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TUNESIEN / LANDREFORM Kurs in den Abgrund

aus DER SPIEGEL 21/1970

Tunesische Bauern schlachteten Hammel und tranken scharfen Buchar-Schnaps. Sie feierten, weil fern in der Hauptstadt die Regierung ihren ärgsten Feind entmachtet hatte: Ahmed ben Salah, 44, Minister für Wirtschaftsplanung, Finanzen und Volksbildung, Einpeitscher einer rigorosen Kollektivierung der Landwirtschaft.

Fast zehn Jahre lang hatte das »Wunderkind der Wirtschaftsplanung« (so der britische »Economist") den Kurs in Tunesiens Wirtschaft bestimmt. Jetzt soll Ben Salah Rechenschaft ablegen: vor einem Staatsgerichtshof.

Die Ankläger bezichtigen den gestürzten Minister der Verschwendung und Manipulation, des Betrugs und Hochverrats. Ben Salah droht die Todesstrafe.

Der Fall des nach Präsident Burgiba mächtigsten Tunesiers beendet ein Experiment, von dem selbst das deutsche Unternehmerblatt »Industriekurier« noch Anfang 1969 meldete, es habe sich »unbestritten segensreich« ausgewirkt: der Zusammenschluß landwirtschaftlicher Betriebe zu Kooperationen.

Das an Naturschätzen arme Tunesien hatte sich, seit es 1956 unabhängig wurde, vor allem darauf konzentriert, die Landwirtschaft zu entwickeln: Sie beschäftigt über die Hälfte der knapp fünf Millionen Tunesier; Agrarprodukte machen rund zwei Drittel von Tunesiens Export aus.

Aber Tunesiens Bauern werkelten, wie einst ihre Vorfahren, immer noch auf kakteenumzäunten Mini-Feldern. Deshalb plante Ben Salah eine tiefgreifende Landreform:

Genossenschaften ("unités de production") sollten nicht nur Tunesiens Wirtschaft zu reichen Erträgen verhelfen. Sie sollten darüber hinaus eine »harmonische Gesellschaft ohne Klassen schaffen« (so Ben Salah) und die Basis einer Revolution sein, die »die Menschen ohne Zwang umformt« (so Präsident Burgiba).

1957 hatte Burgiba (offizieller Titel: »Combattant suprême") dieses Konzept seines Mitkämpfers Ben Salah noch verworfen. 1961 aber machte er den Absolventen der Pariser Sorbonne -- Studienfächer: Arabisch, Literatur, Philosophie -- zu seinem Planungsminister. Ben Salah erhielt alle Vollmachten.

Doch ohne Zwang ließen sich Ben Salahs zur Staatsideologie erhobenen Ideen nicht verwirklichen: 1964 enteignete die Regierung nicht nur alle Ausländern gehörenden Farmen, auch Kleinbauern mußten ihre anliegenden Äcker gleich mit in die neu entstehenden Produktionseinheiten einbringen.

In den folgenden Jahren lockten und preßten Ben Salahs Funktionäre in einer zuweilen hysterischen Kampagne mehr und mehr Bauern in die Genossenschaften. Im Frühjahr 1989 gehörten eine Million Hektar von Tunesiens landwirtschaftlicher Nutzfläche zu den »unites de production«.

Die technischen Vorteile des neuen Systems waren unumstritten: Auf den weiten Genossenschaftsfeldern konnten Traktoren achern und Bewässerungsanlagen rieseln. Planmäßige Düngung, Fruchtfolge und Schädlingsbekämpfung -- den Kleinbauern weitgehend unbekannt -- konnten eingeführt werden.

An Geldgebern für die notwendigen Investitionen fehlte es deshalb nicht. Die Weltbank, die Internationale Entwicklungsorganisation IDA und die amerikanische Organisation US-AID unterstützten das tunesische Experiment zunächst großzügig.

Das relativ stabile Tunesien gilt ohnehin unter den Entwicklungsländern als ein »Musterschüler, der immer seine Hausaufgaben macht« (so die »Financial Times"). Pro Kopf der Bevölkerung erhält Tunesien mit 31 Dollar im Jahr mehr ausländische Entwicklungshilfe als jedes andere Land.

