ÄRZTE Lähmendes Schweigen
Professor Dr. med. Alfred Nikolaus Witt, 60, ist unter Deutschlands Medizinern längst ein berühmter Mann. Der Direktor der Orthopädischen Universitätsklinik in München wurde -- wie er selbst gern hervorhebt -- »nicht umsonst, gerade auf Grund meiner praktischen Erfahrungen, schon mit 40 Jahren auf einen Lehrstuhl berufen« und ist stolz darauf, daß heute viele seiner früheren Mitarbeiter ebenfalls »als Ordinarien und Klinikchefs an acht großen Kliniken tätig« sind. »Was ich für die deutsche Medizin getan habe«, so Witt über Witt, »darüber kann man auch in Paris, Sofia und Berlin Auskunft geben.«
Die jahrzehntelange Praxis des Chirurgen scheint ohne Fehl und Tadel: »Zehntausende von Eingriffen« sind laut Witt »unter meiner verantwortlichen Leitung durchgeführt worden«, ohne daß dem Operateur ein Versagen erinnerlich wäre. Überhaupt ist der einschlägige Begriff für berufliches Mißgeschick für ihn offenbar nicht existent: »Das Wort »Kunstfehler"« nimmt er jedenfalls »grundsätzlich nicht in den Mund«.
Doch genau dies, ein Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst, wird nun dem Professor angelastet -- in einer Anklage der Münchner Staatsanwaltschaft wegen fahrlässiger Körperverletzung. Voraussichtlich Anfang Februar kommt Witt und damit zum erstenmal ein deutscher Mediziner-Ordinarius und Klinikchef wegen eines Kunstfehlers vor ein Strafgericht.
Der Fall, der in jahrelangen Ermittlungen die Zuständigkeit von vier Staatsanwälten überdauerte, ehe er überhaupt anklagereif wurde, ist exemplarisch auch für die fast unüberwindlichen Hürden, die im Wege stehen, wo immer sich geschädigte Patienten gegen mächtige Mediziner zur Wehr zu setzen versuchen, die sich untereinander nicht weh tun wollen.
Am 6. Juni 1969 hatte Witt einen jungen Münchner Arztkollegen« den damals 28jährigen Internisten Theo Mauser, wegen einer schweren und fortgeschrittenen tuberkulösen Wirbelentzündung (Spondylitis tuberculosa) der 7. bis 9. Brustwirbel operiert. Die Operation wurde in unmittelbarer Nähe des Rückenmarks vorgenommen, wo die Nervenstränge für den unteren Teil des Körpers verlaufen. Die Wirbel wurden freigelegt, die tuberkulösen Herde ausgeräumt und die entstandenen Knochenhöhlen zur Stabilisierung der Wirbelsäule mit einer Knochensplittermasse (Spongiosa), die dem Patienten zuvor vom Becken entnommen worden war, mit Hilfe eines Stöpsels wieder aufgefüllt -- eine Operationsmethode, die bei dem Patienten Mauser, so der Kernvorwurf der Anklage, strikt kontraindiziert gewesen sei und deren Folgen der Operateur hätte voraussehen können.
Eine knappe Stunde nach dem Eingriff wurde offenbar, daß Mauser eine unheilbare Querschnittslähmung erlitten hatte. »Im Zuge der Operation«, so vermerkt das Krankenblatt der Orthopädischen Universitätsklinik, »ist es durch ein in den Wirbelkanal vordringendes Spongiosastück zu einer Marckompression mit Querschnittslähmung ab Th 6/7 gekommen.« Daran war auch durch eine sofort vorgenommene zweite Operation, bei der der Spongiosapfropfen wieder entfernt wurde, nichts mehr zu ändern.
Der Invalide Mauser, der nun im Städtischen Krankenhaus München-Harlaching im Rollstuhl seinen Dienst versieht, obschon er selber seit der Querschnittslähmung an etlichen Organstörungen leidet, hätte nach eigenem Bekunden auf eine Strafanzeige gegen Witt verzichtet, wenn der Professor nicht jegliche Verantwortung für den mißglückten Eingriff von sich gewiesen und sich nach Mausers Eindruck erst in »fadenscheinige Ausreden«, dann »in lähmendes Schweigen geflüchtet« hätte.
