Langer Anlauf, kurzer Sprung
Berlin, Arbeitszimmer des Bundeskanzlers, Juli 2004
Alles ist aufgeräumt. Der Schreibtisch, der Besprechungstisch, der Sofatisch, sie stehen da wie Ausstellungsstücke, keine Papiere liegen darauf, keine Akten. Gerhard Schröders Büro macht den Eindruck, als wäre alles getan.
Er sitzt weich in einem schweren Sessel, er hat die Beine übereinander geschlagen, die rechte Hand liegt auf der Lehne, sie hält den Rest einer Zigarre fest, die nicht mehr brennt. Kalt schwebt der Stumpen, Schröder macht langsame, vorsichtige Bewegungen. Er hat es nicht eilig.
»Was gibt''s?«, fragt er, und das hört sich an wie: Was gibt es noch? Schröder wirkt wie ein Mensch, der die wichtigen Dinge in seinem Leben hinter sich gebracht hat.
Es soll ein Gespräch über Reformen werden, über ein Land, das sich verändert hat oder noch verändern muss, ein Gespräch über das große Thema seiner Kanzlerschaft, ein Gespräch auch über ihn.
»Mmh.« Schröder brummt in sich hinein, man hat nicht den Eindruck, als würde ihn das gerade sehr interessieren. Er sucht Streichhölzer.
Man könnte vorn anfangen. Bei der Frage, was er sich vorgestellt hat, damals, 1998, als er in das Kanzleramt von Helmut Kohl eingezogen ist, in diese Gruft, die mit dunkler Eiche ausgekleidet war, als er die Republik lüften wollte, als es hieß, er sei ein Modernisierer. Welche Vorstellungen hatte er damals von Reformen?
Na ja, sagt Gerhard Schröder, damals gab es ja diese beiden Begriffe, Innovation und Gerechtigkeit, »Sie werden sich daran erinnern«. Pause, Stille.
»Kosovo«, sagt er schließlich, »Sie erinnern das sicher noch.« Er hat inzwischen ein Streichholzheftchen gefunden, beige mit schwarzer Aufschrift, »Bundeskanzleramt«, die Zigarre raucht wieder, Kosovo,
damals. Man musste Deutschland außenpolitisch zu einem souveränen Land machen, sagt er. Das Kosovo hat sich irgendwie vor Innovation und Gerechtigkeit geschoben, damals und jetzt wieder.
Man muss darauf warten, dass er an der Zigarre zieht, um das Gespräch zur Innenpolitik zurückzutreiben.
Als er 2002 wiedergewählt wurde, gab es da einen anderen Begriff von Reform?
Nun, sagt Gerhard Schröder, es war so, dass der Irak-Krieg vor der Tür stand, der Krieg stand über allem. Er ist schon wieder bei der Außenpolitik. Er spricht leise, aufgeräumt, wie jemand, der seine Erinnerungen diktiert. Er kann Fragen nach Innenpolitik mit langen Erzählungen über Außenpolitik unschädlich machen.
Dichter Rauch steht über dem Bundeskanzler, seine Antworten kann man vergessen, sie führen nicht weiter. Er hat alles gesagt, es ist alles getan, er will jetzt in Ruhe rauchen. Zigarren waren wichtig für seine Kanzlerschaft.
Hinter ihm liegt der Berliner Tiergarten, Regen fällt vom Himmel, es ist Sommer,
aber es sieht aus wie Herbst. Das Land wartet, aber nicht genüsslich wie sein Kanzler, angespannt eher. Wann geht es aufwärts, wann trägt die Agenda 2010 Früchte?
Noch tut sich wenig. Die Beiträge zur Krankenversicherung sind um 0,1 Prozentpunkte gesunken. Die Zahl der Arbeitslosen hängt bei 4,2 Millionen. Die Konjunkturprognosen sind leicht nach oben korrigiert worden, auf 1,8 Prozent, aber das liegt am Aufschwung im Ausland. Alles wie gehabt.
Trotzdem sieht dieses Land anders aus als 1998. Der Kanzler, ein Sozialdemokrat, speist mit Gattin beim Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Man versteht sich prima, mit den Gewerkschaften kommt Schröder nicht mehr klar.
Es hat sich viel verändert unter diesem Kanzler, aber nicht der Kern von allem. Es gibt noch immer einen Reformstau in Deutschland.
Passiert noch was? Rafft sich Schröder zu einem neuen Anlauf auf? Es wäre der dritte. Einer ging ins Leere, einer mündete in die Agenda 2010.
Im Moment herrscht Ruhe. Das Land liegt da wie ein großes Tier, das verdaut. Bald hat es sechs Jahre mit diesem Kanzler hinter sich, sechs Jahre Reden über Reformen, sechs Jahre Zaudern und Handeln.
Die Frage, ob es weiter geht und wie, lässt sich auch über den Blick zurück beantworten. Der Bundeskanzler redet nicht viel über den Weg zur Agenda 2010. Aber es gibt andere, die reden, Leute, die nah bei ihm gewesen sind in den letzten Jahren. Wenn sie erzählen, entsteht ein Bild von Schröders Kanzlerschaft, von seinen beiden Anläufen zur Reform des Sozialstaats. Eine Rekonstruktion wird möglich.
Noordwijk in Holland, Strandnähe, 10. Mai 1997
Das Haus ist eigentlich zu klein für Bodo Hombach, der ein gewaltiger Mensch ist, lang und massig. Das Haus, ein Häuschen eher, hat ein spitzes Dach und ist aus rotem Backstein gebaut. Von drinnen sieht man das Meer nicht. Man sieht Häuser, die genauso aussehen wie das von Hombach, Häuser mit Gardinen. Die Welt wirkt klein und eng hier.
Aber die Gedanken sind groß. Hombach zieht sich oft in dieses Haus zurück, um nachzudenken. Er will die SPD neu erfinden.
Er will sie regierungsfähig machen. Die Zeit ist günstig dafür. Es ist das Jahr 15 der Regierung Kohl, und die Deutschen sind seiner überdrüssig. Im kommenden Jahr ist die Bundestagswahl.
Das Haus in Noordwijk gehört Hombachs Mutter. Er selbst wirkt darin, als hätte er sich in eine Puppenstube verlaufen und müsste nun ständig aufpassen, nicht anzuecken, zumal er das Haus gern mit Gästen füllt. Diesmal sind Rolf Heinze und Matthias Bucksteeg da. Sie essen Hering, trinken Bier oder Rotwein und denken nach. Sie wollen einen Artikel schreiben.
Hombach hat als Fernmeldehandwerker angefangen, machte einen Abschluss als graduierter Sozialarbeiter und ist jetzt als Wirtschaftsminister in Nordrhein-Westfalen im Gespräch. Seit Beginn der achtziger Jahre trifft er sich häufig mit Wissenschaftlern, die ihn mit Ideen aufladen sollen. Er begreift schnell und kann sehr liebenswürdig sein. Wenn er den Soziologen Oskar Negt trifft, lobt er ihn überschwänglich für sein jüngstes Buch. Vorher hat er über Autotelefon bei einem Mitarbeiter angefragt, wie Negts neues Buch heißt und was ungefähr drinsteht.
Hombach hat begriffen, dass die Zeiten des Verteilens vorüber sind. Vor allem eine Zahl macht ihm Sorge. Unter der Regierung Kohl sind die Lohnnebenkosten von 34 auf 42 Prozent gestiegen. Das schmälert die Chance der deutschen Unternehmen im internationalen Wettbewerb. Hombach weiß, dass der Sozialstaat für Massenarbeitslosigkeit und eine Gesellschaft mit wenig Kindern nicht gedacht war. Die Frage ist nur, ob die SPD das begreifen will.
Es gibt Hering am Mittag, Hering am Abend. Man sitzt schwer in den Sesseln und denkt. Draußen schreien die Möwen.
Rolf Heinze ist Soziologie-Professor an der Universität Bochum und gehört seit langem zum Kreis von Hombach. Er ist von kompakter Statur und trägt das Haar mittellang wie in den Siebzigern.
Bucksteeg sagt von sich, er sei »nie tief drin gewesen« in politischen Dingen. Er schreibt vor allem Reden für Hombach und achtet darauf, dass die meisten Sätze nicht mehr als fünf Wörter haben. Hombach nennt ihn »den Kleinen«. Er ist deutlich schmaler als die beiden anderen.
Heinze spricht weitschweifig, Bucksteeg lacht viel, und Hombach fordert die anderen auf, mehr zu essen, mehr zu trinken. Von ihm geht eine sultanische Behaglichkeit aus, er kann aber auch Gedanken verbinden und die Ideensuche weitertreiben.
Bei Bucksteeg und Heinze liegen dicke Stapel mit Papier auf den Knien, Reden, Zeitungsartikel, Reformkonzepte anderer Länder. Daraus lesen sie abwechselnd vor. Hombach begeistert sich für alles, was die Eigenverantwortung der Bürger stärkt und den Staat aus der Pflicht nimmt.
Heinze sagt manchmal: »Bodo, wie willst du das den Sozis erklären?« Dann sagt Hombach: »Lass uns erst mal ein Konzept entwickeln. Wie wir es durchsetzen, überlegen wir, wenn wir die Macht haben.«
Nach zwei Tagen reisen Hombach und Heinze ab. Bucksteeg setzt sich an den Strand und soll die Gedanken zum Klingen bringen. Er hat vier Matjesbrötchen und ein Sixpack Grolsch dabei. »Politik hat zu steuern, nicht zu rudern«, schreibt Bucksteeg. »Politik ist zum Pragmatismus verurteilt, allerdings zu einem Pragmatismus mit Prinzipien.« Die Sozialdemokraten waren bislang eher für eine Politik der heißen Herzen.
