RELIGION / Karl Barth Kunde vom unbekannten Gott
Sieben boshafte Fragen, die der weltbekannte Theologe Karl Barth vor einigen Wochen an seine Basler Professoren -Kollegen richtete, sind bis heute unbeantwortet geblieben. Dem greisen Gelehrten war zu Ohren gekommen, die Universität - an der vor ihm einst so renommierte Rebellen wie der scharfzüngige Humanist Erasmus von Rotterdam, der Medizin -Revolutionär Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus, und der Zertrümmerer Friedrich Nietzsche wirkten - diese Universität habe sich entschlossen, zu ihrer für das kommende Jahr vorgesehenen 600-Jahr-Feier keine Professoren aus den Ländern des kommunistischen Ostblocks einzuladen.
»Kann es«, empörte sich Karl Barth, »gerade der Basler Universität würdig sein, bei Anlaß ihres Jubiläums den humanen, liberalen und also universellen Geist praktisch zu verleugnen, dessen sie sich jedenfalls in der neueren Zeit rühmen durfte und auch je und je gern gerühmt hat? . . . Als ob sie (die Jubiläums-Feier) uns übrigens nicht auch zur Besinnung über die Relativität unseres Leitbildes von der 'Abendländischen Universität' und ihrer Glorie nützlichen Anlaß geben könnte!«
Die sieben Fragen bilden den vorläufig letzten in einer schier unübersehbaren Kette wackerer Streiche, mit denen sich der streitbare Basler Gottesmann in der westlichen Welt den Ruf eines Störenfrieds abendländischer Selbstzufriedenheit verschafft hat. Wo und wann immer sich der Westen goldene oder papierene Kälber errichtete, war Karl Barth bereit, mit zornigen und höhnischen Worten das Panier des Nonkonformismus zu ergreifen.
Er opponierte dagegen, daß - wie er meint - Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg allzu voreilig für die atlantische Welt optierte, er protestierte gegen die bundesrepublikanische Wiederaufrüstung im besonderen und gegen die Atombewaffnung im allgemeinen. Er verhöhnt mit Vorliebe die Fetische der westlichen Konsum-Gesellschaft, und hin und wieder unterläuft ihm auch ein kräftiges Sakrileg an den relativ ehrbaren Halbgöttern des Westens - wie etwa dem der »freiheitlichen Demokratie«.
Im vorigen Jahr schockierte er alle braven Bürger diesseits der Elbe, in dem er ein furchteinflößendes Gemälde Westdeutschlands entwarf - von »den Mächten und Gewalten, den Geistern und Dämonen im Lande des Wirtschaftswunders«, mit seinem gedankenlosen Anschluß an die Nato, mit seiner Remilitarisierung, seinem Militärseelsorgevertrag, seiner Atomwaffen-Aufrüstung, panischen Russenangst, seinen Kreuzzugsstimmungen, seinen alten Nazis, mit all dem Fatalen, was 'Bonn' und CDU dort sachlich und personell auch und nicht zuletzt in der evangelischen Kirche bedeuten«.
Nun gehören allerdings Panoramen von ähnlicher Düsternis seit langem zur gängigen publizistischen Konsumware. Kabaretts, Zeitungen, Fernsehstudios, philosophische und soziologische Pandekten bieten sie zum gruseligen Genuß feil, und der Unterhaltungs-Verbraucher nimmt sie erfahrungsgemäß heutzutage gern ab.
»All das Fatale«, nicht nur »Bonns«, sondern der Moderne überhaupt, dessen Publikums-Reflex schon Sigmund Freud als »Unbehagen in der Kultur« beschrieb, hat seit Hitlers Judengreueln, seit Hiroschima und seit Chruschtschows Enthüllungen über die Schrecken des Stalin-Regimes beachtlichen Verkaufswert erlangt. Dementsprechend besserte sich auch der Markt für spirituelle Heilmittel aller Art, darunter auch solche christlicher Provenienz.
In den Vereinigten Staaten machte sich das konsumkundige Nachrichtenmagazin »Time« schon vor Jahren an das »kinnladenbrechende« Geschäft, seine Leser über die Lehren des damaligen amerikanischen National-Theologen Reinhold Niebuhr zu unterrichten. In der Schweiz proklamierte die »Neue Zürcher Zeitung« - freilich erst im vorigen Jahr und auch dann noch mit der dem Blatt eigentümlichen Betulichkeit - den Anbruch einer Epoche der »Re-Theologisierung«.
In westdeutschen Bahnhofskiosken prangen seit geraumer Zeit neben Mickey Spillane ("Mein Revolver sitzt locker") und Daphne du Maurier ("Küß mich noch einmal, Fremder") Produktionen erlauchter theologischer Namen zu volkstümlichen Preisen. Die »Bekenntnisse« des Kirchenvaters Augustin (Taschenbuch-Auflage: 150 000) und eine Auswahl der Schriften des Thomas von Aquin (87 000) sind an den
Tresen der literarischen Bahnhofs-Schnellimbißstände für 2,20 Mark zu haben.
Solchen und anderen Erscheinungen entspricht, daß Politik, Wirtschaft und Theologie eine immer inniger werdende Verbindung eingegangen sind. Die Bundesrepublik erlebte erst jüngst eine veritable Welle theologischer Anstrengungen. Auf beiden Ufern der Elbe unterzog man sich
- angeregt durch einige eigenwillige Auslassungen des Berliner Bischofs Dibelius - der harten Aufgabe, zu prüfen, was das 13. Kapitel des biblischen Paulus-Briefes an die Römer über die Beachtung sowjetzonaler Verkehrsvorschriften zu sagen hat.
»Gott ist«, wie sich ein westdeutsches Kirchenblatt jüngst mit dubiosem Unterton ausdrückte, »ins Gerede gekommen«, und der Name seines »eingeborenen Sohnes« ist gar seit 1945 Werbemarke der größten westdeutschen Partei: der Christlich-Demokratischen Union. Den Verbands- und Industrie-Lobbyisten in den Vorzimmern christ demokratischer Minister geht seit langem das Wort Gottes so munter von den Lippen wie andererseits den Modepriestern das Spekulieren über Disengagement und Aktienrecht.
Dabei ist die Theologisierung der Politik wie des öffentlichen Lebens überhaupt
keineswegs oder jedenfalls nicht ausschließlich auf den Wunsch der Politiker oder die Geschäftstüchtigkeit der Lieferanten von Kulturkonsumwaren zurückzuführen. Vielmehr ist die Tatsache, daß Gott ins Gerede gekommen ist, auch der freilich paradoxe Effekt einer theologischen Revolution, die vor rund 40 Jahren am Aschermittwoch des Ersten Weltkriegs ausbrach. Sie war sowohl Ausdruck wie Stimulanz eben jenes Freudschen »Unbehagens in der Kultur«. Theologisch wollte sie die Majestät des unnahbaren Christengottes wiederherstellen und begann damit, das Christentum aus den Fesseln seiner Bündnisse mit den etablierten Mächten jener Zeit - mit den Kaisern und Königen, den Bankiers und Industrieherren, dem Bildungs- und Besitzbürgertum - zu befreien. Gott, von der halb feudalistischen, halb kapitalistischen Gesellschaft zu einem Sonntags-Götzen entstellt, sollte als Herr wieder unter die Menschen treten.
Der Rousseau und der St. Just, Denker und Täter dieser theologischen Revolution war Karl Barth. Er ist es bis heute geblieben. Während fast alle seine Weggenossen und Gefolgsleute aus der Zeit des Aufbruchs inzwischen wieder ein manchmal herzliches, manchmal laues Bündnis mit den neuen Mächten der westlichen Gesellschaft geschlossen haben, ist Barth noch heute der unentwegte Rebell, ein - wie sein katholischer Verehrer, der Jesuit Hans Urs von Balthasar, feststellte - »vor Eifer verbrennender, vom Unverstandensein umringter, immer mehr eingeengter Jeremias": Gottes Erz-Nonkonformist auf abendländischem Boden.
Barth war 36 Jahre alt, als - im Jahre 1922 - die zweite Auflage seines Buches
über den paulinischen Römerbrief erschien. Sie war das Buch-Ereignis, das man heute gemeinhin als das Geburtsdatum der »dialektischen Theologie« (eine Bezeichnung, die Barth selbst heute nicht mehr verwendet) und als den Beginn jener theologischen Revolution ansetzt, die sich bis heute nicht beruhigt hat. In »einem unheimlichen, plötzlichen Crescendo hämmerte« darin Barth der Christenheit »in die Ohren« (Balthasar), daß Gott Gott sei, souverän und menschlichem Verstande unzugänglich. Jede Aussage über Gottes angeblichen Willen wurde von dem jungen Feuerkopf Barth als ein blasphemischer Versuch angeprangert, sich Gottes zu bemächtigen. Als Barth seinen zweiten »Römerbrief« vollendet hatte, überfiel ihn das Gefühl, den Strang einer dröhnenden Glocke in die Hände bekommen zu haben:
Das Bimbam des Barthschen »Römerbriefes« dröhnte denn auch in vielen Ohren. In aller Welt war man seit dem Blutbad des Ersten Weltkriegs über die Identifizierung von Christentum und Staat, Christentum und Kapital, Christentum und Gesellschaft tief beunruhigt. Zumal im deutschen Sprachgebiet fühlte die junge protestantische Geistlichkeit, daß das Bündnis der evangelischen Kirchen mit Bismarck-Reich und wilhelminischen Kaisertum das Christentum diskreditiert habe. Der Gott, der mit Wilhelm Zwo nach dem nationalchristlichen Dogma »Thron und Altar« liiert war, hatte den breiten Massen der modernen Industriegesellschaft nichts zu sagen.
Tatsächlich hatte die theologische Aprèsguerre-Revolution auch einen sozialrevolutionären Aspekt. Barth selbst fraternisierte als junger Geistlicher mit allem, was rot oder rötlich, was proletarisch und antibürgerlich
gesinnt war. Dabei führte ihn die doppelte - theologische und sozialrevolutionäre - Stoßrichtung seines Jugend -Denkens bald an die Frage heran, die von da an im Zentrum seiner Theologie stehen sollte.
