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AFGHANISTAN Lange Nacht

Wenn die Sowjets ihre Truppen aus Afghanistan abziehen, möchten sie die Kontrolle über die Wirtschaft behalten. Denn Moskau hat Milliarden Rubel in dem Land investiert. *
aus DER SPIEGEL 13/1988

Fest steht nur, daß sie gehen. Wann und wie das geschieht und was danach passiert, das ist noch völlig offen«, so der Außenminister von Pakistan, Sain Nurani, vorige Woche in einem Radio-Interview in Genf über die Aussichten auf den Abzug der sowjetischen Truppen aus dem besetzten Afghanistan.

Die Sorge, nach neun Jahren unentschiedenem Partisanenkrieg zu einem dauerhaften Waffenstillstand in dem Ödland am Hindukusch zu kommen, ist inzwischen zu einem absurden Welttheater geworden.

Gut ein Dutzend Mächtige fühlen sich berufen, über die Zukunft von Afghanistan Verhandlungen zu führen. Sie haben alle eines gemeinsam: Keiner von ihnen hat ein legales Mandat, im Auftrag der 18 Millionen leidgeprüften Afghanen zu reden.

Das gilt für die Großmächte Sowjet-Union und USA ebenso wie für deren beiderseitige Satelliten: die Regierung von Pakistan, die auf US-Wunsch die antirussischen afghanischen Partisanen unterstützt und drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat, wie für das kommunistische Regime in Kabul, das durch einen Putsch an die Macht gekommen ist und ohne die militärische Hilfe der Sowjets längst hinweggefegt worden wäre.

Gleichwohl führen beide, die Großmächte in der Kulisse, durch Vermittlung der Uno seit vier Wochen in Genf Verhandlungen über einen afghanischen Frieden - bisher ohne Ergebnis.

Auch die untereinander heillos zerstrittenen Parteien der Mudschahidin, in Genf nur als Beobachter dabei, konnten bislang kein Konzept für ein tragbares Ende des Krieges vorlegen.

Der Bereitschaft, das Feuer einzustellen - der geringste Konsens, auf den sich die politischen Führer der sieben Mudschahidin-Gruppen einigen konnten -, steht zudem die Entschlossenheit von 19 ihrer frontnahen Kommandanten entgegen, den Kampf gegen die verhaßten »Schurawi« (Russen) auf jeden Fall zum Endsieg fortzusetzen.

Beide Seiten, sowohl Moskau und Kabul als auch Teile der Widerstandskämpfer, bemühen sich darum, den 1973 gestürzten afghanischen König Sahir Schah, 73, für ihre Sache zu gewinnen. Der Greis, der, meist kränklich, im Exil in Rom lebt, hat trotz allen Liebeswerbens öffentlich noch nicht erkennen lassen, ob er sich für die Rolle einer überparteilichen Galionsfigur gewinnen läßt.

Nicht genug damit: Der Termin für den sowjetischen Truppenabzug, der längst beschlossene Sache schien, ist durch widersprüchliche Aussagen aus Moskau wieder fraglich.

Anfang Februar hatte Kremlchef Michail Gorbatschow erklärt, die Rückkehr der 115 000 in Afghanistan kämpfenden Sowjet-Soldaten werde am 15. Mai beginnen, wenn sich die Verhandlungspartner in Genf - wie erwartet - bis zum 15. März auf ein gemeinsames Friedenspapier geeinigt hätten.

Durch nachgeschobene Forderungen der Pakistaner wurde nichts daraus, der vorgesehene Termin verstrich. Noch am Stichtag erklärte der Sprecher des Moskauer Außenministeriums, Gennadij Gerassimow, die von Gorbatschow genannte Schamfrist zum Junktim: Egal wann in Genf unterzeichnet werde, die Sowjet-Armee werde erst 60 Tage danach mit ihrem Rückzug beginnen.

