Martin Morlock KURZ GERENTNERT
Ich würde auch ganz gern mal kurz nach drüben rentnern«, hatte sie zu Ost-Berlin ins 400 köpfige »Distel«-Publikum gefürwitzelt; letztmals am 18. Juli. Wenige Wochen später antwortete sie einem Grenzbeamten der Bundesrepublik auf seine Frage, warum sie denn »einwandern« wolle: »Ick hab die Schnauze voll.« Dazwischen lag ein banger Urlaub in Jugoslawien.
Als ich ihr in Sammy Drechsels Okal - Fertighaus, Hauptquartier der »Münchner Lach- und Schießgesellschaft«, begegne, hat die Nationalpreisträgerin der DDR bereits vom Westen genascht, wo er am güldensten scheint: im Münchner »Saint-James«-Nachtklub.
Reste von euphorischem Staunen schimmern aus ihrem Blick, während sie mir erzählt: Ein Herr mit roter Nelke im Knopfloch
- James Graser, auch
»Playboy Nr. 1« geheißen - habe zu vorgerückter Stunde ihren Wehruf »Die Weiber sind hier so schön!« mit weltläufigem Lächeln quittiert und in eine Diskussion über den Sozialismus, die sich zwischen ihr und einem Kellner entsponnen hatte, mit den
Worten eingegriffen: »Dös ham mir alles scho hinter uns, Madl.«
Auch nun stürmt Verwirrend-Neues auf sie ein, darunter ein fernmündlicher Willkommgruß des ihr nur namentlich bekannten Maximilian Schell. Doch gilt es, Vergangenes zu erörtern.
Ingrid ("Ohle") Ohlenschläger, 35, in Polen gebürtige Tochter eines ostpreußischen Holzkaufmanns und rotes Schaf ihrer an Rhein und Wupper ansässigen Familie, war Schauspielerin in Halle und Eisenach, ehe sie ihr Jahrzehnt beim Renommier-Kabarett »Die Distel« (Monatsgage: 1290 Mark netto) absolvierte.
Vor Errichtung der Mauer konnte sie ihren »Hang zur Kosmetik« und gelegentliche Zweifel am sozialistischen Aufbau in West-Berlin pflegen; nachher mußten die TV-Reihen »Panorama« und »Report«, ein wöchentliches »Dienst«-Exemplar des SPIEGEL ("nachts wurde es weggeschlossen") sowie der jugoslawische Schauspieler Hugo Florjancic, 49, seit einem Jahr ihr Ehemann, den Ost-West-Kontakt aufrechterhalten.
Den 25 000-Mark-Nationalpreis, der ihr mit vielen Gegenstimmen und den Ulbricht-Trotzworten »Nuh grahde!« zuerkannt wurde (sie mußte ihn mit sechs »Distel«-Kollegen teilen), kompensierte Ingrid Ohlenschläger durch Herbeiführung zweier Vorladungen beim Staatssicherheitsdienst, wegen (nicht unbegründeten) Verdachts auf Beihilfe zur Republikflucht.
Die »Distel«, erfahre ich, einzige Hegestätte vorsichtiger Renitenz, sei zwar schon immer von »Niftels« (Funktionären) beschattet worden; sprich: von der Bezirksparteileitung der SED und der »ideologischen Kommission beim ZK«, doch habe man das nach »Selbstkritik« hungernde Publikum zumindest mit Brosamen verköstigen können. Seit der Mauer aber »gibt es keine Distel-Schreiber mehr«. Die Altbewährten haben sich zurückgezogen: Hans Rascher, Sohn des KPD - Reichstagsabgeordneten Schneller, schreibt Schlagertexte, Hans Krause, vormals »Distel« -Chef, redigiert die Humorseite des »Neuen Deutschland«.
Ohle: »Ich glaube, man stellt zu hohe Ansprüche. Das, meiste ist doch nur noch Unterhaltung, Millowitsch -Theater, der Rest Agitation. Ich wollte nicht länger Dinge sagen, hinter denen ich nicht stehen kann: Als Arzt oder Techniker kann man in der DDR ganz gut leben, als Schriftsteller oder Schauspieler muß man sich jeden Tag prostituieren.«
Während Frau Irene Koss-Drechsel kapitalistischer Gastlichkeit vermittels Käse- und Ölsardinenbrötchen Genüge tut, frage ich die Republikflüchtige, wie ihr denn der plötzliche Klimawechsel bekommen sei.
Ohle Ohlenschläger streichelt ihren schwarzen Lederrock, erdarbtes Souvenir an das Hamburger Distel-Gastspiel im Februar, und bezeichnet ihre Gemütslage als wechselhaft. Mal erfreue sie sich - obwohl sie »dieses Wort nicht mehr hören« mag - ihrer »Freiheit«, mal quäle sie der Gedanke an die Ost-Berliner Freunde.
»Hier, unter den Kollegen von der ,Münchner Lach- und Schießgesellschaft', die genauso reden, wie wir drüben, fühle ich mich wie zu Hause«, sagt sie; doch außerhalb dieses Schutzgebietes empfindet sie Beklommenheit: »Es ist alles so viel
- so viele Menschen. Autos, Schaufenster..
Etwas erweckt ihre Bewunderung: »Ihr seid alle so selbstbewußt.«, Sie führt dieses Phänomen auf eine ',Individualistische Erziehung« zurück.
Ob es auch etwas gebe, was sie befremde, erkundige ich mich.
Ihre Augen verengen sich beim Nachdenken: »Hier ist alles so bestechend perfekt - davor habe ich Angst.«
Ingrid Ohlenschläger