Als Theologe behauptete Barth - in einer revolutionären Wendung gegen die bürgerliche Theologie des 19. Jahrhunderts -, man könne von Gott nichts wissen. Noch 1953 in einem Vortrag in Bielefeld - erklärte er, daß keine Gotteswissenschaft es sich einfallen lassen dürfte, den Christenmenschen mit sozialen Idealen, mit Programmen oder dergleichen auszurüsten. Wie müßte, rief er damals aus, ein Gottesgelehrter den Christen durch solche Anweisungen »auch in bester Absicht in die Irre führen!«
Gleichwohl aber erteilte der Theologe Karl Barth fast zu allen Zeiten seines Lebens gerade solche Anweisungen, ging bestimmten Idealen nach und proklamierte - nach 1945 - sogar politische Programme. Als junger Geistlicher war er Mitglied der Sozialdemokratischen Partei in der Schweiz und half bei der Gründung von Gewerkschaften. Als deutscher Professor war er Mitglied der SPD, Vorkämpfer im Kirchenstreit gegen Hitler und schließlich Kritiker des Adenauerschen Deutschland.
Hinter dem Widerspruch von Barths theologischem Postulat und Barths politischem Auftreten verbirgt sich die Paradoxie seiner - wie im Grunde aller christlichen - Theologie, die Frage, wie der Wille des unerkennbaren Gottes in die Welt kommt - das Gott-Mensch-Problem:
- Wenn der Mensch von dem Willen des Christengottes nichts wissen kann, wenn (mit Barths Worten) Gott »ein freier
Gott« ist, der die Welt, wie auf Michelangelos berühmtem Gemälde, nur mit der Fingerspitze berührt, dann könnte der Mensch unmöglich Gottes Willen vollstrecken, sondern wäre berechtigt, guten Gewissens seinen eigenen (sündigen) Bestrebungen, nachzugehen.
- Andererseits: Wenn es irgendeine, noch so geringe Möglichkeit gäbe, Gottes Willen zu erforschen, müßte das bedeuten, daß Gott irgendeiner Gesetzlichkeit
unterworfen ist. Dann könnte der Mensch
Gott nicht nur erkennen, sondern auch in den Griff bekommen - sei es, indem er gute Werke tut und dadurch Gott verpflichtet, seinerseits gnädig zu sein, oder sei es, indem er etwa wie der deutsche Philosoph Hegel Gottes Wirken in der Geschichte rekonstruiert, daraus Gottes Verhalten für die Zukunft berechnet und ihn so zum Naturgesetz degradiert.
Barth begann seine Auseinandersetzung mit dem Gott-Mensch-Problem in den beiden ersten Auflagen des »Römerbriefes«, indem er radikal den Akzent auf Gott und dessen Unnahbarkeit setzte - indem er alles attackierte, was aussah, als bemächtige sich der Mensch des Christengottes.
Er griff die Pietisten an, weil sie glaubten, Gottes in einem frommen Gefühlsüberschwang innewerden zu können, die Mystiker, weil sie Gott in der heiligen Ekstase zu erobern versuchten, die Moralisten und Ethiker, weil sie sich Gottes gleichsam in einem Vertrag (gute Werke gegen göttliches Wohlwollen) versichern wollten.
Barth selbst blickte später mit Zweifeln auf diese seine jugendliche Bilderstürmerei zurück: »Wie wurde da aufgeräumt . . . Wie wurde da spöttisch gelacht . . .!«
Das spöttische Gelächter schepperte vor allem durch die Hallen der Kirche selbst. Schockierte der junge Barth in der zweiten Auflage des »Römerbriefes« alle Frommen und Quasi-Frommen mit einem dialektischen Salto mortale: »Der religiöse Mensch ist der Sünder im anschaulichsten Sinne des Wortes« - denn: Religion sei wesensnotwendig der menschliche Versuch eines Brückenschlages zu Gott und eben darum Anmaßung und sündhafte Grenzüberschreitung.
»Atheismus«, so der junge Barth, »ist das eigentliche Wesen der Kirche« - denn: Indem die Kirche, von Gott redend, die eigentliche Qualität Gottes, nämlich seine Unnahbarkeit, mißachte, sei sie mehr als jede andere weltliche Institution »atheistisch«.
Auf diesem Wege mußte Barth zwangsläufig zu schlechthin absurd widersprüchlichen Ergebnissen gelangen. Er wollte ja das Evangelium verkünden, so wie er es im Neuen Testament, insbesondere bei Paulus und Johannes, vorfand, und den Menschen nahebringen. Gerade dieses Nahebringen aber mußte ihn, den Interpreten, und den anderen, den Hörer, schuldig werden lassen. Nach dem Ausweg aus dem Dilemma gefragt, antwortete Barth: Es gibt diesen Ausweg nicht.
Der Mensch, der sich in Beziehung setzt zu Gott, tut, was er nicht lassen kann und doch nicht tun darf: »Er muß in jedem Augenblick am höchsten stehen und am tiefsten fallen.« Mitleidlos fuhr Barth fort: »Was anders können wir denn ehrlicherweise sein als eben - religiöse Menschen?«
Er forderte auf, »an den äußersten Rand dieser Möglichkeit« zu treten, wo der »Mensch am Ende ist«, nur noch »Hohlraum«, nur noch »Einschlagstrichter«, und so am nächsten der Anerkennung Gottes als Gott.
Damit war die Position bezogen, die Barth im Laufe seines Lebens zwar modifiziert, aber niemals geräumt hat. Von dieser
Basis aus bekämpfte er die bürgerliche evangelische Theologie, den Neo-Protestantismus, wie er sie mit Vorliebe noch heute nennt, und von dieser Basis aus zog er auch die Trennungslinie zwischen evangelischer und katholischer Dogmatik: Beiden wirft er im Grunde vor, daß sie den Menschen auf Kosten Gottes überhöhen - die Protestanten mit ihrer Kulturschwärmerei ebenso wie mit ihrer für Barth besonders unleidlichen »Innerlichkeit«, die Katholiken mit ihren Lehren von Gottes für die menschliche Vernunft erkennbarer Wirksamkeit in der natürlichen Welt.
Die protestantische Theologie des neunzehnten Jahrhunderts, eben jener Neo -Protestantismus, dessen Abendrot noch in den Hörsälen lag, die der Student Barth besuchte, hatte ihren eigentlichen Anfang und gleichzeitig einen ihrer glanzvollsten Höhepunkte im Jahre 1799, als Schleiermachers Büchlein »Reden über die Religion. An die Gebildeten unter ihren Verächtern« erschien.
Schon der Titel der epochemachender Schrift drückte aus, was den nächsten drei Theologen-Generationen als das Ziel allen Schreibtischfleißes vorschweben sollte: Man wünschte den Menschen der eben angebrochenen naturwissenschaftlichen Epoche das Christentum schmackhaft zu machen. Man unterwarf es deshalb den teils rationalen, teils sentimentalen Denkmaßstäben des Bürgerturns.
Dieses Christentum begriff schließlich wie etwa der deutsche Philosoph Hegel seinen Gott als eine Art philosophisches Weltprinzip, Jesus Christus als religiöses Genie oder als Religionsstifter neben vielen anderen, wie Buddha und Mohammed, die Bibel als Weltliteratur, den Glauben als glückhaftes religiöses Erlebnis, die Ethik als Vernunftmoral und die Kirche als Interessengemeinschaft der Frommen.
Was Barth an diesem Christentum empörte, war die Anmaßung der Menschen, Gott in ihrem Sinne zu interpretieren, ihn
- den Unnahbaren - zu einem Ebenbild
und Objekt ihrer Wissenschaft und Gefühle zu machen. »Ob denn«, fragte er, »die christliche Botschaft und der christliche Glaube überhaupt eine Sache sei, über die sich auf dem Boden und unter Voraussetzung der Gültigkeit eines allgemeinen Weltbildes verhandeln ließe?«
Die vorwurfsvolle Frage Barths zielte auf einen Sachverhalt, der 1933 schreckliche Wirklichkeit werden sollte: War man sich darüber einig, daß Gott einem »allgemeinen Weltbild« unterworfen war, so war offenkundig, daß Gott auch alle Veränderungen des »allgemeinen Weltbildes« mitmachen mußte. 1933 änderte sich in der Tat auf deutschem Boden das allgemeine Weltbild, es wurde nationalistisch, rassistisch und gewalttätig - und Gott dementsprechend ein SA-Mann.
Barth: »Wer etwa 1933 noch immer im Bann der Theologie des 19. Jahrhunderts stand, der war, wenn er nicht durch besondere Gnade bewahrt war, hoffnungslos verurteilt, dem Nationalsozialismus gegenüber und im Kirchenkampf auf irgendein falsches Pferd zu setzen.«
Der Kampf Barths gegen die bürgerliche Anmaßung, Gott interpretieren zu wollen, hatte indes auch persönliche Züge. Barth spürte nach dem Ersten Weltkrieg - angesichts des scheinbar unaufhaltsamen Vordringens der revolutionären Arbeiterschaft -, daß der Christengott durch das Bündnis mit dem Bürgertum in fataler Weise auf der Verliererseite engagiert sei. Und er, der junge Gottesknecht, hatte keineswegs Lust, auf der Verliererseite zu stehen. Er wollte mitreden - sei es als christlicher Sozialrevolutionär, sei es im Namen des unnahbaren Gottes, den er proklamierte und der dabei paradoxerweise eine etwas rötliche Färbung annahm.
Daß der Gotteseifer des jungen Barth einen sehr persönlichen, beinahe egozentrischen Beigeschmack hatte, beobachtete mit jesuitischer Logik und Psychologie schon Urs von Balthasar. Spottete der Jesuit: »Der 'Römerbrief' ist das, wogegen er (Barth) selbst am schärfsten wettert und blitzt: 'religiöse Genialität'. Sein Schreien 'Nicht ich! Sondern Gott!' lenkt alle Blicke auf ihn, statt auf Gott.«
In der Tat: Barths Gotteseifer und Barths weltlich-politische Begierde werden im Grunde nur durch die freilich faszinierende denkerische Wendigkeit und durch die geniale Persönlichkeit Barths zusammengehalten - eine Persönlichkeit, die sich von Anfang an in frappanten Aktionen Ausdruck verlieh.