Hombach genießt es zu provozieren. Er will das große Spiel spielen, er will die SPD im Bund regierungsfähig machen, damit er selbst mitregieren kann. Dafür braucht er einen Politiker, der eine Chance hat, Kanzler zu werden. Diesen Mann sieht er in Gerhard Schröder, dem Ministerpräsidenten von Niedersachsen.
Der Artikel, den Hombach, Heinze und Bucksteeg in Noordwijk schreiben, erscheint am 19. Mai 1997 im SPIEGEL. Die Überschrift heißt: »Gegen den Luxus der Langsamkeit«. Im Untertitel wird ein Text »über die deutsche Krankheit und den richtigen Weg in eine moderne Innovationsgesellschaft« angekündigt. Als Autor zeichnet Gerhard Schröder.
Osnabrück, Stahlwerk Georgsmarienhütte, September 1994
Der Ministerpräsident von Niedersachsen weiht einen neuen Elektroofen ein. Er
glüht bei 1650 Grad, er brummt leise, ein gefräßiges Monster, das Altstahl schluckt und dann knistert und dampft, bis neuer Stahl entstanden ist.
Schröder trägt einen weißen Schutzhelm und einen blauen Zweireiher mit goldenen Knöpfen. Er sieht ein bisschen nach Arbeiter aus und ganz viel nach Unternehmer. Als er den Helm absetzt, bleibt der Unternehmer übrig.
Auch Jürgen Großmann trägt gern Sakkos mit goldenen Knöpfen. Er ist der Besitzer des Stahlwerks Georgsmarienhütte und ein Freund Schröders. Als Ministerpräsident von Niedersachsen hat sich Schröder immer mehr der Industrie angenähert. Er sitzt im Aufsichtsrat von Volkswagen und gilt als »Automann«.
Von Großmann hört er, welche Rahmenbedingungen sich ein Unternehmer vom Staat wünscht. Das Stahlwerk wird zu einem Referenzraum seines Denkens.
Im Frühling 1997 fahren sie zusammen in die USA, treffen Bill Gates von Microsoft und einige Helden der wild aufblühenden New Economy. Auf dem Rückflug zeigt sich der Kanzler gegenüber Großmann beeindruckt vom Modell Amerika.
Als Schröder im März 1998 zur Wiederwahl in Niedersachsen antritt, hat er das Image eines Mannes, der einen Aufbruch organisieren kann. Dieses Image ist nicht gedeckt durch seine Arbeit als Ministerpräsident. Er hat das eher über seine Offenheit gegenüber Unternehmern geschafft. Er hat sich etwas von ihrem Image der Dynamik und Innovationsfreude geliehen.
Ihm fehlen eigene Ideen für die Erneuerung. Dafür braucht er Hombach. Sie verbindet dasselbe Ziel: raus aus der Provinz, Deutschland regieren.
Hannover, Staatskanzlei, 1. März 1998
Es ist Wahlabend. Schröder hat gewonnen, grinst fröhlich vom Sofa, auf das sich auch Bodo Hombach gepflanzt hat, so breit, dass neben Schröder kein Platz mehr ist für andere. Zusammen wollen sie nun Bonn an-
greifen. Schröder hat 3,6 Prozentpunkte hinzugewonnen und damit Oskar Lafontaine aus dem Rennen um die Kanzlerkandidatur der SPD geworfen.
Hombach lässt die Ideenmaschine auf Hochtouren laufen, lädt ständig Leute ein, nach Noordwijk und andernorts. Die Botschaften, die gesucht werden, sind jetzt knapper. Es geht um Slogans.
Ein neuer Mann rückt in den engeren Zirkel der Ideengeber Schröders vor. Es ist Wolfgang Streeck, Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Er arbeitet eng mit Walter Riester zusammen, dem stellvertretenden Vorsitzenden der IG Metall und Mitglied in Schröders Schattenkabinett. Sie suchen nach neuen Konzepten für den Sozialstaat.
Ihnen ist klar, dass es die Unternehmen überfordert, wenn die Beiträge für die Sozialversicherungen weiter steigen, was angesichts von demografischer Entwicklung und Massenarbeitslosigkeit unvermeidbar erscheint. Riester und Streeck denken daran, dass die Arbeitnehmer einen Teil ihrer Rente über Tariffonds selbst ansparen. Sie denken auch daran, die Sozialversicherungen weitgehend über Steuern zu finanzieren.
Streeck ist ein schlanker Mann mit dunklem Haar und einem Schnurrbart. Er redet präzise und tauscht sich häufig mit Heinze aus. Auch er wird von Hombach nach Noordwijk eingeladen und isst beim Denken Hering. Mit anderen zusammen entwirft er Ideen für Reden von Schröder.
Streecks Vorstellung von einer Rede des Kanzlerkandidaten sieht ungefähr so aus: dem Volk und der SPD sagen, dass eine harte Zeit bevorsteht, dass sich viel verändern, dass jeder Einbußen hinnehmen muss, damit der Wohlstand insgesamt erhalten bleibt. Dann im Groben aufzählen, was zu tun ist: nicht Einzelmaßnahmen nebeneinander stellen, sondern großes, vernetztes Handeln.
Von Schröder hört er diese Rede nicht. Auf Wahlkampftour redet der Kandidat nicht, um zu sagen, was er meint. Der Kandidat redet, um zu testen, was er am besten meinen soll, damit er die Wahlen gewinnen kann. Streeck ist beunruhigt.
Als sich Schröders Schattenkabinett trifft, geht es nicht um Inhalte. Es geht darum, Fotos machen zu lassen.
Im Sommer fliegt Schröder in die USA, um Bill Clinton zu besuchen. Wieder ist der Stahl-Unternehmer Jürgen Großmann dabei. Auf dem Hinflug sagt der: »Gerd, ich werde dich nicht deiner schönen Augen wegen wählen, sondern damit du den Stillstand beseitigst. Du musst schon was machen.« Schröder: »Ich mach auch was.« Was er machen will, sagt er nicht.
Es ist ohnehin spät. Tony Blair hat Labour in Großbritannien auf einen neuen Kurs eingeschworen, bevor er in den Wahlkampf zog.
Am 3. September, dreieinhalb Wochen vor der Wahl, hält Schröder im Bundestag eine Rede in der Haushaltsdebatte. Vielleicht, denkt Streeck, wird der Kandidat endlich Farbe bekennen. Doch Schröder redet, wie Sozialdemokraten immer geredet haben. Den Alten »an die Rente zu gehen ist nicht nur sozial ungerecht«, ruft er, »nein, es ist unanständig, was Sie da machen«. Er verspricht, einen Teil von Kohls Sozialreformen zurückzunehmen.
Streeck ist enttäuscht. Der Kandidat gibt sich den Anschein des Reformers, aber es ist ein ungedecktes Bekenntnis. Noch hat niemand gehört, wie sich Schröder seine Regierungszeit vorstellt.
Mülheim an der Ruhr, »Gasthaus Schmeling«, November 1998
Ein rustikaler Raum, Balken an der Decke, die Spezialität des Hauses ist Blutwurst auf Endivienkartoffeln. Im Herbst gibt es ganze Gänse.
Vier Männer sitzen beisammen. Es sind Hombach, der in Mülheim wohnt, Heinze,
Streeck und Riester, der neue Arbeitsminister. Sie sind in Feierlaune. Schröder ist seit dem 27. Oktober Bundeskanzler.
Es wird gelacht, geplant. Riester wirft sein Konzept für Tariffonds mit schnellen Strichen auf einen Bierdeckel. »Donnerwetter, Walter«, kräht Hombach. Endlich kann man umsetzen, was man sich über Jahre ausgedacht hat. Am Nebentisch sitzen Leibwächter, draußen stehen dicke Limousinen. Für Heinze ist es der Beweis, dass die Macht wirklich da ist.
Über der Runde liegt der Zauber des Anfangs. Es herrscht eine Euphorie des Wollens. Sie wollen das Land verändern, sie wollen den Sozialstaat zukunftsfest machen, auch wenn das wehtut. Sie haben Kraft, Hoffnung, Schwung. Die Arbeitslosenquote liegt bei 10,2 Prozent. Schröder hat versprochen, dass er die Zahl der Erwerbslosen spürbar senken wolle.
Bonn, Kanzleramt, November 1998
Matthias Bucksteeg sitzt in seinem Büro auf einem Stuhl, den die Mitarbeiter Kohls in 16 Jahren abgesessen haben, und malt auf gelbes Papier Organigramme. Es sind Pläne, wer im Kanzleramt an welcher Stelle Reformpolitik machen soll.
Noch herrscht Leere auf der Etage des Kanzlers. Ein halbes Dutzend Leute arbeitet hier kurz nach der Machtübernahme, darunter Bodo Hombach als Kanzleramtsminister und Bucksteeg als Mädchen für alles. Heinze ist Berater und schaut gelegentlich vorbei. Er hat meist Riesenstapel Papiere dabei, Ideen für den Neuanfang.
Aber niemand hat Zeit zu lesen. Es geht eher darum, Telefonnummern rauszusuchen. Wie erreicht man das Weiße Haus oder Downing Street No. 10?
Die neuen und die alten Mitarbeiter des Kanzleramts begegnen sich misstrauisch. Die Beamten schreiben ihre Redevorlagen im Ton von Helmut Kohl, den sie in vielen Jahren verinnerlicht haben. Auch das kostet Zeit: Kohl aus Schröders Manuskripten zu eliminieren, damit das Neue nicht wie das Alte klingt.
Aber was ist das Neue? Zu Heinzes Entsetzen ist es das Uralte. Als die Regierungsmaschine ins Laufen kommt, wird sie erst einmal damit beschäftigt, Schröders Wahlversprechen abzuarbeiten. Der Kanzler lässt einen Teil der Sozialreformen aus der Ära Kohl zurücknehmen. Der demografische Faktor bei der Rente wird ausgesetzt, der Kündigungsschutz wieder ausgebaut, genauso die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.
