WALD Lahm wie Ziegen
Sie drücken sich durch dichteste Dickungen, tauchen urplötzlich mitten im verschneiten Winterwald auf und hasten noch in stockdunkler Nacht zwischen Baumstämmen dahin.
»Eine ganz neue Spezies von Waldbesuchern« hat der Jagdreferent im niedersächsischen Landwirtschaftsministerium, Gebhard von Garssen, in Westdeutschlands Forsten ausgemacht: Kegelbrüder auf Waldrallye, Skilangläufer auf eigener Spur und Jogger, die es noch bei Mondschein ins Grüne treibt.
Um einen Schnappschuß vom seltenen Birkhuhn zu ergattern, legen sich Photo-Freaks in naturgeschützten Mooren auf die Lauer. Mit dem Meßtischblatt in der Hand brechen Orientierungsläufer durchs Unterholz, um - höchste Rallyelust - irgendwo im Dickicht eine versteckte Flasche Bier zu suchen.
Ärger über derlei Waldnutzer, die das Wild beunruhigen, ließ Ende letzten Monats bei Wallmoning im bayrischen Landkreis Traunstein einen Jäger gar zur Büchse greifen: Vom Hochsitz aus schoß er einen 24jährigen Jogger wegen »Störung der Tiere« nieder.
Der Schuß auf den Wald-Läufer von Wallmoning markiert den bisherigen Höhepunkt eines erbitterten Streits zwischen Wald-Nutzern und Wald-Schützern. Jägerverbände fordern die Einschränkung eines Rechts, das noch 1975 allenthalben als soziale Errungenschaft gefeiert wurde: Seit damals hatten die Länderparlamente jedermann freies Betretungsrecht für das bewaldete Drittel der Bundesrepublik eingeräumt.
Selbst Konservative wie der damalige Präsident des Bayerischen Landtages, der Christsoziale Rudolf Hanauer, feierten das neue Recht als Abschluß einer Ära obrigkeitlicher Vorrechte: »Vom Wald des Königs über den Wald des Staates zum Wald des Volkes.«
Mittlerweile jedoch hat die zunehmende Zahl von Waldbesuchern den Skeptikern recht gegeben. Der Bundesbürger, warnte die »Süddeutsche Zeitung« schon in den siebziger Jahren, würde den Wald
viel zu sehr lieben, »als daß er sich sein romantisches Verhältnis zu ihm durch Sachkenntnis trüben lassen möchte«.
Auch Naturschützer, die den Jägern und ihren Verbänden überaus kritisch gegenüberstehen, räumen nun ein, daß das allgemeine Betretungsrecht eingeschränkt gehöre. Vor allem Crossläufer, weiß Karl-Friedrich Weber vom Helmstedter Kreisverband des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), seien »oft unbelehrbar«.
Wenn Weber Jogger anspricht, die mit ihrem Hund fernab vom Weg an Dickungen vorbeilaufen und so das Wild am Äsen hindern, bekommt er empörte Widerworte zu hören: »Wir sind doch naturnah, wir grölen doch schließlich nicht wie die Massentouristen auf den großen Waldwegen.«
In Wahrheit vergrämen pirschende Orientierungsläufer und Photofanatiker das Wild nachhaltiger als noch so laute Wandergruppen, die vom Parkplatz aus zur Rundwanderung starten. An die Nutzung der Wanderwege nämlich haben sich, wie Forstleute und Jäger bezeugen, die Tiere längst gewöhnt.
Mit Streß hingegen reagieren Reh und Hirsch auf die leise daherkommenden Pseudo-Naturfreunde. Auf Wildäckern, über denen der Schweißgeruch von Joggern wabert, äst kein Reh mehr; statt dessen hält sich das Wild an das Nahrungsangebot im Dickicht. Verbißschäden an Trieben und Rinde sind die Folge.
Doch so sinnvoll es sein mag, das unbeschränkte Waldbetretungsrecht zu begrenzen und den Volkswald vor dem Volk zu schützen - der Eifer, mit dem Jäger-Organisationen dieses Ziel neuerdings verfolgen, weckt bei Umweltschützern Unbehagen.
Bisweilen klingt bei Jägern, die den Wald nun weitgehend sperren möchten, schieres Elitedenken durch - etwa wenn das Jägerblatt »Wild und Hund« postuliert, die Jagd sei »immer ein Privileg, ein Vorrecht gewesen«, mithin nichts für Massenmenschen: »Es ist offensichtlich, daß der Jäger, der allein durch den Wald pirscht, schon von der Form her nicht zu einer Masse gehören kann.«
Schlüssig scheint da eine andere Begründung: Verängstigtes Wild bleibe so beharrlich in der Dickung, daß der Jäger auf dem Hochsitz oft vergebens warten müsse und die - aus ökologischer Sicht gebotenen - Abschußquoten nicht erfüllen könne.
Fachleute wie der niedersächsische Wildbiologe und Jagdkundler Friedrich-Christian von Berg freilich glauben, daß vielen Jägern dieses Argument nur als billiger »Persilschein« dient, um den Wildbestand nicht allzu kurz halten zu müssen. Jäger, denen wirklich an einer landschaftsgerechten Reduzierung des Wildes gelegen sei, könnten das leicht »durch Duldung von Raubtieren und die Einstellung übertriebener Fütterung« erreichen.
Eine Änderung der Waldgesetze jedenfalls ist nach Experten-Ansicht nicht vonnöten, um die Belastung der Natur durch Besucher zu verringern: Schon heute haben die Landkreise, wie in Niedersachsen nach Paragraph 24 des niedersächsischen Landeswaldgesetzes, die Möglichkeit, den Zutritt zum Wald während der Setz- und Brutzeit, vom 1. April bis 15. Juli, einzuschränken.
Und Gemeinden könnten von der Ermächtigung Gebrauch machen, Leinenzwang für Hunde vorzuschreiben.
Sachkenner sehen bereits die Gefahr heraufziehen, daß Landkreise und Gemeinden von einem Extrem, der absoluten Freizügigkeit, ins andere fallen könnten: in die überperfektionierte Reglementierung der Waldbesucher.
Biologe von Berg, Forstoberrat an der Universität Göttingen, fürchtet etwa, daß demnächst allerorten »auf lokaler Ebene ökologisch wenig sinnvolle Betretungseinschränkungen ausgesprochen werden«, weil »Landkreise ohne kompetente Fachverwaltung örtlichen Jägerinteressen folgen«.
Ein Leinenzwang für Hunde beispielsweise mache, meint der Wissenschaftler, allein im Winter Sinn, »weil da das stoffwechselreduzierte Wild besonders streßanfällig ist«. In den Spätsommermonaten dagegen schade es dem Wild überhaupt nicht, wenn »es mal von einem Hund verfolgt wird«.
Im Gegenteil: Ganz ohne natürlichen Feind würden die durch übertriebene Fütterung ohnehin verwöhnten Rotwildstücke, so der Biologe, »lahm wie Ziegen« im Wald umherstehen.