft wurden nur 117 Millionen Tonnen. Zur Zeit liegen für 1,5 Milliarden Mark schwarze Diamanten auf Halde. Die ganze Misere der Bonner Energiepolitik gipfelt in diesem Gebirge.
Der Chef der Düsseldorfer Staatskanzlei, Professor Dr. Friedrich Halstenberg, engster Berater des Ministerpräsidenten Heinz Kühn, ist überzeugt, daß nur noch 80 Millionen Tonnen Steinkohle Jahresförderung »wirt-
* In diesem Jahr erhält der Steinkohlenbergbau rund 1,8 Milliarden Mark an Finanzhilfen, einschließlich Steuervergünstigungen. Dazu kommen noch aus dem Sozialetat des Hundes rund 2,9 Milliarden Mark an Zuschüssen für die Knappschaftsversicherung und Unfallversicherungsleistungen.
schaftlich vertretbar« sind. Etwa 30 Zechen müssen noch sterben, damit der Rest leben kann.
An vielen Orten erschwerten die Grubengesellschaften jahrelang die Ansiedlung von Ersatzindustrien. Sie blockierten das tote Gelände und beriefen sich dabei auf das Bergschadenrecht, das den Grubenherren auch nach dem Landverkauf noch auf lange Zeit alle Schadenrisiken -- wie Mauerrisse oder den Einsturz neuer Gebäude durch Erdstöße -- anlastet. Die Zechenherren wollten sich nicht die jungen Bergleute von konjunkturbegünstigten Branchen abwerben lassen, solange noch im Revier Kohle gefördert wird.
Deshalb sträubten sie sich auch lange gegen die Pläne von Ford und Opel, im Ruhrrevier Zweigbetriebe zu errichten. Doch, unterstützt von der Landesregierung, konnte Opel schließlich 1962 sein großes Bochumer Werk auf einem Gelände hochziehen, das die Stadt äußerst billig zur Verfügung stellte.
Opels Kadett-Fabrik sollte nach dem Plan des früheren Landeswirtschaftsministers Gerhard Kienbaum eine großzügige Strukturreform einleiten, aber der Anlauf war nicht sehr erfolgreich. Von den 17 000 Opel-Arbeitern stammen nur 4000 aus dem Pütt. »Viele Kameraden konnten die Fließbandarbeit nicht ertragen«, so erklärt der Präsident des Landesarbeitsamtes, Alois Degen, das bescheidene Interesse. Und Gewerkschaftsführer Walter Arendt fügt hinzu: »Wer 20 Jahre lang den Abbauhammer in der Hand gehabt hat, dem stehen die Finger anders.«
Als Strukturreformer Kienbaum nach der Opel-Ansiedlung auf trumpfte: »Keine rote Mark mehr für den Bergbau, flog der Unternehmensverband Ruhrbergbau einen prominenten Volksaufklärer aus Mallorca heran, den weltläufigen Wirtschaftsschriftsteller Anton Zischka. Er sollte Kienbaum stürzen. Der deutschnationale Österreicher schrieb ein Pamphlet ("Die Ruhr im Wandel"), zitierte Tacitus: »Wenn Du Germanen vernichten willst, gebrauche Germanen dazu« und warf den Regierenden in Bonn und Düsseldorf vor, daß sie jetzt den Vernichtungsplan Henry Morgenthaus erfüllten. Der Rächer der Juden habe das Ruhrgebiet 1945 ausradieren wollen, jetzt besorge es Kienbaum.
Schande über alle liberalen Germanen, so agitierte Zischka, die einen nationalen Bodenschatz wie die Ruhrkohle im Werte von 280 Milliarden Mark den ausländischen Ölmächten preisgeben. Die Zechenherren ließen ihren stärksten Propagandisten auch als Stoßtruppredner in den großen Vereinssälen der Ruhrstädte auftreten. Das Pütt-Volk applaudierte begeistert und nannte ihn Kumpel Anton, wie jenen erfundenen Grubenkameraden, der in der größten Ruhrgebietszeitung jede Woche im Jürgen-von-Manger-Stil seine Döhnkes erzählt.