So hatte Witt gegenüber Mauser und Mauser-Verwandten mal erklärt, der für die Lähmung ursächliche Druck der Knochensplittermasse könne bei der »sehr harten Aufwachphase« des Frischoperierten durch »muskuläre Verspannungen« ausgelöst worden sein, ein andermal, die folgenschwere Kompression des Rückenmarks wäre möglicherweise bei der Umlagerung des bäuchlings operierten Patienten in die Rückenlage passiert.
In jedem Fall aber ließ der Chirurg keinen Zweifel an seiner Operationsmethode zu (Witt: »Das wird in der ganzen Welt so gemacht"). Der Klinikdirektor bestreitet zudem, daß er -~ zweiter Punkt der Anklage -- seiner grundsätzlich auch gegenüber einem Patienten, der selber Arzt ist, bestehenden Aufklärungspflicht vor einer Operation mit hoher »Komplikationsdichte« und der höchsten Anästhesie-Stufe nicht ausreichend nachgekommen sei und insbesondere nicht auf das Risiko einer Querschnittslähmung hingewiesen habe. Patient und Mediziner Mauser. vor der Operation »von der relativen Harmlosigkeit des Eingriffes überzeugt«, und auch die damals mit ihm befreundete Ärztin Julia-Maria Oswald erinnern sich noch an die Worte Witts: Die Operation biete kein Risiko; im günstigsten Fall werde der Krankheitsverlauf wesentlich verkürzt, ansonsten wäre durch die Operation nichts verloren.
»Wenn ein Arzt sich allen Problemen so turmhoch überlegen fühlt wie Dr. Witt« -- so der Münchner Rechtsanwalt Steffen Ufer, der Mauser als Nebenkläger vertritt -, »dann weigert sich jede Versicherung der Welt so lange wie möglich, die ärztliche Haftpflicht anzuerkennen.«
Witts Versicherung, die schweizerische Winterthur-Gruppe, sträubte sich im Fall Mauser denn auch fast fünf Jahre lang und zeigte Anzeichen einer beschränkten Zahlungsbereitschaft erst, als die Anklage der Staatsanwaltschaft zugelassen wurde.
in der Person des renommierten Protessors scheint auch begründet, weshalb das Ermittlungsverfahren so lange währte und die Sache Mauser gegen Witt schließlich zu einem »trüben Kapitel medizinischer Gerichtsgutachten« (Ufer) geriet.
Operationsopfer Mauser und seine -inzwischen verstorbenen -- Eltern schrieben 18 namhafte deutsche Medizinprofessoren und Chirurgen an und baten sie, als Sachverständige im Verfahren gegen Witt zu wirken. Aber bis auf einen, bei dem den Bittstellern später selber »Zweifel an der Sachkunde« kamen, lehnten sämtliche Adressaten das Ersuchen ab -- einige ohne Begründung, wie Professor Wilhelm Reinhard (Wuppertal) und Wilhelm Legal (Garmisch-Partenkirchen), einige, weil sie überlastet seien oder »nicht genügend Erfahrung« besäßen, wie Professor Robert Herget (Essen), Professor Günter Mollowitz (Moers), Klaus Bremm (Süchteln), Horst Blaschke (Göttingen), einige aber auch mit der schlichten Begründung, sie seien mit dem Kollegen Witt bekannt, so die Professoren Herbert Junghanns (Frankfurt) und Alfons Lob (München).
Bei soviel »Mutlosigkeit und Opportunismus« erschien es Mausers Anwalt Ufer »angebracht, die Befangenheit im Rahmen des Freund-Feind-Denkens der deutschen Ordinarien von vornherein auszuschalten« und einen »absolut neutralen Sachverständigen« aus dem Ausland zuzuziehen. Er gewann den international angesehenen Professor Werner Brunner, Spezialist für Thoraxchirurgie und Lungenheilkunde an der Universitätsklinik Zürich. Der Schweizer Arzt war von einem deutschen Experten empfohlen worden, dem Mainzer Honorar-Professor Josef Kastert, der den Patienten Mauser vor und nach der Witt-Operation intensiv untersucht hatte und auf dessen spezielle Kapazität sich auch der angegriffene Witt in seinem 63seitigen Rechtfertigungsschreiben an die Staatsanwaltschaft ausdrücklich beruft.