Am 10. Mai 1886 in Basel als Sohn eines Theologie-Professors geboren, wuchs Barth in Bern zunächst in die saturierte Bürgerlichkeit der schweizerischen Variante des wilhelminisch - viktorianischen Zeitalters
hinein. Er studierte in Bern, Berlin, Tübingen und Marburg Theologie und wurde 1909 Hilfspfarrer der deutschsprachigen reformierten Gemeinde zu Genf Zwei Jahre später berief ihn das Industrie-Örtchen Safenwil im Kanton Aargau nahe der elsässischen Grenze in sein Pfarrhaus.
Das Elend des Safenwiler Industrie -Proletariats lieferte dem Tatendurst des jungen Pfarrers zum erstenmal ein Feld der Anwendung. Barth redete - wie er in einem Brief an seinen theologischen Freund Thurneysen schrieb - zum Christfest vor »sozialistischen Weihnachtsbäumen«, organisierte Gewerkschaften, debattierte mit Führern der schweizerischen Sozialdemokratie und feilschte im Namen der Safenwiler Arbeiterschaft mit Fabrikanten um höhere Löhne.
Indes, schon in den Briefen Barths an Thurneysen aus jener Zeit wird deutlich, daß er das ungewohnte Geschäft des Sozialreformers gleichsam auf Widerruf betrieb. Sozialistische Erfolge waren für ihn nur »kleine Realisierungen des Gottesreiches«, die zwar im Augenblick mit allem Ernst zu betreiben waren, jedoch vor Gott nur relativen Wert hatten.
1915 trat Barth in die Schweizer Sozialdemokratische Partei ein, aber schon vorher hatte sich seinem Gotteseifer ein größeres Betätigungsfeld angeboten: Deutschland.
Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatten fast alle namhaften deutschen Theologen den Krieg gegen Frankreich gutgeheißen. Empört schrieb Barth an Thurneysen: »Die absoluten Gedanken des Evangeliums werden einfach bis auf weiteres suspendiert, und unterdessen wird eine germanische Kampftheologie in Kraft gesetzt . . .«
Die Anmaßung der deutschen Theologie, den Christengott für die deutschen Kriegsziele in Anspruch zu nehmen, war Pulver für Barths Gottes-Artillerie. Barth heute: »Da schmetterte ich den Liberalen (das heißt vornehmlich: der bürgerlich-deutschen Theologie) erstmals meinen 'Römerbrief' ins Gesicht!«
Der Blitzstrahl des 'Römerbriefes« zündete in Deutschland, aber auch anderswo. Zumal das vordergründigste Element der Gedanken Barths - nämlich deren sozialrevolutionärer Aspekt - erregte die Begeisterung zahlloser junger Theologen. Es fanden sich Weggenossen und Gefolgsleute.
Indes, gerade die Lebensläufe und Entwicklungsgänge dieser Kampfgefährten in den kommenden Jahrzehnten der europäischen Geschichte demonstrierten, daß die rötlich-politische Färbung im Denken des jungen Barth letztlich nur ein sekundärer Aspekt war. Die meisten Kampfgefährten Barths in den zwanziger Jahren nahmen jedoch den sozialrevolutionären Aspekt für den letzten Ernst. Es blieb nicht aus, daß sie - nachdem Stalins Schreckensherrschaft den Sozialismus kompromittiert hatte - jedweder Sozialreform den Rücken kehrten und, wie Barth über einen von ihnen sagte, zu »hartgesotten westlichen Politikern« wurden.
Charakteristisch für diesen Verlauf der theologischen Revolution der zwanziger Jahre sind insbesondere die Werdegänge zweier amerikanischer Theologen deutscher Herkunft:
Paul Tillich - wie Barth 1886 geboren, aus der Niederlausitz stammend - erlebte im Ersten Weltkrieg als Militärgeistlicher der 7. Reservedivision in der Champagne -Schlacht seine Erweckung zum religiösen Sozialisten. Aus dem Kriege heimgekehrt, mischte er sich unter die sozialrevolutionären Intellektuellen des Berliner Kurfürstendamms und avancierte schnell zum außerordentlichen Professor für Theologie in Marburg und später zum ordentlichen Professor für religiöse Philosophie in Frankfurt am Main.
Als Oberhaupt einer religiös-sozialistischen Intellektuellengruppe (die allerdings bei der SPD nie sonderlich Anklang fand) begegnete er 1933 von vornherein der Mißbilligung von Hitlers Kultur-Gleichschaltern. Tillich verlor seine Professur, emigrierte nach den Vereinigten Staaten und ist dort inzwischen - als Harvard-Professor - zu so etwas wie einem Staatstheologen geworden. In den frostigsten Zeiten des Kalten Kriegs reichte er den Beamten der Washingtoner Ministerien geistige Stärkung in Gestalt von religionsphilosophischen Vorträgen.
Tillichs Theologie - besser: religiöse Philosophie - nimmt insofern Rücksicht auf die Bedürfnisse des mit islamischen, schintoistischen und buddhistischen Staaten verbündeten Amerika, als sie den Unterschied zwischen Christentum und anderen Religionen sanft verwischt. Gott heißt bei Tillich nicht mehr etwa Jahwe, sondern »Ground of Being«, und die Möglichkeit, daß der »Grund des Seins« nicht etwa nur in Gestalt Christi, sondern auch in anderer Gestalt Fleisch geworden sein könnte, wird jedenfalls offengelassen.
Ähnlich erging es dem anderen amerikanischen Theologen mit deutschem Namen: Reinhold Niebuhr. (Sein Großvater wanderte aus Deutschland nach Amerika aus.) Sechs Jahre jünger als Barth und Tillich, ließ er sich als junger Pfarrer in den Arbeitervierteln von Detroit vornehmlich von Barths sozialistischen Ideen anregen. Er wurde einer der namhaftesten Vertreter des sogenannten »sozial gospel": des sozialen Evangelismus. Innerhalb zahlreicher sozialreformerischer Vereine kämpft Niebuhr heute gegen kommunistische Tendenzen.
Tillich und Niebuhr haben sich mittlerweile in ein Bündnis mit den etablierten Mächten des Westens verstrickt, das dem einstigen Engagement des Christentums mit »Kaiser und Reich« zum Verwechseln ähnlich ist.
Allerdings vollzog auch Barth in den zwanziger und dreißiger Jahren eine Wendung. 1922, im Jahr des Erscheinens der zweiten - der revolutionären - Fassung des »Römerbriefes« wurde Barth von der Universität Göttingen auf eine außerordentliche Professur berufen. Deutschland, in das er bis dahin von der schweizerischen Grenze her nur hineingeredet hatte, wurde seine Heimat, er selbst deutscher Staatsangehöriger.
Hatte Barth bis zum »Römerbrief« das Verhältnis Gott-Mensch immer nur auf Gott hin interpretiert, so begann nun langsam eine Wendung zum Menschen hin. Barth heute: »Zuerst - im 'Römerbrief' schrieb ich über die Göttlichkeit Gottes. Aber als Göttinger Professor konnte ich meinen Studenten ja nicht bloß immer 'Gott, Gott, Gott!' sagen. Ich merkte, daß schließlich ja auch die Menschheit nicht bloß Sums ist, und ich begann, mehr und mehr über die Menschlichkeit Gottes nachzudenken.«
Barth hat den Weg vom Propheten der Göttlichkeit Gottes bis zum Prediger der Menschlichkeit Gottes bis heute nicht beendet. Aber ein ständig wachsender Bücherberg - »Die kirchliche Dogmatik«, deren erstes Buch er 1932 herausgab und deren 13. Buch er jetzt schreibt - kennzeichnet die Stationen dieses Weges.
Hatte Barth unter dem verhallenden Dröhnen der Kanonen des Ersten Weltkriegs Gott als den absolut »freien«, das hieß: als einen in keiner Weise dem Menschen verpflichteten Gott beschrieben, so variierte er im III. Band seiner »Dogmatik« das Gott-Mensch-Verhältnis mit einer dialektischen Wendung. Gott, hieß es nunmehr, sei »der von ihm geschaffenen Welt nicht nur fern, sondern auch nah, nicht nur frei ihr gegenüber, sondern (auch) gebunden an sie«.
Hatte den jungen Barth maßlos empört, daß die bürgerlichen Theologen des 19. Jahrhunderts dem Menschen bescheinigt hatten, er sei - als Geschöpf Gottes - in der Lage, sich ein allgemeines, verhältnismäßig zutreffendes Welt- und Gottesbild zu machen, so näherte sich der alternde Barth dieser Auffassung nun mehr und mehr.
Daß der Mensch unabhängig von der göttlichen-Offenbarung relativ gut sei, gestand Barth mit dem Satz: »Was hülfe dem Christen alles Wissen um Gottes Vergebung . . . wenn ihm etwa dieses Menschliche
fehlen sollte?« Diese kompliziert verschleiernde Frage Barths räumte dem Menschen offensichtlich eine eigene Würde vor und gegenüber Gott ein, die in der Theologie des jungen Barth keinen Platz gefunden hätte.
Freilich hielt Karl Barth - zu Geständnissen nach wie vor wenig geneigt - in tausend dunklen Wendungen daran fest, daß von einer irgendwie gearteten Gottähnlichkeit des Menschen (katholisch: Imago Dei - Abbild Gottes) keineswegs die Rede sein könne.
Das war und ist um so überraschender, als der alte Barth schließlich - im Jahr 1956 - zu dem für Barth-Jünger geradezu sensationellen Satze heimkehrte: »Die Seele des Menschen ist von Natur christlich.« Damit ließ sich nun die Charakterisierung des Menschen als eines bloßen Negativums, »als bloßen Hohlraums« (für die göttliche Gnade) schlechterdings nicht mehr vereinbaren.
Im Lichte der Barthschen Jugend-Theologie hatte das sozialreformerische Wirken des jungen Barth eigentlich keine theologische Legitimation. Der Gott, dem Barth damals huldigte, war viel zu jenseitig, als daß er, sich um die Erhöhung der Löhne in Safenwil hätte kümmern können.
Barths Alters-Theologie aber legitimiert gleichsam nachträglich die Gewerkschafts -Gründungen des jungen Barth, denn der Gott, den Barth heute anbetet, hat dem Menschen eine »von Natur christliche Seele« zugebilligt, vermöge der auch der sündige Mensch unabhängig von Gott-Vater jedenfalls relativ wertvolle »kleine Realisationen des Gottesreiches« schaffen kann.