Jahrelang sträubten sich auch die sozialdemokratischen Kommunalpolitiker -- meist altgediente Bergarbeiter gegen den Zuzug revierfremder Unternehmen. Vor einiger Zeit beschwerte sich der Bürgermeister der Bergarbeiterstadt Gladbeck, Günter Kalinowski, ein frühinvalider ehemaliger Hauer, bei der Wirtschaftsförderungs-Gesellschaft in Düsseldorf: »Da schicken Sie uns einen Matratzenfabrikanten, das ist doch keine Strukturverbesserung.« Die Firma Schlaraffia wollte in Gladbeck ein großes Zweigwerk errichten, wurde aber abgewiesen und mußte nach Wattenscheid ausweichen, wo jetzt auf dem Gelände der ehemaligen Zeche »Fröhliche Morgensonne« eine neue Fabrik entsteht.
Heute -- bei rund 64 000 Arbeitslosen im Revier -- ist man in den Rathäusern nicht mehr wählerisch. Gelsenkirchen freut sich sogar über die Ansiedlung einer Knopffabrik und mehrerer Textilbetriebe, die allerdings vorwiegend Frauen beschäftigen. Stadtdirektor Bill gibt zu: »Bis vor zwei, drei Jahren gingen unsere Bemühungen ausschließlich in diese Richtung.«
Damals arbeiteten noch 68 000 Gelsenkirchener im Bergbau, heute nur 29 000. Weil drei Zechen starben, kommen in Gelsenkirchen auf eine offene Stelle acht Arbeitslose, wurden Schul- und Straßenbauten gestoppt und die Eintrittspreise für den Ruhr-Zoo erhöht. Sogar die Hundesteuer stieg auf das Doppelte.
Seit einem halben Jahr gibt es zwischen Rhein und Ruhr, Lippe und Emscher mehr Grundstücke als Interessenten. Die Stadtväter sprechen von einem Zigeunerhandel mit Immobilien, bei dem gerissene Makler eine Gemeinde gegen die andere ausspielen. Gelsenkirchen offeriert über vier Millionen Quadratmeter Fabrikareal zu günstigen Bedingungen. Dortmund verfügt über 180 Hektar freien Industriegeländes, Gladbeck verschaffte sich 420 000 Quadratmeter mit Gleisanschluß.
Das seit neun Monaten »bergbaufreie« Mülheim an der Ruhr -- Wiege des Stinnes-Konzerns -- kann mit 80 Hektar ohne Bergschadenrisiko dienen. Die Stadt kaufte das Terrain von der Rheinstahl AG, die es vor 24 Jahren für 3,6 Millionen Mark erworben hatte. Der Stadtkämmerer zahlte jetzt 15,9 Millionen Mark und bietet die Bauparzellen künftigen großen Gewerbesteuerzahlern weit unter dem Einkaufspreis an.
Stärkste Anziehungskraft hat der Kreis Unna, wo ein Jungmanager -- der Geschäftsführer der Wirtschaftsförderungsgesellschaft Oswald Hüller -- die Weichen der Strukturänderung stellt. Er wurde in der Stabsabteilung des Krupp-Konzerns geschult. Mit großzügigen Angeboten lockte er bereits zwölf kapitalkräftige Unternehmen in den Kreis, darunter den größten Chemie-Konzern der Welt, E. I. Du Pont de Nemours, der zur Zeit im Kreis Unna für 250 Millionen Mark das modernste Kunstfaserwerk der Bundesrepublik mit 1500 Arbeitsplätzen errichten läßt. Außerdem baut die Minnesota Mining & Manufacturing Company im Kreis Unna eine Fabrik, die 1500 Ruhrgebietler beschäftigen wird.
Hüller siedelte aber auch kleinere Gewerbebetriebe an; in der umgebauten Waschkaue der toten Zeche »Alter Hellweg« wird jetzt Brot gebacken. Mehreren Unternehmen errichtete der kreisamtliche Strukturreformer mit Bankdarlehen und öffentlichen Krediten sogar maßgerechte Leib-Fabriken. Die Wirtschaftsförderungsgesellschaft des Kreises -- eine GmbH der öffentlichen Hand -- verpachtet die Werkhallen, zum Teil mit Maschinen, auf zehn Jahre. Dann gehen sie in das Eigentum der Pächter über; die Mieten sind Abzahlungsraten.