Der Bundeskanzler hat längst nicht so viel Macht, wie Heinze im »Gasthaus Schmeling« dachte. Die Gewerkschaften verlangen einen Preis dafür, dass sie Schröder im Wahlkampf unterstützt haben. Den Bierdeckel kann Riester wegschmeißen, Tariffonds sind mit den Gewerkschaften nicht zu machen. »Die führen sich hier auf, als hätten sie die Wahl gewonnen und nicht wir«, sagt Hombach zu einem Besucher.
Auch Oskar Lafontaine, Finanzminister und Parteivorsitzender, nagt an Schröders Macht. Er will eine Nachfragepolitik durchsetzen, also die Kaufkraft der Arbeitnehmer stärken. Hombach setzt dagegen auf eine »Angebotspolitik von links": die Unternehmer stärken, den sozial Schwachen die Chance zum Aufstieg einräumen. Gegen diesen Ansatz gibt es Unwillen in Fraktion und Partei. Der Kanzler wird von allen Seiten eingezwängt, die Macht ist zerstückelt.
Schröder sitzt in einem Zimmer, das mit Eiche getäfelt ist, Wände, Regale, alles dunkel, verschrammt, bedrückend. Nur Schröders Schreibtisch ist aus hellem Birnbaumholz. Kohl hat seinen Tisch mitgenommen. Er war aus Eiche.
Gerhard Schröder denkt an Soldaten, an Krieg. Er muss die Regierungsfraktionen davon überzeugen, dass die Luftwaffe im Kosovo Einsätze gegen die Serben fliegen darf. Er hat wenig Zeit, sich um Reformen zu kümmern. Außerdem ist es in den ersten Monaten der Regierung Schröder nicht ganz leicht, sich bewusst zu machen, dass Deutschland dringend seinen Sozialstaat umbauen muss. Es ist die Hochphase der New Economy, die Zukunft glitzert.
Für Hombach, Heinze oder Streeck ist es eine Phase der Zweizeitigkeit. Sie leben im Jetzt, lesen die Meldungen über Börsenrekorde und Start-ups mit Wahnsinnsaussichten. Gleichzeitig denken sie sich in eine Zukunft hinein, in der das Wachstum karg ausfallen wird und die Sozialkassen überfordert sind. Für dieses Morgen wollen sie heute Politik machen.
Hombach versucht, den Kanzler gedanklich in die düstere Zukunft zu ziehen. Doch Schröder kostet lieber den Genuss des Gegenwärtigen aus. Er ist Kanzler, die Wirtschaft brummt. Er will ein Symbol für gute Zeiten sein und lässt sich in einem teuren Anzug von Brioni fotografieren.
»Wir müssen den Kanzler konzeptionell aufladen«, sagt Hombach seinen Mitarbeitern. Schröder zeigt sich besonders interessiert, wenn es konkret wird. Hombach erzählt ihm von einer Putzfrau. Sie wollte bei ihm anfangen, ihr Einkommen aber nicht versteuern und keine Sozialbeiträge
zahlen. Da stehe sie sich als Arbeitslose besser. Schröder sieht ein, dass man etwas tun muss.
Aber es passiert nicht viel. Politik ist jetzt auch: verhindern, dass Finanzminister Lafontaine Erfolg hat.
Am Abend des 10. März sucht Lafontaine Hombach in dessen Büro auf. Sie rauchen Zigarre, reden. Über den Inhalt des Gesprächs ist nichts bekannt. Sicher ist nur, dass Lafontaine wütend ist. Es gab am Morgen Ärger im Kabinett. Schröder war sauer, weil er vermutete, der eine oder andere Minister wolle den Unternehmen neue Belastungen aufladen.
Am nächsten Tag verzichtet Oskar Lafontaine auf das Amt des Finanzministers und des Parteivorsitzenden. Er begründet das mit »schlechtem Mannschaftsspiel« in der Regierung. In Wahrheit ist er gekränkt, weil er seine Vorstellungen einer Nachfragepolitik nicht durchsetzen kann.
Nun wird erwartet, dass die Regierung ernsthaft »Angebotspolitik von links« macht, also die Sozialsysteme reformiert. Schröder lässt sich zum Parteivorsitzenden wählen. Es gibt keinen starken Widersacher mehr in der SPD. Der Weg ist frei, vor allem für Hombach.
Eine Karikatur zeigt ihn als wuchtigen Supermann in hohen Lüften, ein kleiner Schröder sitzt auf seiner Schulter. Hombach amüsiert sich sehr, als er das sieht. Er führt das Kanzleramt mit pompöser Umtriebigkeit, findet aber keine Linie.
Als er einmal mit Bucksteeg zusammensitzt, beschreibt er seinen Politikstil so: »Kleiner, das ist wie mit einer Modell-
eisenbahn. Du gibst ihr einen Schubs, und wenn sie in die richtige Richtung fährt, bleibst du sitzen und freust dich. Wenn sie entgleist, springst du auf, läufst davon und hast nie etwas damit zu tun gehabt.«
Bucksteeg fühlt sich an einen »Jack in the box« erinnert, einen Springteufel. Der hüpft aus der Kiste, haut jemandem mit der Patsche auf den Kopf und schlüpft zurück in die Kiste, bevor er selbst gehauen werden kann.
Langsam geht die Verbindung vom kleinen Haus in Noordwijk zum Kanzleramt verloren. Damals gab es die Grenzen-losigkeit der Gedanken, nun stehen überall Grenzpfähle. Es war ein Fehler, Heinzes Frage nach der Durchsetzbarkeit zu vertagen.
Zudem schwindet die Hoffnung, sich Macht sichern zu können, indem man andere daran beteiligt. Seit dem 8. Dezember trifft sich das Bündnis für Arbeit, eine Runde aus Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften. Aber Schröder ist zusehends angeödet von den Runden im Kanzleramt. Man kann sich auf fast nichts einigen, nicht einmal auf ein gemeinsames Bild von der Wirklichkeit: Die Unternehmen, von den Gewerkschaften reich gerechnet, rechnen sich arm und die Arbeitnehmer reich.
In einer »Challenger« der Flugbereitschaft, auf dem Weg nach London, 8. Juni 1999
In der Maschine sitzen Schröder, Hombach, Bucksteeg und andere. Man plaudert, dann sagt der Kanzler: »Zeig mal her das Papier.« Er bekommt 18 Seiten gereicht, liest.
»Na, das ist doch ein ordentliches sozialdemokratisches Papier«, sagt Schröder, als er durch ist. Er grinst. Bucksteeg denkt: Der Kanzler weiß genau, dass dies eine Bombe ist für seine Partei. Nach anderthalb Stunden senkt sich die »Challenger« auf London.
Ein halbes Jahr zuvor hatte Downing Street No. 10 im Bonner Kanzleramt angerufen. »Lasst uns mal was zusammen machen«, war die Botschaft.
Im Kanzleramt ist man geschmeichelt. Tony Blair gilt bei Hombach und seinen Leuten als der coolste Politiker der Zeit. Es wird vereinbart, sich in London zu einem Gespräch zu treffen. Die Deutschen schlagen vor, eine Tagesordnung zu machen, und übersetzen das mit »agenda«. Die Briten verstehen, dass die Deutschen gleich ein Handlungskonzept erarbeiten wollen. So fällt aus einem Missverständnis heraus der Startschuss zum Schröder-Blair-Papier.
Man trifft sich erst in London, tauscht dann per Fax Textbausteine aus. Allmählich entsteht ein Handlungskonzept.
Bald darauf reisen die Briten zu einem Gegenbesuch nach Bonn. Auch Vertreter der sozialdemokratischen Parteien aus Österreich, Schweden und den Niederlanden sind eingeladen. Man trifft sich im Bungalow neben dem Kanzleramt.
In der Lobby sitzt die Gruppe an einem großen runden Tisch und ist umgeben
von den Gastgeschenken, die Helmut Kohl gesammelt hat. Das Bier ist warm, es wird nach Wein gestöbert. Man findet einige Flaschen Pfälzer Rotwein aus Kohls Beständen, zudem Cointreau, Doppelkorn, Asbach Uralt. Die alte BRD in Alkoholika.
Das Gespräch dreht sich darum, wie eine moderne Sozialdemokratie auszusehen hat. Plötzlich sagt jemand: »Was ist das für ein blauer Schimmer im Garten?« Alle gucken. Es ist das Licht eines Fernsehers, das aus dem Fenster eines Nachbarraums nach draußen flimmert.
»Wer ist dort?«, wollen die Gäste wissen. Die Deutschen erzählen, dass Helmut Kohl noch immer einige Räume bewohnt. Das löst Begeisterung aus. Europas Sozialdemokraten, auf der Suche nach einem großen Entwurf für die neue Gesellschaft, haben Spaß daran, dass sie unter einem Dach vereint sind mit dem Mammut des deutschen Konservatismus. Man lacht, scherzt, stößt an mit Pfälzer Rotwein.
Am 8. Juni stellen Tony Blair und Gerhard Schröder das gemeinsame Papier in London vor. Die Briten haben Berlin oder Bonn vorgeschlagen, aber Hombach wählt die Ferne, damit das Handlungskonzept eher britisch wirkt.
Schröder steht im Rosengarten von Downing Street No. 10 und redet frei. Auf das Papier geht er nicht ein. Blair liest ab, spricht ausführlich über die Inhalte. Letzten Endes geht es immer um das Gleiche: mehr Markt, weniger Staat, mehr Eigeninitiative der Bürger.