Stand im Mittelpunkt der Jugend-Theologie Barths die majestätische Figur des geheimnisvollen, unnahbaren und allenfalls gnädigen Vater-Gottes, so bewegt sich Barths Alters-Theologie immer deutlicher auf den Gottes-Sohn Jesus Christus zu. Die »Christologie« ist die Antwort des zum Greis gereiften Barth auf das ihn zeit seines Lebens beschäftigende Gott-Mensch-Problem.
In Christus, so fand Barth nunmehr, war, sowohl historisch wie sinnbildlich, jener Widerspruch aufgelöst - zwischen
- Gott, dem Unnahbaren, dem »göttlichen Gott«, und
- Gott, dem Greifbaren, dem »menschlichen Gott«.
Denn Christus ist - gemäß christlicher Vorstellung - zugleich ausgelieferter, ganz und gar unterworfener Mensch und auferstandener, freier, ganz und gar souveräner Gott. In Jesus Christus begegnen sich die ewig geschiedenen Größen Gott und Mensch wie in einer Sanduhr. Christus ist die schmale Stelle, durch die Gott und Mensch zugleich getrennt und verbunden sind.
Schrieb Barth: »Ich hatte in diesen Jahren zu lernen, daß die christliche Lehre ausschließlich und folgerichtig in allen ihren Aussagen direkt oder indirekt Lehre von Jesus Christus als von dem uns gesagten lebendigen Wort Gottes sein muß ... Blicke ich von da aus zurück auf meine früheren Stadien, so kann ich mich jetzt wohl fragen, wie es wohl möglich war, daß ich das nicht viel früher gelernt und entsprechend gesagt habe.«
Indes, selbst die letzte - die »christologische« - Wendung in der Barthschen Theologie ist keine Patentlösung des Gott -Mensch-Problems. Barths Theologie mußte,
wie alle Gotteswissenschaft, bis auf den heutigen Tag »dialektisch« bleiben. Das heißt in diesem Falle schlicht: widersprüchlich.
Barths Lebenswerk - die »Dogmatik« ist denn auch keineswegs deswegen so einzigartig in der Geschichte der christlichen Theologie, weil darin etwa eine schlüssige Endlösung des Gott-Mensch-Problems geliefert wird. Vielmehr rührt der Rang der »Dogmatik« daher, daß sich in ihr die Erfahrungen eines höchst intensiv geführten Lebens verdichten. Die »Dogmatik« hat selbst Leben - und ist nicht bloß eine Anhäufung von Thesen und theologischen Spitzfindigkeiten. »Er schreibt gut«, begeisterte sich der Jesuit Urs von Balthasar über Barth, »weil er zwei Dinge vereint: Leidenschaft und Sachlichkeit.«
Barths »Dogmatik« ist die, gleichsam in Jahresringen, ständig neuformulierte Auseinandersetzung mit dem natürlichen Menschen, die dabei - erstaunlicherweise - von einer stets gleichen, beinahe heiter zu nennenden Anteilnahme getragen wird.
Die Themen dieses Werkes reichen von so diffizilen theologischen Fragen wie der der doppelten Natur Christi (seiner göttlichen und menschlichen Natur) bis zu ethischen Problemen der Erotik, der Tiertötung und der Strafjustiz.
Allerdings hat sich Barth zu der Erörterung ethischer Fragen erst spät entschlossen. Sie paßt in der Tat schlecht zu seiner theologischen Maxime, daß Gottes Wille unerkennbar sei. Die Barthsche Ethik ist denn auch dilatorisch im Ausdruck und bar jeder apodiktischen Weisung.
Sie steht damit in - einem logisch nicht aufzulösenden - Gegensatz zu Barths Auftreten als streitbarer Gottesmann in der Welt, wo er sich niemals gescheut hat, durch präzise Aussagen Konflikte auszulösen.
Unter den Konflikten, die Barth in seinem Leben heraufbeschworen hat, gibt es unumgängliche, wie den mit Hitler im Kirchenkampf, begreifliche, wie den theologischen Disput mit dem deutschen Gottesgelehrten Bultmann, und nahezu absurde, wie den mit seinem Landsmann und Kollegen Emil Brunner.
Brunner - er ist drei Jahre jünger als Barth - war 1924 ordentlicher Theologie -Professor in Zürich geworden. Im selben Jahr erschien aus seiner Feder eine scharfe Auseinandersetzung mit Schleiermacher, dessen Theologie unter Protestanten bis zu Barths »Römerbrief« als nahezu sakrosankt gegolten hatte. Brunner opponierte darin gegen Schleiermachers Formulierung, wonach der Mensch in einem Gefühl »schlechthinniger Abhängigkeit« Gottes innewerden könne.
Brunners Vorwurf gegen Schleiermacher stimmte mit Barths Auffassung überein, wonach der Mensch nicht einmal versuchen dürfe, sich Gottes zu bemächtigen - auch nicht in einem Aufschwung sentimentaler Hingabe an ihn. Barth und Brunner wurden theologisch Kampfgenossen. Der Bund dauerte jedoch nicht einmal zehn Jahre.
Anfang der dreißiger Jahre nahm Brunner - erst vorsichtig in Aufsätzen, dann deutlicher
in einer gezielten Broschüre - einige Abstriche an der Barthschen Jugend-These von der Unnahbarkeit Gottes vor. Immerhin, so schrieb Brunner, müsse die Kirche ja auftragsgemäß »von Gott reden«, was nur dann sinnvoll sei, wenn sich die Menschen Gott jedenfalls annähernd vorstellen könnten. Das aber werde eben dadurch möglich, daß »Gott uns zu seinem Bilde geschaffen hat ...«
Obwohl nun Barth zu jener Zeit - Anfang der dreißiger Jahre - theologisch schon auf einem ähnlichen Wege war, überfiel er den verdutzten Kollegen mit einer von Empörung kochenden Gegenschrift: »Nein! Antwort an Emil Brunner.« Brunner hatte behauptet, daß es doch das »allgemein menschliche, sittliche Bewußtsein« gebe und daß schließlich solchen Erscheinungen wie Staat, Rechtsbewußtsein und Ehe die Würde göttlicher Billigung zukomme.
Tobte Barth, der wenig später seinerseits dem Menschen so etwas wie eine
eigene Würde vor Gott zuerkannte: »Wer sich so zum großen Haufen geschlagen hat und mir tatsächlich so fern gerückt ist wie er, der soll mir die christliche Liebe antun, mir meine Isolierung zu lassen...«
Der Streit Barths mit Brunner ist nie mehr beigelegt worden, obgleich - zumindest heute - keine schwerwiegenden theologischen Differenzen mehr für ein so heftiges persönliches Zerwürfnis zu sehen sind. Diametral anders liefen die Dinge im Streite Barths gegen Bultmann: Hier sind die Differenzen evident, dagegen blieb der persönliche Bruch aus.
Bultmann begann seinen theologischen Alleingang - obwohl er zwei Jahre älter als Barth ist - erst im Jahre 1941. Der Marburger Religionshistoriker setzte bei der Beobachtung an, daß viele Behauptungen der christlichen Gotteslehre - etwa daß Christus leibhaftig aus dem Grabe auferstanden und zum Himmel gefahren ist oder daß Christus vom Heiligen Geist gezeugt und von einer Jungfrau geboren wurde - für den modernen Menschen unglaubwürdig seien.
Es komme also, so erklärte Bultmann im Kriegssommer 1941, darauf an, das
Christentum von solchem historischen Legendenwerk zu reinigen und dadurch das Eigentliche des Christentums freizulegen: Die Botschaft Gottes von der Erlösung des Menschen durch Jesus Christus.
Unter dem Stichwort »Entmythologisierung« wurde Bultmanns Bildersturm zu einer Sensation, die sogar außerhalb der Theologie zuweilen freilich recht komische Wellen schlug. Ausgerechnet der keineswegs als Christus-Gläubiger auftretende Basler Philosoph Karl Jaspers, einst ein oldenburgischer Schulkamerad Bultmanns, hielt dem Entmythologisierer entgegen, er zerstöre die religiösen Grundlagen der westlichen Gesellschaftsordnung - was im Grunde auf den fatalen Anwurf hinauslief: Zwar habe Bultmann eigentlich recht, aber man dürfe so etwas, um dem christlichen Abendland nicht zu schaden, doch nicht so laut sagen.
Karl Barth hielt lange mit seiner Kritik an Bultmann zurück. Erst 1952 erging Barths Bulle contra Bultmann: »Woher nehmen wir denn die Zuständigkeit..., mit Gottes Wort und Geist darüber rechten zu sollen, ob und inwiefern wir das Neue Testament verstehen...«
Der Standpunkt, den Barth in seinem Konflikt mit Bultmann einnahm, war durchaus konsequent: Wenn anhand menschlicher Kategorien entschieden werden sollte, was von dem offenbarten Wort Gottes übrigblieb, so konnte Barth darin nur die uralte und ewig neue Auflehnung gegen Gott erblicken: einen neuen Entwurf des eben vereitelten Attentats auf Gottes Souveränität.
Barths heftigster und glücklichster Streit war der mit den Deutschen Christen: der sogenannte Kirchenkampf.
Barth war von Göttingen, wo er im Jahre 1922 seine deutsche Professorenlaufbahn begann, über Münster auf eine ordentliche Theologie-Professur in Bonn gelangt, als Hitler am 30. Januar 1933 in Deutschland die Macht übernahm.
Schon fünf Monate später erschien Barths inzwischen zu historischer Berühmtheit gelangtes Heft »Theologische Existenz heute«, das dann zum Startzeichen
des Kirchenkampfes in Deutschland und damit auch zum eigentlichen Gründungsdokument der »Bekennenden Kirche« wurde. Die Schrift richtete sich vordergründig gegen Hitlers theologische Helfer, die Deutschen Christen unter Reichsbischof Müller, letztlich aber gegen Hitler und den Nationalsozialismus selbst.