Warum aber Kastert, abgesehen davon, daß er Mauser untersucht hatte, in diesem Fall nicht selber gutachten wollte, schildert Professor Brunner in einer Stellungnahme zum Ermittlungsverfahren, deren Richtigkeit Brunner »jederzeit gegenüber einem Richter beeiden« würde. Der Inhalt -- die Wiedergabe eines Gesprächs mit dem Kollegen Kastert -- wirft ein Schlaglicht auf die miserablen Aussichten deutscher Patienten im Zivilprozeß gegen deutsche Mediziner-Ordinarien. zumal die Opfer dem Operateur den Kunstfehler nachweisen müssen, wenn sie Recht und Schadenersatz bekommen wollen. Auszug aus dem Brunner-Dokument:
Von dem Ermittlungsverfahren gegen Herrn Professor Witt habe ich erstmals durch Herrn Professor Kastert erfahren. Dieser erklärte mir ... folgendes: Ein junger Assistenzarzt Dr. Mauser ist wegen einer thorakalen Spondylitis von Professor Witt operiert worden. Als Folge der Operation trat eine Querschnittslähmung ein. Er (Professor Kastert) kenne den Fall genau. Er habe Dr. Mauser selbst untersucht, Operationsberichte und Röntgenbilder gesehen. Es sei eine Schweinerei, wie Mauser operiert wurde. Er (Kastert) könne aber in diesem Fall kein Gutachten übernehmen, weil er gegen Professor Witt auftreten müßte. Dies würde ihm nur schaden. Als erfahrenster Chirurg auf dem Gebiete der Spondylitis in der Schweiz solle deshalb ich (Brunner) das Gutachten übernehmen. Auf meine Frage, weshalb sich kein deutscher Experte für diesen Auftrag finden lasse, erklärte mir Professor Kastert: Trotz dei klaren Sachlage zugunsten von Dr. Mauser würde es kein deutscher Experte wagen, gegen Professor Witt aufzutreten ...
Kastert heute zum SPIEGEL: »Ich habe damals nur sagen wollen, es ist eine Schweinerei, daß bei dem Kollegen Mauser die Lähmung passierte.« Wie immer -- Professor Brunner übernahm 1973 das Gutachten im Auftrag der Staatsanwaltschaft und mußte nach Studium der Unterlagen alsbald »gestehen, daß ich ... erstaunt war, daß diese operative Methode angewendet wurde«. Denn bei dieser Methode -- so das Fazit des Brunner-Gutachtens -- sei das Risiko einer Querschnittslähmung im Fall Mauser »unzumutbar hoch« gewesen, da »das Ausfüllen der Knochenhöhle mit Spongiosa unter keinen Umständen vorgenommen werden« dürfe, »wenn« -- wie Witt aufgrund der Röntgenbilder schon vor der Operation hätte erkennen können -- »die hintere Wand des Wirbelkörpers teilweise zerstört oder zu dünn ist, um das Vorquellen des eingepflanzten Knochenmaterials gegen das Rückenmark mit Sicherheit zu verhindern«. Brunner gewann den Eindruck, daß die Gefährlichkeit dieser »unsachgemäßen« Behandlung »weder vom Operateur noch von seinen Assistenten erkannt« worden sei.
Nach dem Gutachten des Zürcher Chirurgen schien das Ermittlungsverfahren gegen Witt für die damals zuständige Staatsanwältin schon anklagereif, doch der bereits fertige Anklageentwurf wurde vom vorgesetzten Oberstaatsanwalt Erich Sechsei nicht genehmigt. Denn Münchens Sechser, der gegen die Bankräuber von der Prinzregentenstraße so forsch vorgegangen war, schien in diesem Falle eher auf Zurückhaltung bedacht. »Professor Witt«, so bekam ein Anwalt von ihm zu hören, »ist doch nicht Herr Jedermann. den kann man doch nicht so ohne weiteres anklagen.«
Um einen zweiten Sachverständigen bemüht, eilte der Oberstaatsanwalt ausgerechnet zu dem Direktor des Münchner Instituts für Rechtsmedizin, Professor Wolfgang Spann, der nach Ansicht von Anwalt Ufer dafür bekannt sei, daß er »gegen die Durchführung von strafrechtlichen Verfahren gegen Medizinerkollegen überhaupt ist« und »insoweit alle derartigen Verfahren mit der medizinischen Solidaritätsbrille sieht«.