In Deutschland sorgt das Schröder-Blair-Papier für Ärger bei Gewerkschaften und Linken in der SPD und wird alsbald von Hombach oder Schröder nicht mehr verwendet. Jack ist aus der Box gehüpft, hat kurz zugeschlagen und ist sofort wieder verschwunden. Es war Höhepunkt und Schluss der großen Bekenntnisphase, das Ende von Hombachs Textindustrie. Sie hat eine Unmenge an Wörtern produziert, die haltlos durch den großen Debattenraum schwirrten, ohne jemals Anbindung an die Wirklichkeit des Regierens zu finden. Schröder ließ denken und schreiben, hielt aber Distanz.
Bonn, Arbeitsministerium, Juni 1999
Walter Riester ist ein schmaler Mann, der leise spricht und denkt, dass die Welt in Ordnung kommt, wenn man vernünftig miteinander redet. Jedenfalls dachte er das, bevor er Arbeitsminister wurde. Mit dieser Haltung wollte er den Umbau des Sozialstaats in Angriff nehmen. Jetzt weiß er nicht mehr weiter und telefoniert mit dem Kanzler.
Riester hat schlimme Monate hinter sich. Er konnte keinen seiner Vorschläge durchsetzen und musste ständig nachbessern. Erst sollte die Grenze für Minijobs bei 300 Mark liegen, dann bei 630 Mark. Erst sollten sie steuerpflichtig sein, dann steuerfrei. Er hört häufig: Dieser Minister versteht sein Handwerk nicht. Er sieht immer trauriger aus.
Da auch seine Tariffonds gescheitert sind, sucht er nach einem neuen Konzept für eine Rentenreform. Er stellt sich eine zweite Säule der Finanzierung vor: Die Beschäftigten ersparen sich einen Teil der Rente selbst und schließen dafür eine obligatorische Zusatzversicherung ab.
Am 17. Juni liest Riester groß in »Bild": »Riester plant Zwangsrente«. Riester weiß, wie wichtig »Bild« für den Kanzler ist. Er spricht mit ihm am Telefon, um sich seines Rückhalts zu versichern. Der Kanzler sagt sofort, dass er für eine obligatorische Zusatzversicherung sei. Dann sagt er, man müsse sich für den Fall, dass man dem öffentlichen Druck nicht standhalte, eine Alternative überlegen. Er schlägt vor, die Zusatzvorsorge zunächst freiwillig zu machen. Damit ist Riesters Idee einer obligatorischen Versicherung tot, der Einstieg in die umfassende Kapitaldeckung verhindert.
Nach ein paar Monaten im Amt weiß niemand so gut wie Walter Riester, dass Macht nur der hat, der sie beherzt anwendet. Schröder kann sich dazu nicht durchringen.
Ihm fehlt der Mannesmut vor den Thronen der Beharrungskräfte.
Bonn, Kanzleramt, 21. Juni 1999
Es ist Abend geworden. Schröder und Hombach wandeln durch den Garten des Kanzleramts. Auf der einen Seite fließt der Rhein, auf der anderen Seite rauschen die Autos über die Adenauerallee. Es sind die letzten Wochen der Bonner Republik, der Umzug nach Berlin steht bevor.
Was auf dem Spaziergang geredet wird, ist von Bodo Hombach überliefert. Vom Kanzler gibt es dazu keine Version.
»Ich will Balkanbeauftragter der EU werden«, sagt Hombach. »Willst du mich verlassen?«, fragt Schröder. »Der Job ist wie maßgeschneidert für mich«, sagt Hombach.
In den Wochen zuvor wurde immer häufiger berichtet, im Kanzleramt herrsche Chaos. Politik außer Atem, das ist der Eindruck von Hombachs Regime. Anders gesagt: Die Regierung steuert nicht, sie rudert.
Im Kanzleramt haben sich höfische Strukturen entwickelt. Eifersüchtig verstricken sich die Mitarbeiter in Kleinkriege, wer wie dicht am Kanzler ist. Zwei Sätze fallen häufig im internen Machtkampf:
»Das kann ich nur mit dem Kanzler selbst besprechen.«
»Das habe ich schon mit dem Kanzler abgesprochen.«
Beide Sätze sollen andere ausschließen, Diskussionen und Abstimmung abwürgen. So wird die Macht weiter zerstückelt, weil auch das Machtzentrum zerfällt.
Ein Mann, der ganz anders ist als Hombach, wird immer einflussreicher. Es ist
Frank-Walter Steinmeier, Staatssekretär im Kanzleramt, ein Verwaltungsrechtler und langjähriger Wegbegleiter Schröders. Ihm fehlt das Sultanische, manchmal Schweflige von Hombach. Er ist nüchtern, pragmatisch bis zur Langeweile. Aber er versteht etwas von Apparaten.
Von der Herrlichkeit einer Idee lässt sich Steinmeier nicht fortreißen. Im Zentrum seines Denkens steht der Satz: Wie kann ich etwas durchsetzen? Hombachs Leute bedenken Steinmeiers Arbeit mit einem hässlichen Wort: »kleinadministrieren«. Denn er hobelt von ihren Einfällen alles weg, was mit SPD, Fraktion und Bürokratie seiner Ansicht nach nicht zu machen ist.
Zwar sieht man jetzt Hombach immer häufiger bis spät in die Nacht in seinem Büro sitzen und mit Leuten reden, aber das sind seine privaten Anwälte. Er hat ein Problem mit seinem Haus in Mülheim an der Ruhr. Ihm wird vorgeworfen, dass ihm die Veba Immobilien AG beim Bau 200 000 Mark erlassen habe. Dieser Vorwurf wird nie bewiesen, aber er bringt Hombach in Verruf und frisst seine Zeit. Er verlässt das Kanzleramt und geht zur EU.
Nach Hombachs Weggang verfolgt Schröder eine Politik der »ruhigen Hand«. Zwar setzt seine Koalition Ökosteuer, Atomausstieg, Homoehe und eine Steuerreform durch. Aber das Wichtigste, der Umbau der sozialen Sicherungssysteme, wird weitgehend ausgespart. Riesters Rentenreform fällt mager aus, genauso eine Reform des Arbeitsmarkts.
Die Wirtschaft hat sich eingetrübt, die Börsenblase ist geplatzt. Im Januar 2002 wird Deutschland als erstes EU-Land gemahnt, es könnte die Maastricht-Kriterien verletzen. Vorgeschrieben ist, dass die Neuverschuldung nicht mehr als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen darf.
Schröder will seine Partei nicht gegen sich aufbringen. Sein Wunsch nach der Macht im Bund ist so groß, dass er sie nicht für die Sozialreformen aufs Spiel setzt.
Bei der Bundestagswahl am 22. September gewinnt Schröder knapp, nicht als Reformer, sondern als Flut- und Friedenskanzler. Das Hochwasser in Ostdeutschland und sein Widerstand gegen amerikanische Pläne für einen Krieg gegen den Irak retten ihn.
Als Schröder seine zweite Legislaturperiode beginnt, findet er etwas vor, was er schon von Helmut Kohl übernommen hatte: einen Reformstau.
Berlin, Parteizentrale der Grünen, 30. September 2002
Hans Eichel kommt mit einer Aktentasche. Er hat einen Ordner darin verstaut, eine Sammlung von ein paar Blättern, es sind
nicht viele, aber es steht alles drauf. Es ist Eichels Plan für Deutschland. Er glaubt, dass man etwas an den Sozialsystemen verändern muss, bei der Rente, beim Arbeitsmarkt, bei der Gesundheit.
Es ist Montag, in der Parteizentrale der Grünen treffen sich 14 Vertreter von SPD und Grünen zum ersten Tag ihrer Koalitionsverhandlungen. Die Aktentasche steht neben Hans Eichel, aber niemand will wissen, was drin ist. Eichel hört, dass »Arbeitsgruppen« gebildet werden sollen.
Arbeitsgruppen. Das Ganze wird vereinzelt. Hans Eichel ist jemand, der schnell bockig werden kann, er denkt: »Wenn das so ist, dann guck ich erst mal auf meinen Haushalt.«
In den Arbeitsgruppen redet er über Soll und Haben, über Konjunkturannahmen. Er spuckt Zahlen mit dem Tempo einer Rechenmaschine aus. Er nervt ein bisschen. Eichel ist in den letzten Jahren oft durch die Wirklichkeit widerlegt worden. Jemand von den Grünen sagt: »Wir wissen doch gar nicht, ob die Zahlen stimmen. Auf welcher Grundlage reden wir hier ü berhaupt?«
Eichel drückt sich in die Stuhllehne, er schüttelt den Kopf und sagt leise: »Das ist ja unglaublich.« Manchmal schnappt er nach Luft, er wird immer kleiner.
Gerhard Schröder sitzt oft stumm in seinem Stuhl und saugt an einer Zigarre. Er sagt nicht viel. »Da passiert erst mal gar nichts«, sagt er höchstens, als die Debatte um die Zukunft der Renten irgendwo zwischen Beitragsbemessungsgrenze und Schwankungsreserve stecken geblieben ist.
Irgendwie interessiert ihn das alles nicht. Der Grund dafür, sagen seine Mitarbeiter, sei, dass der Kanzler vom Wahlkampf erschöpft sei. Aber er ist nicht nur erschöpft. Schröder hat keine Illusionen mehr.
Was soll das hier? Was bringt es? Die Bundestagswahl hat er allein gewonnen, mit dem Irak und der Flut. Er hat kein Vertrauen mehr in den politischen Betrieb, in die großen Runden, wo man redet und redet, ohne Ergebnis meist.
Schröder glaubt nur noch an einzelne Leute, an sich, an Peter Hartz, den VW-Vorstand und Arbeitsmarkt-Modernisierer, an Bert Rürup, den Wirtschaftsweisen, der für ihn eine Reform des Renten- und Gesundheitssystems ausarbeiten wird, alles außerhalb des politischen Betriebs.