Dabei hatte Barth - nach seinen eigenen Worten - darin »nichts Neues« gesagt, »sondern eben nur das, was zu sagen ich mich immer bemüht hatte: Daß wir neben Gott keine anderen Götter« (vor allem keinen germanischen Volksgott) »haben können, daß der Heilige Geist der Schrift genügt, um die Kirche in alle Wahrheit zu leiten, daß die Gnade Jesu Christi genügt; zur Vergebung unserer Sünden und zur Ordnung unseres Lebens.«
Am Vormittag des 27. November 1934 fanden die Studenten der theologischen Fakultät zu Bonn an der Tür des Hörsaals, in dem Barth zu lesen pflegte, einen Anschlag, wonach Karl Barth suspendiert sei.
Er hatte sich geweigert, einen vorbehaltlosen Eid auf den Führer und Reichskanzler Adolf Hitler zu leisten.
Schon vorher hatte eine Synode - die »Barmer Synode« - ein »Bekenntnis« formuliert, das den Geist Karl Barths atmete und das in den Worten der »Theologischen Existenz heute« gefaßt war: das »Barmer Bekenntnis«, bis heute die für alle »Barthianer« maßgebliche Richtschnur protestantischer Kirchenpolitik.
1935 wurde Barth Professor in Basel. Von hier aus wirkte er fortan als der geistig führende Kopf und eifernde Vorantreiber des Kirchenkampfes - auch dann noch, als ihm Hitler 1938 die deutschen Grenzen hatte sperren lassen.
Im selben Jahr - dem Jahr des deutschen Einmarsches in das Sudetengebiet - richtete Barth an den Prager Theologieprofessor Hromadka einen Brief, der selbst bei manchen Führern der Bekenntniskirche Unbehagen hervorrief. Barth schrieb, daß an der böhmischen Grenze nicht nur die Freiheit Europas, sondern auch die der christlichen Kirche verteidigt werde.
Immerhin war Barth bereit, selbst mit der Waffe in der Hand für seine Parolen einzustehen: Er wurde - als Hitlers Divisionen gen Frankreich rollten - schweizerischer Landsturm-Soldat.
Als Theologe hatte Barth die Kritik an seinem Hromadka-Brief schon 1938 mit einer Prophezeiung und einer spöttischen Frage beantwortet: »Hitler wird gewiß einmal (vielleicht schon bald) nicht mehr da sein . .. Werde ich dann meinen freundlichen und unfreundlichen Beurteilern irgendeine andere Überraschung bereiten?«
Tatsächlich: Hitler war kaum tot, als Barth neue »Überraschungen« bereitete. Er blieb der unbequeme Störenfried.
Während des Krieges hatten sich innerhalb der evangelischen Kirchen Deutschlands Pastoren und Laien-Vereinigungen formiert, die - gestützt auf Barths Theologie und Barths kämpferischen Zuspruch
- die Kerntruppe des protestantischen Widerstands gegen Hitler bildeten. Sie nannten sich »Bruderschaften«, und der Dahlemer Pastor, Martin Niemöller - von, Hitler in Konzentrationslagern festgehalten - war ihr Hauptsprecher, Heros und Märtyrer.
In den Bruderschaften und in Niemöller ("einer der Besten unter ihnen") sah und sieht Barth noch heute die eigentlichen Widerstandskämpfer gegen Hitler (während er den übrigen kirchlichen Widerstand nur mit einem Fragezeichen gelten läßt) und die einzigen Repräsentanten eines zukunftsträchtigen Christentums in Deutschland.
Der unter Hitler aufgelöste Bruderrat der Bekennenden Kirche rekonstituierte sich im Spätsommer 1945 in Frankfurt am Main. Barth reiste zum erstenmal in das nachhitlerische Deutschland, um an der Bruderratstagung und anschließend an der ersten Bischofskonferenz nach dem Kriege teilzunehmen, die in Treysa stattfand. Nach Basel zurückgekehrt, gab Barth seine Eindrücke von den entnazifizierten Christen Deutschlands wieder.
»Wohl hat«, schrieb Barth in der Zürcher »Weltwoche«, »eine nicht unbedeutende mutige Schar in der Opposition durchgehalten. Aber auch der Satte und der Laue hat die Zeit der Bedrängnis unter dem Dach des Kompromisses überlebt: der deutsche Pfaffe ist nicht tot.« Dieser Kommentar war Barths erste Nachkriegs-»Überraschung«.
In demselben Artikel wurde auch klar, wo Barth künftig seinen Kritikern Angriffsflächen
bieten werde: »Es ist übrigens ein sehr bezeichnender Wandel in der Haltung der Kommunisten gegenüber der Kirche wahrzunehmen: die Tatsache, daß sie zusammen mit deutschen Pfarrern im Konzentrationslager saßen, hat bei allem Festhalten am alten Atheismus zu einer Art Verständigung mit der Kirche geführt, so daß deren Verhältnis zur KP viel besser ist als etwa zu den Sozialdemokraten und den bürgerlichen Parteien.«
Neben dieser Wunschvorstellung einer christlich-kommunistischen Verständigung schwebte Barth vor, Deutschland möge sich nach Hitlers Debakel als ein ausgleichender Faktor zwischen Ost und West etablieren. Barth noch heute: ... als ein Deutschland, wie es etwa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestand.«
Schrieb Barth 1945: »Sie (die Deutschen) verstehen nicht, daß der Nationalsozialismus nichts anderes war als die letzte Konsequenz der Bismarckschen Politik...« - womit Barth nahe an die inzwischen von dem föderalistischen Ideologen des »Rheinischen Merkur«, Paul Wilhelm Wenger; vertretene Konzeption herankam.
Nüchtern erkannte Barth bereits 1945 den Pseudo-Charakter der damals in Deutschland umtreibenden Religiosität. »Der religiöse Deutsche«, spottete er, »neigt dazu, der politischen Verantwortung in die Tiefe der Religiosität zu entwischen. Es ist bezeichnend, daß an den von mir besuchten Tagungen von den Theologen viel von Dämonen gesprochen wurde. 'Wir haben dem Satan in die Augen geblickt.' Solche Sätze wurden fast mit Enthusiasmus gesprochen . . . Schließlich konnte ich nicht mehr schweigen. 'Seid ihr damit nicht im Begriffe, in ein magisches Weltbild hineinzurutschen?' fragte ich meine Freunde. 'Warum redet ihr immer nur von Dämonen? Warum sagt ihr nicht konkret: Wir sind politische Narren gewesen?"'
Dem Donnergrollen des Barthschen Nonkonformismus folgte schließlich das Gewitter: Im Frühjahr 1948 besuchte Barth seinen Freund, den ungarischen Staatspräsidenten Tildy, einen reformierten Pfarrer. Das war zu einem Zeitpunkt, als die Kirchen Ungarns - die lutherische, die reformierte und die katholische - mit dem Regime des damals noch allmächtigen Matyas Rakosi in einem heftigen Konflikt über Erziehungsfragen standen.
Am Ende seines Besuches schrieb Barth in der ungarischen kommunistischen Zeitung »Szabad Nep«, daß die kommunistische Staatsführung auch vom christlichen Standpunkt aus in großen Zügen zu bejahen sei. Die Bischöfe der lutherischen und der reformierten Kirchen Ungarns traten daraufhin zurück. Der Weg für die kommunistische Erziehungspolitik wurde frei: Im Westen aber brach über Barth eine Welle der Empörung herein.
1950 griff Barth in die Debatte über die deutsche Remilitarisierung ein. Er schrieb in einem Brief an den Westberliner Pfarrer Wolf-Dieter Zimmermann:
- »Ich bringe nämlich einfach die Unverfrorenheit nicht auf, dem deutschen Volk, dessen Jugend sich nun in zwei Kriegen weißgeblutet hat wie die keines anderen, dieses Opfer ein drittes Mal zuzumuten . .
- »Es scheint mir moralisch undurchführbar, ein Volk, dem man nun seit fünf Jahren alles militärische Wesen bis hin zu den Bleisoldaten seiner Büblein konsequent auszutreiben versucht hat, nun auf einmal doch wieder mit allen möglichen christlichen und politischen Argumenten dahin belehren zu wollen, daß es sein Heil in der Vorbereitung eines weiteren Krieges zu suchen habe ...«
Kein Wunder, daß sich der tapfere Barth
- den seine Studenten meistens »Väterchen«,
manchmal aber auch »Karl den Großen« nennen - zuweilen in den Fäden der Politik verhedderte. 1952 unterlief ihm in einer halböffentlichen Debatte die Bemerkung, daß »auch unsere braven Schweizer Zeitungen voll Lügen« seien. Mit professoral-kriminalistischer Findigkeit fügte Barth hinzu: »Man spürt etwas dahinter, vielleicht sind es Dollars?«
Die meisten eidgenössischen Redaktionen übersahen generös den Lapsus des Basler Jeremias, kleinere Journale indes, wie etwa die »Appenzeller Zeitung«, wollten von Barth wissen, wo es die Dollars gebe, und Barth mußte revozieren: »Wenn ich tatsächlich etwas Derartiges gebrummt haben sollte, so kann ich damit nicht an von Amerika gekaufte Zeitungen gedacht haben.«
Solche und andere Unfälle hielten Barth freilich nicht ab, auf politischem Gebiet, zumal auf dem weiten Feld deutscher Politik, stets mit guten Ratschlägen zur Hand
zu sein. 1953 schlug er vor, man möge »durch Wiedervereinigung und Neutralisierung Deutschlands« zwischen Ost und West eine »solide Brücke« errichten.
1954 hielt Barth in Wiesbaden aus Anlaß des sogenannten Volkstrauertags eine Rede. Mit einer - aus Theologen-Munde immerhin frappierenden - Wendung polemisierte er gegen die Sonntags-Parolen des Wirtschaftswunder-Staates. »Haben Sie«, fragte er beinahe höhnisch, »von mir als einem Theologen erwartet, daß ich Sie in dieser Stunde zu irgendeiner inneren Erneuerung, aufrufen werde? Ich halte es vielmehr für nötig, Sie gerade als Theologe vor dieser Parole auf die Hut zu setzen.