Dennoch: Im März 1969 bot sich Ben Salah eine enttäuschende Bilanz. Seine Produktionseinheiten produzierten weniger als die altmodischen Kleinbauern. Die Genossenschaften waren mit fast 150 Millionen Mark verschuldet. Ein Drittel der »unites de production« hatte weniger als zehn Prozent seiner Schulden zurückgezahlt, ein weiteres Drittel weniger als 50 Prozent.

Grund für die Misere: Die Bauern sahen sich zu Lohnarbeitern auf ihrem eigenen Boden degradiert und taten nichts mehr. Der Acht-Stunden-Tag und drei Mark Tageslohn, die manchmal nicht gezahlt wurden, waren für sie kein Anreiz. Die Anteilscheine über ihren eingebrachten Boden betrachteten sie als wertloses Papier.

Zudem empörten sie sich über die »weißen Kragen«, die vom Staat eingesetzten Führungskräfte der Genossenschaften, die oft weder etwas von Landwirtschaft noch von Verwaltungsfragen verstanden.

Ben Salah und Tunesiens linke Reformer hatten diese Entwicklungsschwierigkeiten einkalkuliert, glaubten aber, sie überwinden zu können. Mehr beunruhigte sie der Gesundheitszustand des kränkelnden Staatschefs. Ben Salah wußte, daß er sein Experiment nur unter Burgiba würde beenden können, der ihn nicht nur schützte, sondern sogar Ben Salahs Feinde bestrafte.

Obwohl es ratsam gewesen wäre, die Kollektivierungskampagne zu drosseln, entschloß sich Ben Salah zur Flucht nach vorn. Schon Ende 1970, so setzte er fest, sollte alles Land kollektiviert sein. Aus dem Staatshaushalt pumpte er -- illegal -- zusätzliches Geld in die Produktionseinheiten. Auch in den Städten drängte Ben Salah Handwerker und Geschäftsleute in Genossenschaften.

Hatte die Kollektivierung bis dahin vorwiegend kleine und mittlere Bauern betroffen, so sahen sich jetzt auch Tuneslens Groß-Kapitalisten bedroht.

Burgiba-Ehefrau Wassila, Tochter des Großbürger-Clans der Ben Ammar, intrigierte gegen den Vertrauten ihres Mannes. Wer nicht selbst das Ohr des Präsidenten fand, beklagte sich bei ausländischen Diplomaten und Journalisten über den Genossenschafts-Fanatiker.

Burgiba erfuhr, wie er später selbst sagte, von »befreundeten Ländern, besonders Frankreich, den in Tunis ackreditierten Botschaftern und den Korrespondenten der internationalen Presse«, daß sich sein Land auf einem »Kurs in den Abgrund bewegte«.

Ein Zwischenfall im Februar hatte den »Obersten Kämpfer« noch nicht alarmiert: Als Postminister Abdallah Farhat im Dorf Ouerdinane symbolisch eine Kakteenhecke niederwalzte, bewarfen ihn protestierende Bauern mit Steinen. Die Polizei schoß. Es gab Tote und Verletzte. Erst im Herbst meinte Burgiba, daß die forcierte Kollektivierung eine Gefahr für seinen Staat darstellte. Radikal änderte er den Kurs.

»Das Volk war kurz davor, sich zu erheben«, deklamierte er vor der Nationalversammlung. Der Landesvater gestand seinem gerührten Volk, daß er getäuscht worden sei und nicht gesehen habe, wie es »unter die Knute von Apparatschiks geraten sei, die den Bürgern Hab und Gut nehmen wollten«.

Zwangskollektivierte Bauern dürfen nun ihre Äcker zurückfordern. Sündenbock Ben Salah wurde aus seinen Ämtern verjagt. Aber erst vor einigen Wochen, als Pollzisten ihn von seinem Landsitz bei Tunis holten und der Staatsanwalt Anklage erhob, sah Ben Salah, daß der »Combattant suprême« seinen Mitkämpfer wirklich opfern würde.

Während Tunesiens Intellektuelle Unterschriften für den gestürzten Planungsminister sammelten, wählte das Parlament die Männer, die über Ben Salah richten sollen: einen Parteifunktionär, einen Großgrundbesitzer und einen alten Gegner Ben Salahs aus der Gewerkschaftsbewegung.

Auch der vierte Richter, Béchir Zerghaioun, gilt nicht als unvoreingenommen. Viele Tunesier halten ihn für einen der Mörder, die 1961 im Frankfurter Hotel Royal den Burgiba-Gegner Salah ben Jussef erschossen.

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