RUDOLF AUGSTEIN Landgestützt müssen sie sein und bleiben
Keine Frage, die Bonner, namentlich Hans-Dietrich Genscher, haben auf ihrer Tagung in Brüssel nicht nichts erreicht. Sie haben zumindest kosmetisch so viel erreicht, daß die Koalition zu den Bundestagswahlen noch gemeinsam antreten kann.
Man muß aber auch ehrlicherweise erkennen, daß die Einigungsformeln alles andere als seriös sind. Man hat sie ad usum Delphini mit heißester Nadel zurechtgeschneidert. Es ging nicht darum, in der Zukunft Ergebnisse zu erreichen, sondern dem Eindruck entgegenzuwirken, nur Gorbatschow wolle wirkliche Ergebnisse.
Mit Skepsis ist der Westen noch gestern sowjetischen Absichtserklärungen entgegengetreten, man wolle bei den Wiener Verhandlungen bis 1997 eine erste Abrüstungsstufe erklimmen. Neuerdings, und ohne erkennbare Schularbeiten, strebt Bush einen ersten Schritt zur konventionellen Abrüstung bis 1992 auf 1993 an.
Absichtsvoll verkündet die Nato ihr Vorhaben, solch ein Abkommen in Wien binnen sechs bis zwölf Monaten zustande zu bringen, und das, obwohl nun auch über Truppenstärken, Kampfflugzeuge und Militärhubschrauber verhandelt werden soll. Das kann nicht laufen.
Die solches einmütig beschlossen haben, hatten den Blick starr auf die Bundestagswahl des Dezember 1990 gerichtet. Dem Bundesaußenminister ist es gelungen, die Entscheidung darüber, ob die »Lance«-Rakete durch eine in der Substanz neue ersetzt werden soll, auf das Jahr 1992, auf die Zeit nach der Bundestagswahl also, zu verschieben.
Man muß fürchten, ja man muß annehmen, daß hier Augenwischerei im Spiel war. Die Aufstellung neuer Raketen ist bereits beschlossen, weil Bush und Thatcher sich darin absolut einig sind. Und wie will man frühestens 1992 über die Verschrottung veralteter Raketen auf beiden Seiten verhandeln, wenn man jetzt schon neue entwickelt, die 1992 aufzustellen man entschlossen ist? Wie, wenn man unter gar keinen Umständen bereit sein wird, alle neu zu bauenden und neu aufzustellenden Raketen in die Verhandlungen einzubeziehen?
Das eigensinnige Widerstreben der Engländer und Franzosen, auch über Kampfflugzeuge zu verhandeln, beleuchtet die Erfolgschancen drastisch. Alle bisherige Nato-Logik wird hier auf den Kopf gestellt.
Erinnern wir uns: Die atomare Abschreckungskraft, deren bloßer Abschreckungscharakter ja nicht immer unumstritten war, wurde von den Nato-Staaten beschlossen, weil sie sich nicht für fähig hielten, oder auch mit Blick auf ihren Lebensstandard nicht willens waren, einem konventionellen Angriff des Ostens konventionell zu begegnen.
Nun hat sich die Lage gründlich verändert. Schon jetzt ist zweifelhaft, ob die Sowjets, deren Glacis bröckelt, mit ihren derzeitigen Streitkräften erfolgreich antreten könnten. Sie bieten aber an, das Kräfteverhältnis zwischen Nato und Warschauer Pakt drastisch in Richtung Ausgewogenheit vertraglich zu ändern. Krieg in Europa wäre dann unmöglich, es sei denn, eine der beiden Seiten würde atomar über die andere herfallen und die eigene Selbstauslöschung wissentlich in Kauf nehmen.
Da fragt man sich denn doch, warum ganz neue atomare Systeme zwecks Abschreckung auf deutschem Boden installiert werden sollen, es sei denn, man wolle die atomare Verheerung auf Mitteleuropa beschränken, sie jedenfalls tunlichst von den Supermächten fernhalten.
Ähnliche Bestrebungen gab es früher schon auf russischer Seite, wie Henry Kissinger in seinen Memoiren hat wissen lassen. Zwar will man keinen Krieg, aber man kann ja nicht sicher sein, daß nicht doch einer kommt. Und da wäre es doch besser, den Fokus des atomaren Geschehens auf jenes Land zu begrenzen, das einen Weltkrieg überwiegend und den zweiten ganz verschuldet hat.
Solch eine Option muß nicht schriftlich festgehalten werden, sie wird auch nicht unbedingt funktionieren. Aber sie hätte ihr Eigengewicht und ihre Eigengesetzlichkeit. Denn warum, so müssen wir fragen, braucht man ausgerechnet landgestützte Kurzstreckenraketen, wenn sie nicht einem unausgesprochenen, wenn auch noch so unsicheren Einverständnis dienen sollen.
General Rogers, bis 1987 Oberbefehlshaber der Nato, hält Luft-Boden-Raketen im Kurzstreckenbereich für durchaus möglich, technisch und militärisch jedenfalls. Nur könnte sich dann die gewünschte atomare Begrenzung nicht einstellen. Und Richard Perle, der Atomkriegsritter des ziemlich verrückten ehemaligen Verteidigungsministers Caspar Weinberger, hält atomare Kurzstreckenraketen beiderseits des löcherig gewordenen Eisernen Vorhangs nicht mehr für zwingend. Aber sie sind zwingend, weil anders überhaupt keine Chance bestünde, einen vielleicht durch Zufall oder Dummheit ausgebrochenen Krieg zwischen den beiden Supermächten auf Mitteleuropa zu beschränken.
Man kann gar nicht sicher sein, daß die Sowjets die neuen Raketen unbedingt verhindern wollen. Sie werden taktisch dagegen auftreten, aber das Spiel aus ihren eigenen Gründen heraus vielleicht ganz gern mitspielen. Wie kann man die deutsche Teilung besser verewigen als durch atomare Raketenzäune rechts und links?