Sie krankt an tiefer Unverantwortlichkeit und Unverbindlichkeit . . . Was uns heute not tut, sind nicht weitere Verinnerlichungen und Vergeistigungen, sondern kaltblütige Willensbildung und Aktion...«
Was Barth damals unter »Willensbildung« und »Aktion« verstand, sagte er »ungeschützt« und »vereinfachend«. Er forderte Widerstand gegen
- »die Wiederaufrichtung eines deutschen
Obrigkeitstaates«,
- »die Wiederbewaffnung Westdeutschlands
im Rahmen einer antiöstlichen Militärallianz« und gegen
- »die Aufspaltung Deutschlands«.
In Bonn begann man Barth ob seiner Opposition gegen die deutsche Wiederbewaffnung zu mißbilligen. Als im vorigen Jahr die westdeutschen Buchhändler erwogen, den »Friedenspreis des deutschen Buchhandels 1958« an Karl Barth zu vergeben, erklärte der damalige Bundespräsident Heuss einem Verleger: »Ich selber werde dann nicht kommen .« Den Friedenspreis erhielt Barths Basler Kollege, der Philosoph Karl Jaspers. Schrieb Heuss an einen Freund Barths über dessen, Anti -Remilitarisierungs-Reden: »Es will mir nicht in den Kopf, auch theologisch nicht, daß das, was südlich Riehen, dem Basler Grenzort zum Markgräfler-Land, Tugend
ist, nördlich davon Laster und Hybris sein soll.«
Barth ist kein Anhänger des Kommunismus, aber ihn verbindet mit den marxistischen Atheisten eine letztlich von ihm selbst kaum verhehlte taktische Allianz: Indem der Kommunismus die Existenz Gottes überhaupt leugnet, verzichtet er gleichzeitig und notwendigerweise darauf, zu behaupten, die von ihm gepredigte proletarische Gesellschaftsordnung sei Gottes Wille und Gottes Werk.
Im Unterschied etwa zur westdeutschen »Christlichen Demokratie«, wo Gottes Name laufend für die Rechtfertigung höchst weltlicher Interessen-Verhältnisse, wie etwa der bestehenden Besitzverteilung, in Anspruch genommen wird, kann diese - nach Barth schlimmste - Häresie im kommunistischen Bereich schon deswegen nicht stattfinden, weil es dort keinen amtlich anerkannten Gott gibt.
Barths politische Äußerungen sind apodiktisch scharf, wo sie sich mit westlichen Institutionen befassen, die behaupten, sie seien durch Gott legitimiert. Sein Zorn gilt daher vor allem der Christdemokratie.
Nur milde ablehnend - aber auch nur milde bejahend - ist Barth dagegen, wenn er sich zu politischen Ordnungen und Unternehmen äußert, die sich deutlich und ohne Berufung auf Gott als weltlich zu erkennen, geben. Das gilt auch für den Kommunismus.
Mit positiven politischen Werturteilen ist Barth freilich seit seiner Jugendzeit, in der er Parteibuch-Genosse war, immer sparsamer geworden.
Sein politischer Werdegang erinnert deshalb im großen und ganzen etwas an den Leidensweg der sogenannten heimatlosen Linken: radikal in der Kritik an den restaurierten Restbeständen der feudalistisch-bürgerlichen Gesellschaftsordnung, eher bedrückt denn empört ablehnend gegenüber dem Kommunismus und kaum mehr erkennbar in seinem positiven politischen Wollen - es sei denn dem, an Gott zu glauben.
In der Tat: Der Glaube an Gott war und ist sowohl für den Theologen als auch für den politischen Menschen Barth der letztlich alleingültige Aspekt, unter dem die Welt zu betrachten ist. So rät er den Christen in der DDR hinsichtlich ihrer politischen Bedruckung durch die kommunistischen Behörden im Grunde lediglich, immerfort »nach Jerusalem zu blicken«.
Alle anderen Sicherungen des Christentums im sowjetischen Machtbereich sind für ihn zweitrangig, ja, im Grunde ärgerlich. Sein Jugend-Standpunkt, daß die Kirche atheistischer sei denn jede andere menschliche Einrichtung, schlug mit nahezu unverminderter Wucht durch, als er im vorigen Jahr in seiner Broschüre »Brief an einen Pfarrer in der DDR« höhnte:
»Was haben wir (früher) nicht alles für selbstverständlich notwendig gehalten! Die Existenz einer von der übrigen Gesellschaft und besonders vom Staat garantierten oder doch respektierten oder mindestens tolerierten, inmitten des sozialen Gefüges an ihrem Ort so oder so wohlaufgehobenen Kirche! Ihren Sonntag als anerkannten Ruhe- und Feiertag und ihre hohen Festtage, die sich so oder so (man frage nicht wie?) auch im Leben des ganzen Volkes abzeichneten! Kindertaufe, Konfirmation, Trauung und Beerdigung als die christliche Markierung des Rahmens und der Existenz des Herrn Jedermann, in deren Vollzug die Kirche sich ihrer offenkundigen Unentbehrlichkeit immer wieder trösten mochte!«
Stellte Barth die spöttische Frage: »Die Welt als solche sei verpflichtet, der
Christenheit das Recht auf jene Existenzform in ihrer Mitte zuzubilligen?« - und antwortete mit offenkundig grimmiger Genugtuung: »Was bei Ihnen in der DDR und wohl auch in den anderen marxistisch orientierten Ländern kommt, das scheint ein dicker Strich durch diese Rechnung zu sein. Er ist wohl auch bei uns im Westen im Kommen.«
Für Barth sind traditionelle kirchliche Positionen wie die Konfirmation, die kirchliche Trauung, ja der »christliche Staat« schlechthin kaum der Verteidigung wert. Man muß annehmen, daß er einst gegen die Trauung durch Hitlers Kreisleiter ebensowenig etwas einzuwenden hatte wie heute gegen die Eheweihe durch Ulbrichts Bezirkssekretäre.
Nach Barth zieht eine Welt herauf, in der jeder einzelne Christ allein auf seinen Glauben an seinen Gott gestellt, gleichsam als einsamer Partisan Christi oder allenfalls in gläubigen Gottes-Maquis organisiert, den Mitmenschen eine Mahnung an die Hinfälligkeit ihrer Unternehmungen und Einrichtungen sein soll.
Da den Christen Barth eigentlich immer nur die Verletzung der Majestät seines Gottes empört, fällt es ihm verhältnismäßig leicht, sich in seinen Ratschlägen für die Christen in der DDR eines vergleichsweise unverbindlichen, mitunter schwebenden und dilatorischen Tons zu bedienen.
Im vorigen Jahr empfahl Barth den sowjetzonalen Pfarrern, sie sollten ruhig den von Pankow geforderten Loyalitäts-Eid leisten. Jüngst, als er erneut mit dieser Frage konfrontiert wurde, antwortete Barth: Er habe wohl damals (als er den Loyalitäts-Eid empfahl) »etwas kurz geschossen«.
Daß möglicherweise inzwischen einige DDR-Pfarrer im Vertrauen auf seine - Barths - Empfehlung hin den Eid geleistet Laben und sich nun, nach der Zurücknahme dieser Empfehlung, in einer peinlichen Situation befinden könnten, würde Barth kaum als Einwand gelten lassen. Seiner Theologie zufolge gibt es keine kirchliche
Autorität in ethischen und schon gar nicht in politischen Fragen.
Auch ihm selbst - Barth - kommt insoweit keine Autorität zu, und seine Empfehlung, den Eid zu leisten, konnte mithin von vornherein nur als eine Mahnung zu ernsthafter Prüfung dieser Sache verstanden werden. Deswegen kann Barth Angelegenheiten, die - wie etwa der DDR-Eid - im weltlichen Denken einen immerhin wichtigen Platz einnehmen, mit einer gewissen Nonchalance behandeln.
Kirchliche oder schlechthin brüderliche Mahnungen von Mensch zu Mensch sollen denn auch - so Barth - den Angesprochenen letztlich nur »daran erinnern, daß er als Mensch Gottes mit dem Gott des Menschen konfrontiert ist«.
Das Wagnis solcher Theologie ist, daß sie den Christenmenschen in der kommunistischen Welt völlig allein - oder korrekter: allein mit seinem Gott - läßt: Während dem Christen in der westlichen Welt vom Barthschen Standort aus wenigstens noch gesagt werden kann, daß etwa »Christdemokratie« häretische Anmaßung ist, kann dem Christen im Osten nur noch mahnend, mitbetend und fragend Hilfestellung bei der Lösung der Probleme seiner politischen Lebensführung geleistet werden. Keineswegs aber sind konkrete Anweisungen und nur in Sonderfällen gewissen belastende Anti-Markierungen zulässig.
Den Christen in der DDR möchte Barth »am liebsten bloß ins Ohr« sagen, daß er - Barth - zum kommunistischen Regime ebensowenig ja sagen kann »wie zu den Mächten und Gewalten, die hier über uns sind«. Ja, manchmal hat es den Anschein, als ob Barth - insgeheim - sich nichts sehnlicher wünschte als: der Kommunismus in der DDR möge sich recht radikal gebärden, auch und gerade in seinen atheistischen Anstrengungen, auch und gerade gegen die Kirche:
»Denn nein, der Fortgang und Sieg der Sache Gottes, der die christliche Gemeinde mit ihrem Zeugnis dienen darf, ist nicht ausgerechnet an diese ihre (der Kirche) bisherige Gestalt gebunden. Ja, die Stunde könnte kommen oder schon anbrechen, wo Gott dieser ihrer Gestalt - wegen ihrer immerhin greifbaren Unwahrhaftigkeit - zu unserem Leidwesen, aber zu seiner Ehre
und zum Heil der Menschen ein Ende machen will. Ja, da möchte es dann geboten sein, uns von der Bindung an jene Existenzform, auch indem sie noch Bestand haben mag, zunächst innerlich zu lösen - und positiv: uns unter Voraussetzung, daß sie einmal ganz in Wegfall kommen möchte, nach neuen Wagnissen auf neuen Wegen umzusehen.«
Barths Gegner haben ihm denn auch zum Vorwurf gemacht, daß er mit dem Kommunismus eine Art von flagellantischem Bündnis eingegangen sei - indem er die kommunistische Herrschaft über die Christen des Ostblocks als Gottesgeißel geradezu bejahe. Und es hat darüber hinaus nicht an Anklagen gefehlt, daß man einen solchen Opfergang der Christen im Osten nicht vom sicheren Basler Port aus predigen dürfe.