Spann, Dekan der Münchner Medizinischen Fakultät und mit Ordinarius Witt am grünen Tisch, empfahl zunächst einen früheren engen Mitarbeiter Witts« der sich freilich selber wegen Befangenheit ablehnte, dann den Essener Orthopäden Karl-Friedrich Schlegel. der den Auftrag der Staatsanwaltschaft erst annahm, später aber mit der ihm gar nicht zustehenden Begründung wieder zurückgab, er sehe in einem Strafverfahren gegen Witt für Mauser »keine Chance«. Immerhin schlug Schlegel vor, die Parteien sollten sich auf einen zivilrechtlichen Vergleich in Höhe von 50 000 bis 100 000 Mark Schadenersatz an Mauser einigen.
Mit einem Vergleich freilich anderer Größenordnung war schon einmal ein Witt-Patient abgefunden worden: der ehemalige Kunstturner Jürgen Bischof, der nach einem Witt-Eingriff an der Achillessehne im Frühjahr 1969 erst zweieinhalb Monate später aus der Narkose erwachte und sein Erinnerungsvermögen verlor. in diesem Fall war der Freistaat Bayern eingesprungen und berappte anderthalb Millionen Mark, »um«, so Finanzminister Ludwig Huber, »das traurige Schicksal von Herrn Bischof und seiner Familie so weit wie möglich zu erleichtern«. Eine Strafanzeige gegen Witt unterblieb.
Gerade die Strafanzeige aber führte im Mauser-Fall -- so Anwalt Ufer -- zum »absoluten Hohn auf die Glaubwürdigkeit deutscher Mediziner-Ordinarien«. Denn als zweiter Gutachter fühlte sich plötzlich auch jener Experte berufen, der gegen die »Schweinerei« unter anderem deshalb nicht hatte Front machen wollen, weil er noch nicht das Renommee eines Professors besitze. Inzwischen aber ist Josef Kastert Honorar-Professor in Mainz geworden: »Ich hatte damals keine Zeit, aber es ist schon möglich, daß ich auch abwinkte, weil mir eben ein Titel fehlte.«
Zum Erstaunen aller konsultierten Mediziner entdeckte der bekehrte Kastert als Zweitgutachter einen »auslösenden Faktor für das Querschnittssyndrom«, auf den bis dahin keiner der Beteiligten, auch Kastert selber nicht. gestoßen war: ein abszeßartiges »Entlastungsödem« in Mausers Wirbelknochen, das nun für Kastert »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ... zur Zerstörung des Rückenmarks« geführt habe dies, obschon gerade nach den in der Wissenschaft anerkannten Forschungen. Kasterts solche Ödeme nur vorübergehende, mithin reparable Lähmungen verursachen. Kastert heute: »Das ist eben wissenschaftlich etwas ganz Neues.«
Auf der Suche nach Gegenmeinungen zu dem Kastertschen Odem-Komplex stieß der Nebenkläger abermals auf die Karriere-Barriere mutloser Mediziner, die das Odem zwar rundweg als »Quatsch« oder »Schwachsinn« verurteilten. sich aber persönlich nicht einlassen wollten. »Teilweise«, so ein Schriftsatz des Nebenklägers« »baten die befragten Personen auch ausdrücklich darum, sie nicht namentlich in irgendwelchen schriftlichen Stellungnahmen anzuführen, da sie Nachteile für ihre weitere Karriere befürchteten. wenn sie sich den berühmten Witt zum Feind machten oder wenn auch nur bekannt würde, daß sie einen Verstoß gegen die kollegiale Solidarität begangen hätten.«
Ein paar, die sich nicht scheuten oder hindern ließen, sagten freilich deutlich, was sie vom Kastert-Gutachten hielten: »Ein Entlastungsödem«, so der Münchner Neurologe Professor Kurt Decker, »in der von Kastert behaupteten Form gibt es nicht.« Und der Harlachinger Chirurg Helmut Mad: »Ein Entlastungsödem ist völliger Unsinn und nur als Entlastungsversuch für den Operateur anzusehen.«
Nachdem auch Professor Jürgen Peiffer, Direktor des Tübinger Uni-Instituts für Hirnforschung, und der Schweizer Brunner die Odem-These widerlegten, stand der Anklage gegen Witt schließlich nichts mehr im Wege.
Zur Verhandlung im Münchner Amtsgericht wird, so prophezeit Mauser-Anwalt Ufer, »das übliche Publikum kaum Plätze bekommen, da werden sich eine Menge Mediziner nach Möglichkeit die Sitze reservieren lassen«.