Alle Ruhrgemeinden -- von Bottrop bis Wanne-Eickel -- ließen verheißungsvolle Prospekte drucken, um deutsche und ausländische Firmen anzulocken. Gelsenkirchen spiegelt sich auf dem Hochglanzpapier als eine erregende Großstadt: »Unser Lebensrhythmus ist energiegeladen. Immer brennen die tausend Feuer, und abends leuchten die Wahrzeichen der chemischen Industrie am Horizont ... die Stadt ist seit hundert Jahren darauf vorbereitet, jeden Neuankömmling mit offenen Armen aufzunehmen.«
Die Hauptarbeit dieser Lockkampagne liegt bei der Wirtschaftsförderungsgesellschaft des Landes Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, einer reinen Propagandazentrale. Ihr Geschäftsführer Alf Ingmar Foerster, ein junger Jurist aus Hamburg, sorgt sich sehr, eingefleischte Vorurteile zu zerstreuen: »Das Image des Ruhrgebiets ist so vermiest. Der Fremde glaubt, daß es dort Tag und Nacht rußt und stinkt.«
Wenn man auch singe: »Nichts ist so schön wie der Mond von Wanne-Eickel«, so sei dieser Spottschlager doch eher abträglich als werbeträchtig. Die verulkte Stadt -- dichter besiedelt als jede andere Gemeinde Deutschlands (5067 Einwohner je Quadratkilometer) -- braucht dringend Ersatzindustrie.
Foerster hat jährlich 694 000 Mark zur Verfügung, um das Image des Ruhrgebiets aufzubessern. Er lädt auswärtige Manager und Unternehmer zu Ausflügen durch Europas konzentrierteste Wirtschaftslandschaft ein, führt sie zu den reizvollsten Aussichtspunkten im Bergischen Land, speist und trinkt mit ihnen in Schloßhotels oder in der »Schwarzen Lene«, einem Nobel-Restaurant der Ruhr-Snobiety.
Die Bilanz dieser Exkursionen: Etwa 200 Produktionsbetriebe haben sich im Revier angesiedelt, darunter aber nur ein knappes Dutzend größerer Unternehmen, die den Arbeitsmarkt fühlbar entlasten, zum Beispiel zwei Fabriken von Siemens in Gladbeck (über 3000 Arbeiter), die Eurovia-Pullover-Fabrik des Textilindustriellen Fritz-Karl Schulte (1000 Arbeiter), das Großbehälterwerk der amerikanischen Bridge & Iron Company in Gelsenkirchen sowie das Zweigwerk der Bosch-Tochter »Blaupunkt« in Herne (800 Beschäftigte). Die meisten Ersatzunternehmen gehören jedoch zur Kategorie der mittleren und Kleinbetriebe; die Hälfte der neugeschaffenen Arbeitsplätze ist ausschließlich für Frauen bestimmt.
Um auch im Ausland das Klischee vom häßlichen Ruhrgebiet zu korrigieren, flog der Struktur- und Image-Verbesserer mit den Bonner Korrespondenten der Auslandspresse über die grünen Lungen zwischen Sauerland und Münsterland. Einer der aufmerksamsten Luftbeobachter war Moskaus Prawda-Korrespondent Michailow. Als die Maschine auf dem Rückflug über Halden und toten Zechen kurvte, fragte er bohrend nach den entlassenen Püttgängern.
Von den 50 000 Bergleuten, die im letzten Jahr ihren angestammten Arbeitsplatz verloren, lassen sich nur 1200 für einen anderen Beruf umschulen, obwohl ihnen sehr günstige Bedingungen geboten werden: Sie erhalten während ihrer Ausbildungszeit aus öffentlichen Mitteln 90 Prozent des früheren Verdienstes. Aber die meisten lehnen es ab, mit 40 oder 45 Jahren nochmals als Lehrling neu anzufangen und beispielsweise Schlosser, Betriebselektriker, Dreher, Anstreicher, Maurer oder Gärtner zu werden. Das sind die begehrtesten Umschulberufe.