Vorwürfe dieser Art sind für Karl Barth freilich nicht neu. Als im Herbst 1956 sowjetische Panzerdivisionen den Aufstand der Ungarn niederkartätschten, richtete der amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr an Barth die Frage, warum er nicht seine Stimme gegen diesen Blutterror erhebe: »Why ist Karl Barth silent about Hungary?« (Warum schweigt Karl Barth über Ungarn?).
Erst rund zwei Jahre später antwortete Barth: »Es war mit Händen zu greifen, daß das keine echte Frage war. Sie kam nicht aus der praktischen Bedrängnis eines Christen, der mit einem anderen Austausch und Gemeinschaft sucht, sondern aus der sicheren Burg eines hart gesottenen westlichen Politikers, der, wie Politiker es zu tun pflegen, einen Gegner aufs Glatteis führen, mich entweder zu einem Bekenntnis zu seinem primitiven Antikommunismus zwingen oder mich als heimlichen Prokommunisten entlarven und mich so oder so auch als Theologen diskreditieren wollte.«
Unbestreitbar ist indes, daß Karl Barths Wandlung vom temperamentvollen Freiheitskämpfer gegen wilhelminisches Gottesgnadentum und gegen Hitlers Gewaltherrschaft zum milden Kritiker an Stalin, Chruschtschow und Ulbricht die Weltöffentlichkeit zunächst grenzenlos verblüffte.
In einem »Parergon« (= Neben dem Werk) antwortete Barth im Herbst 1948 auf den Vorwurf, er habe sich durch seine Ungarnreise zum Kommunismus bekannt: »Ich kann darüber nur lachen, bin aber allerdings der Meinung, daß der Kommunismus jedenfalls nur durch eine 'bessere Gerechtigkeit' der westlichen Welt und nicht durch allzu billige Negationen, in denen sich die westliche Angst jetzt Luft macht, abzuwehren sein wird . . . Zu diesem 'christlichen Abendland' kann ich mich eben auch nicht bekennen, sondern denke, daß der christliche Ort über dem heutigen Gegensatz von Ost und West zu suchen ist. Wir werden ja sehen, wer auf die Länge recht behalten wird. Und im schlimmsten Fall werde ich es mir gefallen lassen, Unrecht gehabt zu haben, indem ich diesmal nun gerade nicht sofort zum Kampf aufrufen wollte!«
Die heitere Noblesse, mit der Barth im Konflikt über die Ungarn-Reise seinen Gegnern zugestand, er - Barth - könne sich auch irren, korrespondiert mit einer
scheinbar schwermütigen Einsicht in das Einzelgängerische seines Wesens. Schrieb Barth im Jahre 1938 in einem anderen »Parergon« (über die zehn Lebensjahre von 1928 bis 1938): »Es ist mir aber in diesem Jahrzehnt sehr deutlich vor Augen gestellt worden, daß meiner Lebensarbeit eine gewisse sammelnde Kraft zu fehlen, ja, daß ihr geradezu eine gewissermaßen explosive oder jedenfalls zentrifugale Wirkung eigen zu sein scheint.«
Dieses Bekenntnis zu der Fragwürdigkeit seines eigenen Lebenswerks ist jedoch letztlich nicht wegen des darin zum Ausdruck kommenden Pessimismus, sondern, umgekehrt, vor allem durch die geradezu provozierende Offenheit bemerkenswert, mit der Barth sich darin - sträflich leichtsinnig - der Kritik und dem Hohn seiner Gegner preisgibt. Tatsächlich hat es damals im Freundeskreis Barths nicht an Mahnern gefehlt, die ihn davor warnten, sich selbst zu attestieren, daß ihm »die sammelnde Kraft« fehle, daß er »explosiv« und »zentrifugal« wirke.
Indes, für den Menschen wie für den Theologen Barth hat alles »eschöpfliche« nur relativen Wert - Volk, Staat, Gesellschaft, Familie, ja, seine eigene Natur, ja, seine eigene Theologie. Wie Barth über politische Themen meistens mit einem Unterton von Nonchalance spricht, so haftet auch seinen Berichten über sich selbst eine Färbung unernster Distanziertheit an - beinahe so, als ob er sich über Karl Barth lustig machen wolle.
Er sieht eben alles, so auch sich selbst und seine inzwischen auf zwölf vollendete Bücher (zu je rund 800 großen Druckseiten) gediehene »Dogmatik«, unter dem überdimensionierten Schatten seines Gottes und nimmt auch dieses, sein eigenes Büchergebirge, sozusagen nur auf Zeit und zeitweilig ernst.
Wenn man ihn etwa nach den Gründen seiner Opposition gegen die deutsche Remilitarisierung fragt, macht es ihm offenkundig Spaß, in einer paradoxen Wendung zunächst einmal seine eigene Passion für das Militärische darzustellen - und zugleich auf eine spielerische Art zu relativieren. So berichtet er leicht persiflierend, wie er als Berner Bürgerssohn um die Jahrhundertwende
freiwillig eine Art von vormilitärischer Waffenausbildung mitgemacht und später als Student im schmucken Rock einer (allerdings keine Mensuren schlagenden) Verbindung geprunkt habe.
Besonders gern, aber wiederum nicht ohne spöttischen Anflug, verweilt er bei der Tatsache, daß sein jugendlicher Waffendienst ihm noch rund 35 Jahre später zugute kam: Auf jene Ausbildung pochend, vermochte er im Jahre 1940 die schweizerische Bundeswehr davon zu überzeugen, daß er - der damals 54jährige - ein tüchtiger Kämpfer gegen den erwarteten hitlerischen Einmarsch sein werde. Man akzeptierte seine Freiwilligen-Meldung, und der Basler Gottesgelehrte zog als Soldat der V. Bewachungskompanie, einer Art schweizerischer Volkssturm-Einheit, im Jura auf Vorposten.
Einmal, in den zwanziger Jahren - Barth war damals deutscher Professor -, machte man ihm in einer Berliner Theologengesellschaft den Vorwurf, er verstehe nichts von Preußen. Barth antwortete mit der Aufforderung, irgendeiner der Anwesenden möge seine preußische Gesinnung dokumentieren, indem er die Geschichte der Schlacht von Königgratz erzähle. Barth heute: »Keiner konnte es, aber ich hätte es gekonnt!« (Die Bemerkung des Besuchers, in jener Schlacht habe der Vater des gegenwärtigen deutschen Bundeskanzlers Adenauer Wunder der Tapferkeit vollbracht, scheint allerdings den Spaß des greisen Basler Theologen an Preußens Gloria zu mindern.)
Aber Barths Kokettieren mit Militär -Reminiszenzen ist doch mehr als bloßer Scherz. Barths Witz und Humor haben stets die Tendenz, irgendeine etablierte und allgemein für selbstverständlich genommene Vorstellung durch Lachen zu erschüttern.
Von einem Pfarrer der Sowjetzone gefragt, ob man heute berechtigt sei, den sowjetischen Kommunismus als den in der Bibel angekündigten »Antichrist« aufzufassen, antwortete Barth mit einem hintergründigen Paradoxon: Er glaube eigentlich nicht, daß der Antichrist so primitiv sei, in irgendeiner Schreckgestalt wie etwa der Hitlers zu erscheinen, eher meine er, »daß der Antichrist wie Thorvaldsens berühmte Christus-Figur aussehen möchte« - also wie die Personifizierung der sentimental verkorksten Christus-Vorstellung, die sich das Bürgertum des 19. Jahrhunderts schuf und die teilweise noch heute im Schwange ist.
Frappierend paradox wie Barth als Gesellschafter zuweilen ist, haftet ihm auch als Theologe etwas Mehrdimensionales und schwer Greifbares an. Seine Liebe hat oft die Färbung von Aversion und sein Haß oft den Beigeschmack einer schlecht verheimlichten Zuneigung.
Barth, stets nach einem leibhaftigen Gegner Ausschau haltend, hat sich, nachdem er in den zwanziger Jahren der bürgerlichen Theologie des 19. Jahrhunderts den Todesstoß versetzt hatte, mehr und mehr der katholischen Theologie zugewandt - als seinem liebsten Feind. Schreibt er 1938 über den Katholizismus: »Hier ist kirchliche Substanz ... entstellte, verdorbene Substanz
vielleicht, aber doch nicht verlorene Substanz.«
Und umgekehrt: Während die protestantische Theologie heute kaum mehr gegen Barth aufzumucken wagt (selbst seine evangelischen Gegner schreiben »barthianisch"), hat die katholische Theologie ihre besten Köpfe mobilisiert, die dann je nach Fähigkeit und Charakter entweder gegen Barths Einfluß Dämme errichten oder aber versuchen, Barths Gotteswissenschaft für die Römische Kirche zu vereinnahmen.
So hat neben dem Jesuiten Balthasar - der in Barth den Theologen sieht, der den Protestantismus vollendet und damit, wie man Urs von Balthasar wohl verstehen muß, auf die gemeinsame überkonfessionelle Grundlinie zurückgeführt hat - unter anderen der Jesuit Erich Przywara seine Arbeitskraft der Bewältigung Barths gewidmet: Przywara wurde der katholische Anti-Barth.
Auch dieser letzte theologische Konflikt Barths bezieht sich auf das Grundproblem aller Barthschen Theologie, auf das Verhältnis Gott-Mensch.
Seit je hat die katholische Theologie die Frage, wie Gottes Wille in der Welt verständlich werde, damit beantwortet, daß der Mensch das - freilich unvollkommene und durch den Sündenfall vollends beschädigte - Ebenbild Gottes (eine »Imago Dei") sei. Die niemals ganz verlorene Gottes - Ebenbildlichkeit befähige den Menschen, Gott zu begreifen und sich ergreifen zu lassen.
Erich Przywara formulierte - in der Auseinandersetzung mit Karl Barth - diese Lehre neu und dozierte, daß es kraft der Schöpfung eine Analogie zwischen
Gott und dem Geschaffenen (analogia entis) gebe. Barth hat sich mit Przywaras »analogia entis« ein Jahrzehnt und über tausend Oktavseiten hinweg auseinandergesetzt und schließlich eine nur noch für dialektische Feinschmecker erkennbare Grenzlinie gezogen, die viel einstmals mit Verve verteidigtes Terrain stillschweigend preisgibt. Barths Antwort an seinen jesuitischen Gegner besagt etwa dies: Der Mensch könne in einem Glaubensakt, der allerdings nur momentan sei, Gott analog werden und in diesem je und je aktuellen Glaubenserlebnis den Willen Gottes erfassen. Barth nannte diese seine Lehre »analogia fidei«
-Analogie im Glauben.