Noch während der Koalitionsverhandlungen ernennt Schröder den Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Wolfgang Clement, zum Superminister für Wirtschaft und Arbeit. Die Person ist die Botschaft, nicht der Koalitionsvertrag.
Clement ist jemand, von dem man nicht sagen kann, mit welchem Programm er nach Berlin kommt. Er will etwas machen, irgendetwas Neues, er ist ein politischer Möbelpacker. Er hebt Dinge an, und wenn sie zu schwer sind, setzt er sie wieder ab. Er ist immer in Bewegung, wie Hombach. Aber bei Clement vermutet Schröder mehr Tatkraft.
Hans Eichel hantiert mit seinen Zahlen bis zum letzten Tag der Koalitionsverhandlungen. Er redet über viele kleine Dinge, auch über Steuerprüfer auf Flohmärkten. »Hans, nun hör doch mal auf«, sagt Gerhard Schröder.
Berlin, Kanzleramt, Dezember 2002
Im November fällt der Ifo-Geschäftsklimaindex zum sechsten Mal hintereinander. Im 3. Quartal des Jahres 2002 gab es nur 0,3 Prozent Wachstum. Nach einer neuen Steuerschätzung werden 89 Milliarden Euro bis zum Jahr 2006 fehlen. Im November sind 4,025 Millionen Menschen ohne Arbeit. Wenn der Winter kalt wird, können es bald über fünf Millionen werden. In der Rentenkasse fehlen fast vier Milliarden Euro. Der Rentenbeitrag wird auf 19,5 Prozent steigen. Die Krankenkassen rechnen mit einem Defizit von drei Milliarden Euro. Die Beitragssätze werden nach oben gehen. Wenn alles so weitergeht, könnten die Lohnnebenkosten auf über 50 Prozent steigen.
Zahlen. Horrorzahlen. Sie werden in den Monaten November und Dezember des Jahres 2002 über dem Land ausgesetzt,
sie legen sich darüber wie Giftgaswolken. Es muss etwas passieren.
Steinmeier empfängt die Staatssekretäre der Fachministerien im Kanzleramt. Es geht um die Frage, wie man aus den schlechten Zahlen gute machen kann.
Gerhard Schröder weiß, dass solche Gespräche stattfinden. Er weiß nicht, worum es dabei genau geht.
Am 20. Dezember 2002 veröffentlicht der Berliner »Tagesspiegel« ein »Strategiepapier«, das im Büro von Steinmeier geschrieben worden ist. Der Sozialstaat, heißt es, muss umgebaut werden, wenn er erhalten bleiben soll. Die Zahlen deuten darauf hin, dass gekürzt wird, überall, auch beim kleinen Mann, bei dem, der eigentlich SPD wählt.
Gerhard Schröder weiß, dass es dieses Papier gibt. Er weiß nicht, was genau der Inhalt ist. Als das Papier öffentlich wird, greift Schröder einfach zu. »Ich mach mir das zu Eigen«, sagt er.
Er hat keine andere Chance mehr. Der Kanzler ist nicht zu den Themen gekommen, die Themen sind zu ihm gekommen. Nach zwei Jahren Stagnation in der Wirtschaft ist die Lage so desolat, dass etwas geschehen muss. Die Zukunft, für die Hombach, Heinze und Streeck Konzepte entwickeln wollten, ist Gegenwart geworden. Aber es gibt keine Euphorie des Wollens mehr, nun herrscht der Druck der Verhältnisse. Schröder ist zu Reformen gezwungen.
Die Zeit dafür ist längst nicht so günstig wie im Jahr 1999. Eine boomende Wirtschaft kann leichter verkraften, wenn ihr durch Sozialreformen Kaufkraft entzogen wird. Einsparungen in der Krise können die Krise zunächst verstärken. Schröders Zauderei rächt sich.
Im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung sitzt der Regierungssprecher Béla Anda vor den Sprechern der Ministerien. Sie wissen nicht, was sie mit diesem Papier anfangen sollen. Sie fragen, wer es gemacht hat, welchen »Reifegrad« es hat. Béla Anda weiß es auch nicht.
»Seid vorsichtig«, sagt er.
Hannover, in einer Anwaltskanzlei, Februar 2003
Im Erdgeschoss steht eine Vitrine, in der ein Bademantel des Boxers Darius Michalczewski ausgestellt ist. An den Wänden hängen Boxhandschuhe hinter Glas, Muhammad Ali hat sie einmal getragen. Es gibt auch ein Gemälde, auf dem man das Brandenburger Tor und das Gesicht von Gerhard Schröder erkennen kann, Öl auf Leinwand.
Die Kanzlei gehört Götz von Fromberg. Er ist ein Freund von Schröder, vielleicht der beste. Sie haben früher zusammen Tennisdoppel gespielt. Jetzt gehen sie einmal die Woche mit den Familien essen und manchmal zu den Heimspielen von Hannover 96, ohne die Frauen. Fromberg sieht aus wie ein Bär mit Stoppelbart. Er redet laut und zieht mit einer kalten Zigarre Schleifen durch die Luft.
Götz von Fromberg weiß, was in Hannover los ist. Er kennt die Leute. Sie kommen zu ihm, oder sie rufen ihn an.
Vor kurzem erzählte ihm ein Mann, der einen Fuhrpark von 38 Lkw besitzt, was er alles an den Hacken hat. Nur Ärger. Unsicherheit. Chaos. Wegen der Maut. Ein Bauunternehmer berichtete von seinen Problemen im Osten. Auch da: nur Ärger.
Während der Woche sammelt der Anwalt die Stimmen des Mittelstands ein, und samstags, wenn über Hannover 96 alles gesagt ist, reden sie über Lkw-Züge und Probleme im Osten, eben über das, »was an der Basis los ist«, wie Fromberg sagt. Sie trinken guten Rotwein und rauchen gute Zigarren, und Schröder hört sich alles genau an. Manchmal fragt er: »Götz, was meinst du denn dazu?«
Götz von Frombergs Anwaltskanzlei hat dieselbe Funktion wie das Stahlwerk von Jürgen Großmann, sie ist ein Referenzraum
für Gerhard Schröders Denken. Seine eigentliche Basis. Sie ist ihm näher als die Basis der SPD. Er versteht sie besser.
Es gibt Tage, an denen Fromberg den Freund voller Entschlossenheit erlebt. Dann sagt Schröder: »Götz, ich ziehe das jetzt durch. Es gibt keine Alternative.« Und Fromberg antwortet: »Richtig, es gibt keine Alternative.«
Es ist Februar 2003, die SPD hat gerade die Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessen verloren.
Berlin, Katholische Akademie, 13. Februar 2003
Sigrid Krampitz ist eine Frau, die nicht besonders auffällt. Eine eher kleine, schmale Gestalt, sie redet nicht viel, aber sie weiß alles. Krampitz leitet das Kanzlerbüro, sie ist Schröders
Vertraute.
Eben hat Herfried Münkler einen Vortrag zum Thema »Zivilgesellschaft« gehalten. Sigrid Krampitz steht mit Mitarbeitern des Bundeskanzlers zusammen, Steinmeier ist dabei, Reinhard Hesse, der Redenschreiber, Thomas Steg, der stellvertretende Regierungssprecher.
Sie sind Gerhard Schröders neue Gehilfen. Es gab sie schon, als Bodo Hombachs Denkfabrik noch rauchte, aber sie waren weniger wichtig damals. Jetzt sind sie hochgerückt. Schröder kennt sie aus seiner Zeit in Hannover, ihre Gedanken schwirren nicht davon, sie arbeiten eng am Mann. Er kann sich auf sie verlassen.
Sigrid Krampitz hat ihre Handtasche dabei, sie zieht einen Brief hervor. Wolfgang Gerhardt hat ihn geschrieben, der Fraktionsvorsitzende der FDP. Gerhardt fordert eine Erklärung der Bundesregierung zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes.
Es gibt 4,623 Millionen Arbeitslose. Das Land ist depressiv. Der Ifo-Geschäftsklimaindex bewegt sich kaum nach oben. Gerhardt will die Regierung treiben.
»Was machen wir damit?«, fragt Sigrid Krampitz.
Sie reden im Stehen. Sie glauben, dass Gerhardts Brief eine Chance ist, wenn man die richtige Antwort darauf findet. Man muss aus der Defensive raus. Heute Morgen hatte der Bundeskanzler eine Regierungserklärung zum Irak abgegeben. Es war ein starker Auftritt. Der Tag hat Mut gemacht. Man könnte von hier aus einen Bogen schlagen, Außenpolitik mit Innenpolitik verbinden, neue Stärke in der Welt, starke Erneuerung im Land. So ungefähr könnte es gehen.
Die Frage ist nur: Wie macht man es? Und wo macht man es? Im Parlament? In einer Universität? Es soll eine Rede werden, eine große Rede, so viel ist klar.
Berlin, Kanzleramt, 17. Februar 2003
Vier Tage danach, an einem Montagmorgen, im Arbeitszimmer des Bundeskanzlers: Frank-Walter Steinmeier redet mit Gerhard Schröder über die Ideen, die in der Katholischen Akademie geboren wurden. Schröder entscheidet, dass es eine Regierungserklärung geben wird, »in einer Sitzungswoche im März«, sagt er.
Es ist ein Moment, der einen neuen Schröder zeigt, einen Schröder, der sich zutraut, Macht anzuwenden auch da, wo es am meisten wehtut. Die kurze Frist lässt keine Gelegenheit für Debatten, für Abstimmung, für Kompromiss. Schröder entscheidet sich, einen eigenen Plan vorzulegen. Damit wirft er sein Gewicht als Bundeskanzler in die Waagschale, damit knüpft er sein politisches Schicksal an sein Bekenntnis zu Reformen. Es wird ernst, nach viereinhalb Jahren.