In einem Gelsenkirchener Schulraum sitzen täglich 33 Familienväter in ihren Sonntagsanzügen auf dem Gestühl, das eigentlich für Teenager bestimmt ist. Vor einigen Monaten taten sie noch auf der Zeche »Graf Bismarck« als Markenkontrolleure subalternen Schreibstubendienst. Jetzt lassen sie sich zu Verwaltungsangestellten, zum Beispiel für Sparkassen und für die Ruhr-Universität in Bochum, ausbilden.
Verbissen pauken die 35- bis 45jährigen mit einem Gewerbelehrer des DGB-Fortbildungswerks grammatikalische Regeln und üben Rechtschreibung. Nach Schulschluß warten drei Spätpennäler mit ihrem Volkswagen auf drei ansehnliche Handelsschülerinnen -- ihre Töchter, die sich unter dem gleichen Schuldach auf einen kaufmännischen Beruf vorbereiten.
Seit 1957 hat der westdeutsche Bergbau jeden zweiten Kumpel entlassen (siehe Graphik Seite 76); etwa 140 000 Bergleute kamen während der Hochkonjunktur in anderen Branchen unter. Zehntausende machten von dem Angebot Gebrauch, sich mit 55 Jahren zur Ruhe zu setzen und von der Knappschaftsrente zu leben. Voraussetzung für die Frührente sind allerdings 25 Bergmannsjahre, davon 15 unter Tage.
Mehrere tausend Ruhrgebietler wanderten nach Hessen, Bayern und Baden-Württemberg ab. Im Rhein-Main-Zentrum der Großchemie -- bei den Farbwerken Hoechst und der Cassella Farbwerke Mainkur AG -- entstand eine kleine Ruhr-Umsiedlerkolonie. 124 Arbeiter aus dem Revier folgten den Lockinseraten: »Chemie hat Zukunft und garantiert sichere Arbeitsplätze.«
37 frühere Hauer, Grubenschlepper und Monteure verdienen ihr Geld heute im automatisierten Hoechster Zweigwerk Kelsterbach mit den Augen und Fingerspitzen. Die Männer, die früher täglich bei 40 Grad Hitze halbnackt im Gruppenakkord drei Tonnen Kohle aus dem Flöz hackten, -- Muskeln und Nerven aufs höchste gespannt -, beobachten jetzt Manometer und Farblämpchen, oder sie wandern von Kessel zu Kessel, um Hebel zu bedienen.
»Wir schätzen an ihnen die im Bergbau erworbene Zuverlässigkeit«, lobt der Arbeiter-Personalchef der Farbwerke Hoechst AG, Dr. Rudolf Gehrunger. »Sie handeln verantwortungsbewußt und sind diszipliniert, obwohl sie nicht mehr wie einst vor Ort in der Gruppe arbeiten.«
Die völlig anders geartete Arbeits- und Lebensweise hat das frühere Gruppenbewußtsein zerstört. »Nur durch die Wohnung im gleichen Block, da kennt man sich noch ein bißchen«, sagt der ehemalige Hauer Rudolf Wallat, 34, aus Essen-Karnap, der mit der Umsiedlung sehr zufrieden ist: »Ich habe auf Zeche um die 1000 Mark monatlich gehabt und 100 Zentner Deputatkohle im Jahr, dazu eine billige Werkswohnung. Hier verdiene ich bei wesentlich leichterer Arbeit etwa genausoviel. Die Wohnung ist zwar 100 Mark teurer, aber dafür auch schöner.«
Ein anderer ist kritischer: »Die Lebenshaltungskosten waren im Ruhrgebiet niedriger. Der Hausbrand lag vor der Tür. Auch das Bier war besser. Aber die Luft hier ist gut. Und man bietet uns jetzt Aufstiegsmöglichkeiten.«
Der ehemalige Hauer Rüdiger Schulte-Hiltrop, Sohn eines in Mitteldeutschland enteigneten Gutsbesitzers, fand in Hoechst seinen dritten Beruf. Er hatte Kaufmann gelernt und betrieb im Ruhrrevier ein kleines Lebensmittelgeschäft, bis er vor einem Großbetrieb kapitulieren mußte. Dann verdingte er sich im Bergbau und verdiente gut, aber er wurde das Gefühl nicht los, sozial abgerutscht zu sein. Jetzt trägt er bei der Arbeit wieder Schlips und Kragen -- als Angestellter im Einstellungsbüro der Personalabteilung.