Schrieb Barth - auf Przywara gezielt über den Satz »Solum fide intelligimus« (allein im Glauben verstehen wir): »Man kann ruhig sagen: wenn wir über den Sinn dieser drei Worte einig wären, dann gäbe es keine Kirchenspaltung, denn über alles - ich sage mit Bedacht über alles Andere, über Papsttum und Sakrament, über Dogma und Ritus würde sich von da aus reden lassen.«
Allein, die Chance, daß Protestanten und Katholiken über die drei Worte »Solum fide intelligimus« sich einigen könnten, ist gering. Denn: Indem Barth den christlichen Glauben in eine Summe momentaner, einzelmenschlicher Begegnungen mit seinem Gott auflöst, entzieht er diesen Glauben jeder mitmenschlichen, jeder priesterlichen und kirchlichen Kontrolle: Die katholische Kirche jedenfalls dürfte zu solcher indirekten Verzichtleistung die nächsten hundert Jahre auch nicht bereit sein.
Was die im Glauben vollziehbare »Begegnung mit Gott« praktisch bedeutet, wird in der »Dogmatik« Barths an den Stellen offenbar, wo dramatisch zugespitzte Situationen des menschlichen Lebens erörtert werden - etwa der Tyrannenmord.
Barth, der ein Gegner der Todesstrafe (außer in besonders gemeinschaftsgefährdenden Fällen des Landesverrats im Kriege) ist, billigt diese »wunderliche Form von Todesstrafe« - eben den Tyrannenmord -, sofern »ein kategorischer Befehl Gottes zu jener Tat« vorliegt. Ausdrücklich bemerkt Barth, daß der Tyrannenmörder im Augenblick des Entschlusses zur Tat »allein mit seinem Gewissen« sei.
Der deutsche Theologe Walter Künneth kreidete dem Basler Gottesgelehrten dafür an: ». . . besagt die Berufung K. Barths auf die 'innere Stimme Gottes' keine biblisch-theologische Begründung, sondern eine gefährliche Tuchfühlung mit einem Subjektivismus, der gegen schwarmgeistige Illumination (innere Erleuchtung) nicht geschützt ist.«
In der Tat: Nicht zu bezweifeln ist, daß Karl Barth - dem Menschen wie dem Theologen - etwas »Subjektives« anhaftet. Im Grunde ist er ein Einsamer aus Prinzip, wie er denn auch in der Einleitung zu der »Dogmatik« seinen Lesern empfahl, sie möchten ihn weniger »als Exponenten einer Bewegung, Richtung oder Schule«, sondern als »Alleingänger« auffassen.
Aus dem militanten Auftreten Barths gegen seine zahllosen Gegner - gegen evangelische und katholische Theologen, gegen Wilhelm II., Hitler und Adenauer - entstand für die deutsche wie auch für die Weltöffentlichkeit beinahe zwangsläufig die Vorstellung, der Basler Gottesmann sei auch persönlich ein höchst streitbarer und autoritär auftretender Herr. Indes, ähnlich wie es in der Theologie Barths kaum einen Gedankengang gibt, der nicht durch einen konträren in Frage gestellt ist, so wirkt auch Barths Charakterbild wie ein modernes Gemälde, in dem alle festen Linien verwackelt und alle gewohnten Maßstäbe aufgehoben sind. Der einzige Festpunkt im Psychogramm Barths ist - so hat es den Anschein - der Wille, an seinem Gott festzuhalten.
Eben durch diesen »alles verzehrenden Eifer für Gott« (Urs von Balthasar) aber geraten die gleichsam gebrochenen Gedankengänge und Äußerungen Barths oft in ein zweifelhaftes Licht. Wenn er etwa von seinem theologischen Lebenswerk sagt, ihm fehle die »sammelnde Kraft«, so hat diese Äußerung, mit der er sich der Kritik seiner Zeitgenossen aussetzte, auch den arroganten Aspekt, daß diese Kritik im Grunde gleichgültig sei und daß es letztlich nur eine Instanz gebe, die über Karl Barth richten könne und dürfe - nämlich Gott.
Hochmut und Bescheidenheit, Streitbarkeit und milde Nachsicht wohnen bei Barth dicht beieinander. Und selbst sein Gotteseifer ist in seinem Leben mit einem »dialektischen« Motiv versehen.
Anders als etwa der dänische Gottsucher Kierkegaard heiratete Barth (1913) und ist heute der Patriarch einer ansehnlichen Sippe. Von seinen fünf Kindern (vier Söhnen und einer Tochter) starb ein Sohn. Zwei Söhne sind wie er Theologie-Professor, der eine in Chikago, der andere im indonesischen Djakarta. Der dritte lebende Sohn ist Gartengestalter und Kunstmaler in Basel. Zu den Kindern sind inzwischen acht Enkel gekommen.
Seit 1955 hat Barth in der Basler Bruderholzallee ein eigenes Haus. Zwei kleine Zimmer im Obergeschoß bilden seine Werkstatt, wo er (wie er es selbst ausdrückt) als
»Hieronymus im Gehäus« wirkt: als ein denkender Eremit. In der Zeit zwischen Vorlesungen in der Universität, Seminaren und Predigten (im Basler Stadtgefängnis) schreibt er dort auf Quartbögen mit winziger Handschrift das 13. Buch seiner »Dogmatik«.
Über der Tür zwischen den beiden Zimmern des »Gehäuses« hängt ein kleines Bildnis Wolfgang Amadeus Mozarts. Es ist - an dieser Stelle - mehr als die bloße Marotte eines Musik-Fans. Barth selbst versäumt fast nie, seine Besucher auf das Frappierende der Tatsache aufmerksam zu machen, daß das Bild Mozarts, der »ein Katholik, ein Freimaurer« und »gar nur ein Musikant war«, in der Studierstube eines
protestantischen Gottesgelehrten den Ehrenplatz einnimmt: Tatsächlich ist das Mozartbildnis in Barths Zimmer so etwas wie der Schlüssel zum Theologen und Menschen Barth.
Als Barth fünf Jahre alt war, spielte ihm seine Mutter ein paar Takte aus der »Zauberflöte« vor ("Tamino mein, o welch ein Glück..."). Barth erinnert sich noch heute: Es ging mir »durch und durch«.
1955 bekannte Barth in einem Aufsatz für die »Neue Zürcher Zeitung«, »daß ich, wenn ich je in den Himmel kommen sollte, mich dort zunächst nach Mozart und dann erst nach Augustin und Thomas (von Aquin), nach Luther, Calvin und Schleiermacher erkundigen würde«.
Überhaupt ist Barth - wenn die Rede auf Mozart kommt - der Versuchung ausgesetzt, mit den Bausteinen seiner eigenen himmlischen Wissenschaft beinahe frivol zu spielen. 1956 schrieb er an Mozart im Jenseits einen Brief (veröffentlicht in den »Luzerner Neuesten Nachrichten"): »Dort, wo Sie jetzt sind, weiß man freilich - unbehindert durch Raum und Zeit - sicher mehr voneinander, und auch von uns, als es uns hier möglich ist. Und so zweifle ich eigentlich nicht daran, daß es Ihnen längst bekannt ist, wie dankbar ich Ihnen fast solange, als ich zurückdenken kann, gewesen bin und immer wieder sein werde.«
Die »halblaut« an ihn - Barth - gerichtete Frage, »ob Mozart nicht ein Engel gewesen sein möchte«, läßt er offen, auf jeden Fall aber ist Mozarts Musik für ihn ein »Gleichnis des Himmels«. Barth träumt von Mozart (daß er den »Kompositeur« Mozart in Dogmatik examinieren mußte), und jeden Morgen, ehe er sich an die Lektüre der Tageszeitungen und dann an das Schreiben der »Dogmatik« macht, hört er sich ("dank der nicht genug zu preisenden Erfindung des Grammophons") ein Stück Mozart-Musik an.
Barths Liebe zu Mozart hängt mit seiner Theologie zusammen. Diese Theologie möchte im Grunde nicht mehr als eine Lehre sein, die alles »Geschöpfliche« - Politik, Wirtschaft, Kultur und schließlich auch das eigene Ich - zwar ernst, aber wiederum auch nicht zu ernst nimmt, eine Lehre, die Weit, Menschheit und Ich im Lichte himmlischer Fröhlichkeit sieht.
Von Bach sagte Barth, dessen Musik sei »Botschaft«, und man erfährt, daß dem protestantischen Kirchenlehrer die protestantische »Botschafts«-Musik des Leipziger Kantors nicht sonderlich gefällt: Sie ist ihm zu lehrhaft.
Von Beethoven sagt Barth, daß dessen Musik »Lebensbekenntnis« sei, und der Unterton dieser Definition besagt, daß dem Barth diese Musik noch weniger recht ist: Sie nimmt das Leben zu ernst.
Von Mozart aber sagt Barth: »Er musiziert keine Lehren und erst recht nicht sich selbst.« Beides möchte auch Barth mit seiner Theologie nicht.
»Was ich Ihnen danke«, schreibt Barth an Mozart im Himmel, »ist schlicht dies, daß ich mich, wann immer ich Sie höre, an die Schwelle einer bei Sonnenschein und Gewitter, am Tag und bei Nacht guten, geordneten Welt versetzt und dann als Mensch des 20. Jahrhunderts jedesmal mit Mut (nicht Hochmut!), mit Tempo (keinem übertriebenem Tempo!), mit Reinheit (keiner langweiligen Reinheit!), mit Frieden (keinem faulen Frieden!) beschenkt finde. Mit Ihrer musikalischen Dialektik im Ohr kann man jung sein und alt werden, arbeiten und ausruhen, vergnügt und traurig sein, kurz: leben!«
Alle Bewunderung des großen Dialektikers Barth für den großen Musikanten Mozart ist in dem Satz enthalten: »Er spielt und hört nicht auf zu spielen.«
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* Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle zu Rom.