Er sitzt jetzt nicht mehr in einem Büro, das sein Vorgänger in 16 langen Jahren zerschrammt hat. Er ist der erste Kanzler der Berliner Republik. Von seinem Zimmer aus kann er sehen, wie der Potsdamer Platz ein bisschen an den Wolken kratzt. Schröder hat der großen Bundesrepublik einen neuen Platz in der Welt ertrotzt. Sie steht nicht mehr folgsam an der Seite der Amerikaner. Sie sucht sich einen eigenen Weg. Dass er das gewagt hat, macht ihn selbstbewusster.
Er hat auch nicht mehr die ganz große Angst, die Macht zu verlieren. Er hat vier Jahre hinter sich, er ist wiedergewählt worden. Das macht ihn unabhängiger.
Die Rede will er möglichst noch vor dem Ausbruch des Krieges halten. Es darf nicht der Eindruck entstehen, die deutsche Haltung zum Irak solle von innenpolitischer Unfähigkeit ablenken. Die große Rede soll zudem nicht in den Bildern eines Krieges untergehen. Man entscheidet sich für Freitag, den 14. März.
Abends um sechs empfängt Steinmeier die Staatssekretäre, Leute vom Bundespresseamt sitzen dabei, Beamte aus dem Kanzleramt. Steinmeier sagt, die Ministerien sollten darüber nachdenken, »wie man Sparmaßnahmen mit Strukturveränderungen vernetzen kann«. Es sollen fünf politische Schwerpunkte erarbeitet werden. »Bis Ende Februar abgeben«, sagt Steinmeier.
Berlin, Gesundheitsministerium, Ende Februar 2003
Das Zimmer 3.071 ist die Herzkammer des deutschen Gesundheitswesens. Es liegt im Ministerium von Ulla Schmidt und gehört einem fröhlichen Rheinländer mit einer Brille. Franz Knieps leitet die Abteilung 2, Gesundheitsversorgung, Krankenversicherung, Pflegeversicherung.
Knieps ist Beamter, er kennt sich aus mit den schwierigen Wörtern. »Risikostrukturausgleichsverordnung«, »Leistungskomplexgebühren«, »Einheitlicher Bewertungsmaßstab 2000 Plus«.
Am Dienstag, dem 18. Februar 2002, erfährt Knieps, dass jetzt schnell etwas passieren muss. Der Kanzler braucht Stoff.
Knieps bleibt ganz ruhig. Durch seinen Kopf rattern Fragen. Was haben wir? Was brauchen wir?
Vernetzung von Sparmaßnahmen und Strukturveränderungen, das ist der Auftrag. Knieps hat sein Zimmer, einen Auftrag und eine Deadline. Er telefoniert mit Unterabteilungsleitern und Referenten, 120 von ihnen sitzen in Bonn, 10 in Berlin. Er erstellt »Eckpunktepapiere«, er entwirft Thesen, er soll zehn Überschriften liefern. Er muss sie mit dem Justiz- und dem Innenministerium abstimmen, und danach muss er alles »verdichten«, wie die Beamten sagen, kleiner machen, verständlich machen.
Knieps weiß, dass der Bundeskanzler Freude an Strukturreformen hat, die ihm sofort einleuchten. Der Kanzler unterstützt zum Beispiel den Gedanken, dass in Deutschland demnächst Apothekenketten zugelassen werden sollen. Als seine Ehefrau Doris noch in New York lebte, hatte sie eine Wohnung direkt über einer Apotheke. Die hatte immer auf, die Sachen waren billiger, und Aspirin gab es sogar in durchsichtigen Fläschchen. So was müsse es auch in Deutschland geben, sagte der Kanzler.
Knieps hat keinen leichten Job in diesen Tagen, er muss immerzu auf zwei unterschiedlichen Ebenen denken. Die erste Ebene ist seine eigene, es geht dabei um fachliche Dinge, um Instrumente, um die Frage: »Mit welchen Mitteln kann ich was erreichen?« Die zweite Ebene ist die politische, es ist die Ebene des Kanzlers. Der Kanzler stellt andere Fragen, sie heißen: »Wen trifft das? Was ist die Botschaft?«
Franz Knieps bekommt in dieser Zeit häufiger als sonst Anrufe. Lobbyisten melden sich, Ärzte, Pharmavertreter, Abgeordnete, die vor allem etwas verhindern wollen. Er bekommt auch Briefe von solchen Leute. Er hat nicht nur die Macht eines deutschen Spitzenbeamten. Er hat auch einen Auftrag vom Bundeskanzler.
Briefe machen ihm keine Angst. Er sagt sich: »Lesen, lachen, lochen.«
Berlin, »Restaurant Manzini«, Ende Februar 2003
Reinhard Hesse hat es nicht weit zum »Manzini« in Berlin-Wilmersdorf, seine Wohnung ist gleich nebenan.
Thomas Steg lässt sich mit dem Dienstwagen bringen, er kommt aus dem Bundespresseamt in Mitte.
Sie treffen sich abends. Hesse bestellt Weißbier, Steg einen Prosecco. Es ist ungefähr
so wie damals in Noordwijk, nur ohne Heringe.
Hesse ist der Redenschreiber, Steg stellvertretender Regierungssprecher. Hesse war Redakteur bei »Transatlantik«, er schrieb Bücher, die unter Schröders Namen erschienen sind. Steg ist Sozialwissenschaftler, Schröder holte ihn in den neunziger Jahren in seine Staatskanzlei.
Das »Manzini« ist ein neutraler Ort, ohne Telefone, ohne Fax-Geräte, ohne E-Mail-Terror, man hört nur das Krächzen einer Espressomaschine.
Hesse und Steg denken nach, wie einst Hombach, Heinze und Bucksteeg nachgedacht haben. Aber es ist nicht mehr der freie Gedankenflug, dem nur der Name Gerhard Schröder verpasst wird. Hesse und Steg müssen sich in den Kanzler hineindenken, sich fragen, was er will, wo seine Grenzen liegen.
Inzwischen sind die Zulieferungen aus den Abteilungen eingetroffen. Aus dem Gesundheitsreferat von Franz Knieps kamen engagierte Sätze, Sätze wie: »Es gibt Überversorgung in dem Sinne, dass Millionen zum selben ärztlichen Arbeitsgegenstand untersucht werden.« Es sind keine Sätze, die Deutschland zum Fliegen bringen würden.
Steg und Hesse reden über einen »Bauplan« für die Regierungserklärung. Sie werfen sich Stichworte zu, und Hesse schreibt Sätze auf einen DIN-A4-Zettel.
Es sind Sätze, die von der Pflicht handeln, den Kindern Chancen auf ein gutes
Leben zu erhalten. Sätze über die Zukunft, die gestaltet werden muss. Sätze über einen starken Staat, der sich um seine Aufgaben kümmert, und eine starke Gesellschaft, die sich ihrer Werte bewusst ist.
Hesse steckt den Zettel in sein Jackett. Er schreibt einen »Bauplan«, dreieinhalb Seiten lang. Hesse hat schon viele Baupläne zu Kanzlerreden geschrieben, Baupläne sind wie Architektenentwürfe für Ground Zero. Sie überleben nie.
Berlin, im Kanzleramt, 8. Stock, 6. März 2003
Es hatte diesmal keine schriftlichen Einladungen gegeben, es war nicht so förmlich wie sonst, die Damen aus dem Kanzlerbüro hatten den Termin übers Telefon verbreitet. Donnerstagabend in der Privatwohnung von Schröder im Kanzleramt.
Von den Grünen sind Joschka Fischer, Krista Sager, Katrin Göring-Eckardt und Reinhard Bütikofer gekommen, Gerhard Schröder und Frank-Walter Steinmeier sind für die SPD da. Die Arbeitslosigkeit ist im Februar auf 4,7 Millionen gestiegen. Die Pflegeversicherung hat ein Defizit von über 380 Millionen Euro.
Schröder sagt: »Die Situation ist schwierig. Wir müssen darüber reden, was wir damit machen.«
Göring-Eckardt denkt: »Zum ersten Mal heißt es nicht: Was habt ihr davon? Was haben wir davon?«
Der Kanzler weiß jetzt, was er will, so ungefähr jedenfalls. Er hat in den letzten Tagen oft mit Wirtschaftsminister Clement, Fraktionschef Franz Müntefering und SPD-Generalsekretär Olaf Scholz zusammengesessen. Sie haben ein Konzept gesucht.
Am Tisch saß auch ein Unsichtbarer, ein Wesen, dass immerzu nörgelt und Nein sagt. Das war die alte SPD, die Basis. Ein Gespenst, das immerzu singt »Brüder zur Sonne zur Freiheit«, die Hymne der Sozialdemokratie. Der Kanzler hat in vier Jahren zwar Selbstbewusstsein und Mut gewonnen, aber dieses Gespenst ist er nicht losgeworden. Wie soll er auch: Er ist Vorsitzender der SPD, seit 41 Jahren Mitglied und gewählt zum Kanzler von deren Fraktion im Bundestag.
Als jemand in der kleinen Kanzlerrunde vorschlug, die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung einzufrieren, regte sich das Gespenst und sprach aus dem Mund eines der Herren: Mit mir geht das nicht. Oder es schlug gleich mit dem Grenzpfahl zu. So tastete sich die Runde vor, in einer seltsamen Mischung aus Reformwillen und Hasenfüßigkeit.
Mit den Grünen redet der Bundeskanzler bis in die Nacht hinein. Sie beschließen, dass Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt werden, dass der Kündigungsschutz gelockert werden muss, dass betriebliche Bündnisse für Arbeit entstehen sollen.