In Bischofsheim, wo ein Teil der Ruhr-Umsiedler wohnt, freut sich die Frau des ehemaligen Kumpels Gorbatscheck aus Essen-Krey, daß die Kinder in der neuen Umgebung nicht mehr an Bronchitis leiden; daß der Mann nicht wie der eigene Vater an Staublunge sterben wird; daß sie nicht an Grubenkatastrophen denken muß, wenn er nicht pünktlich heimkehrt; daß die Gardinen weiß bleiben und daß sie auf Wiesen und Apfelbäume blickt, wenn sie zum Fenster hinausschaut.
Doch die Masse des Ruhrvolks ist aus dem Revier der Essen, Hütten und Halden nicht wegzubringen. Sie hängt an dem rauchgeschwärzten Babylon wie jeder zähe Bergknappe in Haßliebe an den unterirdischen Knochenmühlen, die seit 1945 über 50 000 Kumpel vorzeitig ins Grab beförderten. Soviel starben bei Grubenkatastrophen, durch Arbeitsunfälle und an typischen Bergmannskrankheiten. 150 000 Grubenarbeiter sind gesundheitlich so stark geschädigt, daß sie Unfallrenten beziehen.
Aus Gelsenkirchen, der Stadt, die am meisten unter der Strukturkrise litt, zogen zwar 10 000 Berg- und Hüttenwerker fort, aber nur drei Prozent verließen das Land Nordrhein-Westfalen, und nur 33 Gelsenkirchener folgten während der letzten zwölf Krisenmonate dem Ruf des Ost-Berliner Deutschlandsenders, in Ulbrichts Arbeiter-und-Bauern-Republik überzusiedeln.
Die Nachkommen der Waschbären, wie die ostelbischen Einwanderer vor 70 Jahren von den Westfalen genannt wurden, halten fest an Sippe, Straßenmilieu, Eckkneipe und Verein. Geselligkeit gehört zum Kumpel wie die Grubenlampe und die Brieftaubenzucht. Die 12 000 arbeitslosen Kumpel hocken jetzt noch öfter als früher vor ihren Taubenschlägen und sparen sich das monatliche Futtergeld (30 bis 40 Mark für 20 Vögel) vom Munde ab.
Sie basteln auch an ihren Hühner- und Kaninchenställen, graben ihre kleinen Gärten um, stecken Zwiebeln oder spielen mit ihren Leidensgefährten Karten. Aber der. Tag ist verdammt lang, wenn man ihn zu Hause totschlagen muß.
In den eintönigen Zechensiedlungen philosophieren die Männer über die hohe Politik in Bonn und die Chancen ihrer Fußballvereine. Zum Kneipengang fehlt das Geld. Deshalb trifft man an den Theken der typischen Bergmannslokale, etwa im Gladbecker »Jammerkrug« oder im »Eselstall« der Bochumer Vorstadt Dahlhausen, selten einen Arbeitslosen. Viele Wirte klagen, daß sie knapp halb soviel Bier ausschenken wie früher.
Die Misere schlug sich auch in der Kriminalstatistik nieder, vor allem nahmen die Eigentumsdelikte zu. Wer in der Bochumer City sein Auto über Nacht vor einem Hotel parken will, dem rät der Portier: »Fahren Sie lieber ins nächste Parkhaus. Man hat hier in letzter Zeit zu oft Wagen aufgebrochen. Es gibt jetzt so viele Arbeitslose in der Stadt.«
Struppelbärtige Bettler streunen durch die besseren Wohngebiete -- familienlose Kumpel, die noch vor wenigen Wochen in den Männerheimen am Zechenrand wohnten. Seit die Seilfahrt stillsteht, sind sie obdachlos, und wer keinen festen Wohnsitz nachweisen kann, erhält keine Arbeitslosenunterstützung. Ehemalige Landfahrer, die der Pütt resozialisiert hatte, tippeln wieder und halten an jeder Tür um Fahrgeld nach Bethel an, wo sie sich angeblich in der evangelischen Männerkolonie eine neue Bleibe suchen wollen.