Zwei Tage später widersprach ein anderer Sprecher des Außenministeriums, Wadim Perfiljew: »Die Sowjet-Union hat entschieden, ihre Streitkräfte aus Afghanistan abzuziehen, und das werden wir tun.«

Die Hoffnung, anläßlich des Washington-Besuchs von Sowjet-Außenminister Eduard Schewardnadse in der vorigen Woche endlich Aufschluß in dieser wichtigen Frage zu bekommen, erfüllte sich nicht.

Das einzige, worüber sich der Moskau-Emissär mit seinem amerikanischen Amtskollegen George Shultz einigen konnte, war der Termin für das nächste Gipfelgespräch zwischen Reagan und Gorbatschow am 29. Mai in Moskau.

Alle übrigen Fragen, die über den Weitergang der Abrüstungsverhandlungen in Genf, über die Krisenherde in Nahost und Mittelamerika, aber auch über den Rückzug aus Afghanistan, blieben völlig offen.

Schewardnadse ließ erklären, die Forderung Pakistans, die eine Einigung in Genf zur Zeit blockiert, sei für die Sowjets unannehmbar: daß nämlich die Sowjet-Union ihre »Hilfe« für das Kabuler Regime gleichzeitig ("symmetrisch") mit den Waffenlieferungen für die Mudschahidin beendet. Beides, so Moskaus höchster Diplomat ungewöhnlich unfreundlich, könne »nur ein Dummkopf« miteinander vergleichen.

Daß Moskau den Gipfel wegen der ungelösten Afghanistan-Probleme platzen läßt, halten alle politischen Beobachter für unwahrscheinlich. Gerätselt aber wird, ob die Sowjets unter »Hilfe« dasselbe verstehen wie die Amerikaner - nämlich allein Waffen.

Die Sowjets sind in dem benachbarten Bergland nicht nur seit dem Einmarsch vor neun Jahren militärisch engagiert, sondern - schon viel länger - auch in der Wirtschaft.

Das bettelarme Hochland, durch das herbe Klima und die unzugänglichen Bergregionen nur zu einem Achtel seiner Fläche für die Landwirtschaft nutzbar, gehört zu den Superreichen an bislang kaum erschlossenen Bodenschätzen.

Afghanistan hat mit mindestens 150 Milliarden Kubikmeter eine der großen Erdgasreserven der Welt - und das bisher erschlossene Gas wird fast zur Gänze in die UdSSR geleitet. Seine Eisenvorkommen sind mit 65 Prozent Eisengehalt hochwertiger als jedes Erzlager in der Sowjet-Union.

Und neben reichen Lagern an Kohle, Blei, Zink, Silber und Gold liegen auch die bedeutendsten Fundorte für Halbedelsteine wie Lapislazuli in Afghanistan.

Über 40 industrielle Großprojekte mit einer Investitionssumme von mehreren Milliarden Rubel hat die Sowjet-Union bisher in Afghanistan in Angriff genommen, das erste, eine 200 Kilometer lange Erdgasleitung von den afghanischen Erdgasfeldern bei Schiberghan über den Grenzfluß Amu-Darja in das sowjetische Industriezentrum Duschanbe, schon zu Beginn der siebziger Jahre.

Bereits unter König Sahir Schah war die Sowjet-Union mit 73 Prozent der gesamten Auslandsschuld größter Gläubiger Afghanistans. Durch den Krieg wurde die wirtschaftliche Abhängigkeit vom großen Bruder im Norden total.

Um die Sicherung der von den Sowjets finanzierten Ausbeutung von Bodenschätzen im nördlichsten Zipfel des Landes ging es, als 1981 die Regierung in Kabul der Moskauer Regierung das Recht einräumte, die Grenzregion mit eigenen Kräften zu kontrollieren.

Die meisten Wirtschaftsabkommen an der Nordgrenze wurden gar nicht durch die Regierungen, sondern von lokalen Behörden auf beiden Seiten unterschrieben. Erst vor zwei Wochen, nach dem Beginn der Gespräche in Genf, schloß der Bezirk Kurgantepa in der Tadschikischen Sowjetrepublik mit der Provinz Kundus in Afghanistan ein Abkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit.