»Ich muss dann auch noch was zu den Ausbildungsplätzen sagen«, sagt Schröder, ein Bonbon für die Basis. Das Gespenst hat aus seinem Mund gesprochen.
Aber Schröders Bekenntnis zu Reformen bekommt allmählich Deckung. Es füllt sich mit Inhalten. Er läuft los, er fängt an zu rennen, er sieht ein Ziel, ein Thema seiner Kanzlerschaft. Adenauer und die Westintegration, Brandt und die Ostverträge, Schmidt und das Krisenmanagement, Kohl und die deutsche Einheit, Schröder und die Reformen.
Berlin, in einer Dachgeschosswohnung, 6. März 2003
Reinhard Hesse sitzt vor einem schwarzen Laptop, Macintosh Powerbook G3, neben ihm glüht eine Zigarette im Aschenbecher. Es ist schon Nacht, dieselbe Nacht, in der Gerhard Schröder in seiner Kanzleramtswohnung mit den Grünen berät.
Bis morgen früh muss er einen Entwurf für die Regierungserklärung geschrieben haben. An der Wand hängt ein Foto von Gerhard Schröder und Willy Brandt. Brandt hatte einen Redenschreiber, dem der Satz eingefallen war, auf den es ankommt. »Mehr Demokratie wagen.«
Hesse raucht, schreibt. »Wir sind es uns selber, aber vor allem den jüngeren Generationen und deren Kindern schuldig, dass sie auch in 20 oder 30 Jahren in einer guten, solidarischen, leistungsfähigen und toleranten Gesellschaft leben können.« Er schreibt viele Sätze zum Thema Generationengerechtigkeit. Sie sollen dieser Rede einen Sinn geben, einen übergeordneten Gedanken, eine Vision.
Sein Entwurf hat 55 Seiten. Um 5.36 Uhr sendet er seinen Text an das Bundeskanzleramt. Dann geht er schlafen.
Berlin, im Kanzleramt, 7. Stock, 10. März 2003
Bevor er ins Willy-Brandt-Haus zur Präsidiumssitzung fährt, hat Gerhard Schröder eine Besprechung in seinem Arbeitszimmer im Kanzleramt. Er legt den Entwurf, den Hesse geschrieben hat, auf den Tisch. Steinmeier, Krampitz und Steg sehen Striche im Text und Sätze, die Schröder an den Rand geschrieben hat.
»Das ist schon sehr gut«, sagt Schröder, »aber Kinder, das ist zu viel.« Er will sich auf drei Themen beschränken: Arbeit, Gesundheit, Gemeindefinanzen.
Ein dicker Strich zieht sich im Manuskript über viele Absätze, die Hesse bei der Suche nach einem Sinn aufgeschrieben hatte. »Es muss eine Rede ohne Schmus werden«, sagt Schröder. Er will nicht begründen, er will machen.
Am Montagabend um halb sechs ist eine neue Version entstanden. Die neue Fassung ist von 53 Seiten auf 81 Seiten angeschwollen.
In der ersten Version hatte Schröders Programm zur Reform der Bundesrepublik den Titel: »Neue Chancen für Deutschland«. Jetzt gibt es einen anderen Titel: »Agenda Deutschland 2010«. Es war eine Idee von Doris Schröder-Köpf.
Steinmeier, Krampitz und Steg finden, dass 2010 ein gutes Signal ist, weil es in die Zukunft weist. Die Frage ist, ob Agenda gut ist. Agenda ist ein Fremdwort. Vielleicht kapieren das die Leute nicht. Vielleicht ist ein Fremdwort aber auch gerade gut. Vielleicht merkt man sich ein Fremdwort eher, weil es so sperrig ist. Vielleicht wird man dieses Fremdwort für immer mit der Person von Gerhard Schröder verbinden.
Thomas Steg redet mit einem Psychologen über diese Fragen. Der Psychologe sagt, wichtig sei vor allem die Aussprache der Zahl. Sie müsse als Datum identifizierbar sein, es müsse also »zweitausendzehn« heißen. Nicht »zwanzigzehn«. Zwanzigzehn klinge nach Halbierung. Halbierung sei niemals gut.
Berlin, im Kanzleramt, 5. Stock, 13. März 2003
Das Zimmer von Sigrid Krampitz im 6. Stock ist zu klein geworden. Zu viel Papier. Zu voll, zu laut, zu hektisch. Sie kommen und gehen, Steinmeier, Steg, Müntefering, Hesse, Scholz, Schröder, kleine Angestellte zwischendrin, »Macht schnell«, sagt Steinmeier, sie haben Papiere bei sich, »das muss auch noch rein«, Dateien werden geöffnet, ergänzt, verkürzt, gespeichert. Dann ziehen sie in den 5. Stock, ins »Verfügungszimmer«, es gibt hier auch einen Computer.
Verschiedene Fassungen liegen da, fünf allein aus den vergangenen zwei Tagen, sie werden verglichen, es wird gestrichen, verändert, ergänzt.
Beim Thema Kapitalflucht: »... besser, das Geld arbeitet in Leipzig als in Liechtenstein«, hat es mal geheißen. Das Finanzministerium hatte Bedenken, »wir verhandeln gerade mit Liechtenstein, wir dürfen sie nicht verärgern«. Liechtenstein wird gestrichen, es heißt jetzt: »... besser in Leipzig und in Gelsenkirchen als im Ausland«. »Langweilig«, sagt einer, Liechtenstein kommt wieder rein.
Beim Thema vorgezogene Steuerreform: »... werden wir die letzte Stufe der Steuerreform von 2005 auf 2004 vorziehen«, stand im Entwurf, »gehört hier nicht hin, Belastungen ankündigen und Entlastungen versprechen, das mache ich nicht«, sagte Schröder. Gestrichen.
Beim Thema Arbeitslosengeld: »... das ist nicht leicht, zumal für einen sozialdemokratischen Bundeskanzler nicht«, eine winzige Gabe an die Herzen der SPD, hinausoperiert, kein einziges Mal erscheint das Wort SPD oder Sozialdemokratie oder sozialdemokratisch.
»Macht schnell«, sagt Steinmeier.
Gerhard Schröder lässt sich mit Michael Sommer verbinden, er erreicht den DGB-Chef um 15 Uhr in einem Warteraum auf dem Köln-Bonner Flughafen, es geht um die Frage von betrieblichen Bündnissen, »wir werden sie fordern, aber wir werden kein zeitliches Limit setzen«, sagt Schröder. Die Gewerkschaften sind ihm wichtiger
als Generationengerechtigkeit. Generationengerechtigkeit fliegt raus, die Gewerkschaften kriegen fünf Seiten.
»Macht das noch rein«, sagt Steinmeier.
»Das frisst Platz«, sagt Hesse.
Die Leute, die an der Rede schrauben, erinnern an Spezialeinheiten, Bombenentschärfer aus amerikanischen Filmen, sie drehen an winzigen Schräubchen, sie schneiden dünne Kabel kaputt. Sie haben keine Zeit, das ist ihr größtes Problem. Die Uhr tickt.
Die Reform wird gejagt vom Terror der Verhältnisse, die Zeit verbraucht sich in Gedanken, die um Instrumente kreisen, es ist zu spät für große Entwürfe. Vier Jahre wurden vergeudet, nun geht es holterdiepolter. Es wird eine Rede ohne Reife. Was reinkommt oder nicht, hat oft der Zufall entschieden. Der Zufall ist dankbar für Hektik, ein Feind des Abgerundeten, Durchdachten.
Es ist 17.54 Uhr, als eine Sekretärin im Kanzlerbüro die Version »0314RegErkl. MutzumFrieden3.doc« abspeichert. Sie hat 94 Seiten. Sie heißt nicht mehr »Agenda Deutschland 2010«. Nur noch »Agenda 2010«.
Gerhard Schröder geht in sein Arbeitszimmer und kürzt. Die letzte Fassung hat 83 Seiten. Es ist ein Uhr nachts.
Reichstag, im Plenarsaal, 14. März 2003
Gerhard Schröder liest von Blättern ab, die links auf einem Stapel liegen, und sortiert sie auf einen Haufen, der rechts davon liegt. Seine Hände fahren an den Papierstapeln hoch und runter, es sieht aus, als würde er bügeln. Er spricht ohne Leidenschaft, arbeitet mehr einen Katalog ab, als dass er eine Rede hält. Er sagt: »Agenda zwanzigzehn.« Nicht »zweitausendzehn«. Es dauert eine Stunde und 25 Minuten. Die Abgeordneten der SPD klatschen 90 Sekunden lang. 90 Sekunden sind ein Almosen.
Sie denken, dass diese Rede ihrer Klientel sehr viel zumutet. Sie wissen nicht, dass das Gespenst gute Arbeit geleistet hat. Die Rede bleibt weit hinter dem zurück, was sich einst Hombach, Heinze oder Streeck vorgestellt haben. Die Struktur der sozialen Sicherungssysteme bleibt weitgehend unangetastet. Der Einstieg in die Steuerfinanzierung gelingt nicht.
Bei der Rentenversicherung will Schröder »nachjustieren«. Das ist ein sehr kleines Wort für ein sehr großes Problem.
Es geht auch um Meisterbrief und Breitensport. Die Rede ist ein Sammelsurium des kurzfristig Machbaren, kein Plan für ein neues Deutschland. Es musste halt schnell gehen, der Druck der Verhältnisse.
Reichstag, Kanzlerbüro, 14. März 2003
Eine Klimaanlage hält die Raumtemperatur bei 22 Grad, rechts läuft der Fernseher, ein Glastisch, fünf schwarze Stühle stehen darum. Sigrid Krampitz sitzt da und wartet, der Regierungssprecher Béla Anda ist da, Thomas Steg, Reinhard Hesse, die Sekretärin Doris Leupold. Es ist kurz nach zwölf, im Raum 1 N 002, »Vorzimmer Bundeskanzler« im Reichstag, öffnet sich eine schwere blaue Tür, er trägt einen braunen Anzug und eine gestreifte Krawatte.