Auch in vielen geordneten Haushalten herrscht Unfrieden. »Jetzt kriegt der Sohn, der noch vollbeschäftigt ist, das größte Stück Fleisch auf den Teller«, sagt der evangelische Pfarrer Werner Karg im Gelsenkirchener Bergbauvorort Erle, »während das arbeitslose Familienoberhaupt mürrisch seine Suppe löffelt. Oder der Alte muß irgendwo weit abgelegen vom Familienwohnsitz eine neue Arbeit annehmen und kann nur alle paar Wochen nach Hause. Männer in der Kasernierung das geht selten gut. Man kennt das doch: Bier, Schnaps, Frauen.« Mit dem Püttsterben stieg die Scheidungskurve.
Pfarrer Karg demonstrierte mit Tausenden von Bergarbeitern unter schwarzen Fahnen, als die Direktion der Zeche »Graf Bismarck« im vergangenen Jahr überraschend bekanntgab, daß auch diese hochmoderne Grubenanlage vor der Absatzkrise kapitulieren müsse.
Eine Viertelmilliarde Mark hatte die Grubenbesitzerin, die Deutsche Erdöl-Aktiengesellschaft (DEA), während der Nachkriegsjahre in diesen Montanbetrieb investiert. Sie setzte die rationellsten Fördermaschinen ein, um die Rentabilität zu verbessern, aber als die DEA selbst in die Bredouille geriet, beschloß der Aufsichtsrat, die Grube zu liquidieren. Dann verkauften die DEA-Aktionäre ihre Anteile an die amerikanische Texaco.
Auf dem Zechengelände sind noch 2000 Kumpel mit dem sogenannten Ausrauben beschäftigt. Was sich an Maschinen und technischer Ausrüstung ohne großen Kostenaufwand heraufholen läßt, wird demontiert. Das sperrige Gerät bleibt in der Tiefe. So begruben die Demonteure auf der Bochumer Zeche »Prinz Regent« eine neue Fördermaschine, die 300 000 Mark gekostet hatte, unter dem Geröll, mit dem sie den Schacht auffüllten.
Seit Januar gaben sechs weitere Grubendirektionen überraschend den Stillegungsbeschluß ihrer Aufsichtsräte bekannt. Die Kumpel antworteten mit Protestversammlungen, auf denen der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie, Walter Arendt, Brandreden hielt. Fast jedesmal betonte er: »Es geht hier nicht um volkswirtschaftliche Entscheidungen, es geht -- schlicht gesagt -- den Konzernherren ums Geld.« Die Gewerkschaft stempelte den letzten März-Freitag zum »schwarzen Freitag an der Ruhr«. An diesem Tag wurden mehrere Kokereien und die halbstaatliche Hibernia-Schachtanlage Möller-Rheinbaben in Bottrop/Gladbeck geschlossen.
Schon mehrere Wochen vor der letzten Grubenfahrt hatten Vorstandsmitglieder der Hibernia AG die Kumpel mit dem Versprechen zu beruhigen versucht, daß jeder taugliche Bergmann in einem anderen Hibernia-Betrieb »einen angemessenen Arbeitsplatz« finden werde. Da johlte es aus der Menge: »So viele Direktorenposten, wie hier Leute stehen, könnt ihr uns doch nicht bieten.«
Bergarbeiter-Führer Arendt und seine Vorstandsgenossen haben für die nächste Phase des Zechensterbens ein Konzept ausgearbeitet, um das zur Zeit heftig gestritten wird. Sie schlugen vor, daß sich die 26 Gesellschaften, die zur Zeit zwischen Rhein und Ruhr, Lippe und Emscher Kohle abbauen, zu einem Großkonzern zusammenschließen. Diese Konzentration würde die Auslese der liquidationsreifen Grubenbetriebe erleichtern, weitere Fehlinvestitionen verhindern und eine große kostensparende »Flurbereinigung« unter Tage ermöglichen.