Die Mudschahidin haben die Zahl der zur Zeit gültigen Wirtschaftsverträge zwischen sowjetischen und afghanischen Bezirken mit 409 angegeben, 300 davon kamen erst im vorigen Jahr zustande.

Ob und wie die Sowjet-Union die von ihr finanzierten Projekte nach einem Abzug der Sowjet-Armee sichern und nutzen will, davon war bisher weder bei den Verhandlungen in Genf noch bei den Gesprächen zwischen den Großmächten auch nur die Rede.

In Genf aber zirkuliert ein Geheimpapier, das angeblich aus »afghanischen Quellen« stammen soll, in seiner Diktion aber mehr einer Studie des amerikanischen Geheimdienstes CIA ähnelt:

»In Vorbereitung des möglichen Machtverlusts«, so der Text, »könnten die Kommunisten versuchen, im nordafghanischen Masar-i-Scharif eine Auffangstellung aufzubauen, in welche sie ihre Kader zurückziehen, um ein alternatives Verwaltungszentrum zu schaffen.«

Diese »Libanisierung« von Afghanistan hätte zudem für die Sowjet-Union

den Vorteil, ihre grenznahen Industriereviere gegen Angriffe der Mudschahidin besser verteidigen zu können.

Zur Zeit, so melden die Mudschahidin, sind die Sowjets dabei, ihre Gas-Pipeline auf afghanischem Gebiet durch eine Kette neuer Bunker zusätzlich zu sichern.

Die sowjetische Botschaft in Kabul, bisher einer der wichtigsten Außenposten, wurde mit einem abgetakelten Breschnew-Günstling besetzt, dem früheren Stadt-Parteichef von Moskau Nikolai Jegorytschew, 67, zuletzt Vizeminister für Viehzuchtmaschinenbau.

Moskaus Hauptsorge gilt der Frage, ob der Rückzug der afghanischen Genossen auch geordnet bleiben kann, wenn die antirussischen Kräfte in der Bevölkerung die Übermacht gewinnen.

Die Bilder von der überstürzten Hubschrauber-Flucht der Amerikaner aus dem belagerten Saigon sind der Welt noch in bester Erinnerung. Eine ähnliche Demütigung würde das Ansehen der Moskauer Führung selbst bei der eigenen Bevölkerung dauerhaft beschädigen.

Der Anführer der Mudschahidin-Allianz, Gulbuddin Hekmatjar, Chef der »Hisb-i-islami« (Islamischen Partei) und rigorosester Kommunistenfresser, ist zwar von seiner Drohung abgerückt, nach dem Abzug der Sowjets gebe es in Afghanistan »die lange Nacht der 30 000 durchschnittenen Kehlen«.

Jetzt begnügt er sich damit, allen denjenigen die Flucht aus dem Land zu empfehlen, die »Schuld auf sich geladen haben«, aber das wären »noch nicht einmal tausend Gottlose«. Den restlichen unter den 50 000 Parteimitgliedern in Afghanistan verspricht er eine politische Amnestie, »um sie zu guten Moslems zu erziehen«.

Für ihre prominenten Kabuler Parteigänger haben die Sowjets bereits Vorsorge getroffen. Wie Radio Peking meldet, wurden an 80 Spitzenfunktionäre, Mitglieder von Kabinett, Politbüro und ZK, bereits Visa zur Flucht in die Sowjet-Union ausgestellt, weiteren 800 Genossen ist für den Tag X die Zuflucht in die Kabuler Sowjet-Botschaft oder auf sowjetische Stützpunkte gestattet.

Jeder Flüchtling, so der Begleittext des Moskauer Passierscheins, soll nur eine Handtasche mit maximal zehn Kilo Gewicht mitnehmen, das Tragen von Waffen und Nahrungsmitteln ist verboten.

Auch falls es möglicherweise doch viel mehr werden, die das Land verlassen wollen, hat der Kreml bereits vorgesorgt:

15 000 Flüchtlinge will angeblich Indien aufnehmen, Bulgarien hat für weitere 10 000 gutgesagt.

[Grafiktext]

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[GrafiktextEnde]

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