Die Grenzen zwischen den zerklüfteten Kohlefeldern der einzelnen Unternehmen verlaufen vielfach so wirr (Arendt: »Ein bunter Flickenteppich"), daß die Gesellschaften oft viele kilometerlange Verbindungsstrecken bauen müssen, um an abbauwürdige Flöze heranzukommen.
Die Gewerkschaft hat errechnet, daß der Ruhrbergbau in den letzten neun Jahren 1,49 Milliarden Mark eingespart hätte und konkurrenzfähiger geworden wäre, wenn die Unternehmen schon 1958 fusioniert hätten. Ausgerechnet von Unternehmerseite kam der Vorschlag, Arendts Konzeption konsequent zu Ende zu führen und gleich den gesamten Ruhrbergbau zu verstaatlichen.
Der Autor dieser Patentlösung, Willy Ochel, Vorstandsvorsitzer der Hoesch AG, häufte glühende Kohlen des Protestes auf sein Haupt. Der Unternehmensverband der Zechenherren kanzelte ihn ab wie einen Überläufer, aber auch die höchsten sozialdemokratischen Staatsdiener distanzierten sich von Ochel. Sie wollen die Verluste der Zechengesellschaften nicht sozialisieren.
Noch unrealistischer wäre die Kur, mit der Nordrhein-Westfalens sozialdemokratischer Wirtschaftsminister Bruno Gleitze die Kohlen-Absatzkrise beseitigen wollte. Er verlangte von Bonn, eine »nationale Kohlenreserve« von etwa 25 Millionen Tonnen anzulegen. Damit würden die »Ruhralpen« -- die unverkauften Haldenbestände -- in den Besitz des Bundes übergehen.
Die Zechen wären augenblicklich von ihren Absatzsorgen befreit; sie würden wieder mit voller Kraft Kohle fördern und neue Halden anlegen, »vielleicht mit dem Ziel, im Ruhrgebiet Kohlenpyramiden als Anziehungspunkte für den Fremdenverkehr zu errichten wie in Ägypten«, spottete der Ruhrkorrespondent der »Süddeutschen Zeitung«.
Trotz aller divergierenden Planungen stimmen die Ruhrpolitiker darin überein, daß die Überkapazität der Kohlenproduktion abgebaut werden muß. 1970 werden vielleicht noch 80 bis 90 Millionen Tonnen Kohlen ihren Markt finden, und das nur durch Subventionen, die der Staat den kohleverbrauchenden Elektrizitätswerken zahlt.
Das größte Problem sind jedoch die 100 000 Bergarbeiter, die während der weiteren Zechenliquidation noch entlassen werden müssen. Eines Tages könnte der brodelnde Kessel auf dem sozialen Unruheherd überkochen, denn in drei Jahren können auch die aktivsten Strukturreformer nicht die Versäumnisse des letzten Jahrzehnts nachholen und eine Ersatzindustrie mit 100 000 neuen Arbeitsplätzen ansiedeln.
Die Düsseldorfer Regierung will deshalb den Stillegungsprozeß strecken und mitbestimmen, in welcher Zeitfolge die Zechen geschlossen werden. Dazu Gewerkschaftsführer Arendt: »Wer die Musik bezahlt, der kann auch sagen, was gefiedelt wird.«
Die Schachtanlagen, die das Zechensterben überleben werden, können kaum noch mit Berglehrlingen rechnen. Im vergangenen Jahr meldeten sich nur 389 junge Bergmanns-Aspiranten, darunter 150 Türken; gesucht wurden aber 4329. In diesem Jahr ist das Lehrlingsangebot noch geringer.
»Privat würde ich auf keinen Fall einem Jungen den Rat geben, in den Bergbau zu gehen«, raunt sogar ein Berufsberater des Arbeitsamtes Gelsenkirchen. Er war noch vor einem Jahr Steiger und Ausbildungsleiter der Zeche »Graf Bismarck« und hat sieh umschulen lassen.