Frau Leupold gießt Kaffee in die Tasse, die der Bundeskanzler immer benutzt, wenn er hier ist, Königliche Porzellanmanufaktur, weiß mit goldenem Rand, er geht nach nebenan in sein Arbeitszimmer, er sieht auf ein Bild des Künstlers Strawalde, ein roter Kreis mit einem dicken Klecks in der Mitte, es trägt den Titel »Wendekreis«.
Er kommt zurück in das Vorzimmer, er lehnt an einer Türzarge und trinkt seinen Kaffee. »Der Beifall ist dünn ausgefallen, das wird sich in der Berichterstattung wiederfinden«, sagt Sigrid Krampitz.
Am Nachmittag werden im Bundeskanzleramt die Meldungen der Nachrichtenagenturen und Onlinedienste gesammelt, ein Lagezentrum erstellt jede Stunde eine neue Zusammenfassung.
»Das gibt morgen auf den Titelseiten nicht die Rezeption, die wir uns wünschen«, sagt Frank-Walter Steinmeier. »So sind sie eben«, sagt Gerhard Schröder.
Kaufbeuren, in einem Supermarkt, April 2003
Sie hat den Einkaufswagen voll, aber sie hat nicht genug Bargeld dabei. Sie steht an der Kasse eines Supermarkts in Kaufbeuren und reicht ihre Euroscheckkarte über das Band. Die Kassiererin liest den Namen. »Sigrid Skarpelis-Sperk.«
»Ach, Sie sind das«, sagt die Kassiererin.
Sie guckt auf eine lange Schlange von Menschen, die bezahlen wollen. Sie steht auf, läuft außen um das Band herum und reicht ihrer Kundin die Hand. Sie stehen zwischen Überraschungseiern und Pfefferminzbonbons, aber es ist ein großer Augenblick.
»Wissen Sie, wer das ist?«, fragt die Kassiererin in die Menschenschlange hinein, »das ist Frau Skarpelis-Sperk.« Die Menschen hinter den Einkaufswagen klatschen.
Sigrid Skarpelis-Sperk sitzt seit 23 Jahren im Bundestag, sie verehrt Brandt und kämpft für die kleinen Leute. Sie hat nichts dagegen, wenn man sie eine Linke nennt.
Am 11. April startet Skarpelis-Sperk mit linken Parteifreunden ein Mitgliederbegehren. Sie sammelt Unterschriften, sie will die Agenda kippen.
Es geht um Schröder. Er muss jetzt um seine Macht kämpfen, muss die Debatten führen, die er gemieden hat, als die Agenda entstanden ist. Der demokratische Prozess ist nicht abgeschafft, er ist nur auf den Kopf gestellt: erst das Programm, dann die Diskussion. Schröder ist wieder im politischen Betrieb angekommen.
Sein wichtigster Helfer ist jetzt Franz Müntefering, der Fraktionsvorsitzende. Er war einst sozialdemokratischer Beton,
aber jetzt verschwört er sich mit dem Kanzler, damit die Macht nicht verloren geht. Schröders Reformkanzlerschaft geht in die dritte Phase: nach der Denk- und Zauderphase sowie der Arbeitsphase, in der die Agenda entsteht, folgt nun der Machtkampf.
Am Nachmittag des 11. April fährt Sigrid Skarpelis-Sperk mit dem Auto in ihren Wahlkreis, als sich ihr Handy meldet. Franz Müntefering ruft an. »Ich muss dich sprechen«, sagt er.
Sie nimmt ein Flugzeug nach Berlin, neben ihr sind noch einige Parteilinke gekommen, Müntefering verlangt, dass sie das Mitgliederbegehren zurückziehen, aber es gibt keine Verständigung mehr. »Denk- und Diskussionsverbote helfen dieser Partei nicht«, sagt Sigrid Skarpelis-Sperk. Vor den Medien faucht Müntefering Wörter wie »hinterrücks« und »feige«.
Am 1. Mai ist Schröder auf einer Kundgebung im hessischen Neu-Anspach. Er wird niedergepfiffen und keilt zurück. Gift liegt in der Luft. Nach seiner Rede geht er in ein Wirtshaus, von dem man auf protestierende Gewerkschafter sehen kann. Er setzt sich an den Tisch von Michael Sommer, dem Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes.
Sie reden eine Weile nicht miteinander. Dann sagt Schröder: »Wir werden sehr lange brauchen, um das Porzellan, das zerschlagen worden ist, wieder zu kitten.«
»Ja, Gerd«, sagt Sommer, »aber den Kitt musst du liefern.«
Es ist ein harter Kampf, alte Bündnisse zerbrechen, vielleicht für immer. Schröder greift zum äußersten Mittel. Er droht mit dem Rücktritt, setzt seine Macht aufs Spiel.
Er droht mehrmals. Steinmeier, Krampitz und Doris Schröder-Köpf macht das Sorge. Sie wissen, dass er nicht zurücktreten würde. Sie reden miteinander, sie warnen Schröder: Wenn du ständig damit drohst und es dann nicht machst, wird dir das als Inkonsequenz ausgelegt.
Aber er setzt sich durch. Mit seinem Bekenntnis, das von einem Programm gedeckt ist, hat er eine neue Stärke gewonnen. Anders gesagt: Er sieht jetzt, wie weit man kommen kann, wenn man etwas wirklich ernst meint. Die Fraktion ringt ihm zwar Zugeständnisse ab, mehr Schonvermögen für die private Altersvorsorge, 25 Monate Übergangsfrist bei der kürzeren Bezugsdauer von Arbeitslosengeld. Aber das sind Kleinigkeiten.
Größer sind die Zugeständnisse an Angela Merkel, die über den Bundesrat am Reformprozess teilhaben kann. Schröders Macht stößt wieder an Grenzen, er muss Kompromisse schließen. Praxisgebühr, Privatisierung des Zahnersatzes - für die SPD ist das eine Zumutung.
Dann schwankt er doch noch. Er will seine Steuerreform vorziehen und braucht auch dafür die Union. Er sitzt in einem Büro im Reichstag, ein paar Vertraute sind bei ihm, nicht weit entfernt, im Bundesrat, tagt der Vermittlungsausschuss. Schröder sagt: »Wenn die Steuerreform durchgeht, wäre es okay. Vielleicht müssen wir dafür sogar auf Hartz IV verzichten.«
Es ist ein Herzstück seiner Reform, die Fusion von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf dem niedrigen Niveau der Sozialhilfe. Plötzlich ist Schröder ganz alter Sozialdemokrat: keine Zumutung, dafür eine Wohltat. Die vorgezogene Steuerreform entlastet die Bürger.
Er schwankt, aber am Ende steht er. Es bleibt bei Hartz IV, die nächste Stufe der Steuerreform wird zur Hälfte vorgezogen. Am 15. Dezember 2003 um halb vier am Morgen verkündet Schröder das Ergebnis der Vermittlung, das Ergebnis seines eigenen fünfjährigen Reformprozesses: »Das Ergebnis geht absolut in Ordnung. Natürlich kann man sich immer mehr vorstellen.«
Neuhardenberg, Schlosshotel, 9. Juli 2004
Ein dramatischer Himmel, schwarze Wolken, durchbrochen von Sonnenstrahlen, ein Hubschrauber taucht auf. Es ist 17 Uhr, der Kanzler kommt. Sein Kabinett macht noch einmal eine Klausur im Schloss Neuhardenberg, wie 2003, als das Vorziehen der Steuerreform beschlossen wurde. Er hatte sie erst verschoben, um den Aufbau nach der Flut zu finanzieren. Er wirkte wie jemand, der nicht weiß, was er will. Aber immerhin tat er etwas.
Vielleicht hat Schröder diesmal beim Anflug, kurz vor Neuhardenberg, auf das Dach einer alten Hütte geschaut. »Gerhard, auf geht''s« steht dort, fast ein rührender Satz, das Volk macht seinem Kanzler Mut.
Es hat viel durchgemacht mit Gerhard Schröder. Deutschland hat sich verändert in den fünf Jahren Reformprozess. Die SPD hat ihre Identität verloren und auch die Zustimmung der Bürger. Das 140-jährige Bündnis mit den Gewerkschaften ist brüchig geworden. Die Institutionen der Demokratie müssen sich neu sortieren. Das Parlament wurde von der Exekutive an die Wand gedrückt. Der Bundesrat hat so viel Macht, dass nun daran gearbeitet wird, sie einzuschränken. Den Bürgern wurde ständig ein Spiegel vorgehalten, und sie sahen ein ängstliches Gesicht, ein Gesicht der Vorsicht, der Beharrung.
Das Land ist nervöser geworden in den fünf Jahren, streitbarer auch, es wirkt nicht mehr ganz so in der Mitte zusammengekuschelt. Es gewöhnt sich daran, dass nicht alle zusammen ständig gewinnen können. Es gewöhnt sich daran, dass es Gewinner und Verlierer gibt.
Aber nach fünf Jahren Schröder, nach fünf Jahren Reformprozess wirkt das Land auch überanstrengt. Es war ein langer, harter Weg. Aber hat er sich gelohnt? War das nicht sehr viel Mühe, sehr viel Verschleiß für ein kleines Ergebnis?
Das Wort Reform ist fast zum Unwort geworden, zerquatscht, missbraucht für alles und nichts. Nun wird es eigentlich noch einmal gebraucht, für die nächste Reformrunde, den großen Umbau. »Gerhard, auf geht''s« steht auf dem Dach. Ein einzelner Ruf, weniger die Stimmung eines Landes.
Es wäre eine gewaltige Anstrengung, Institutionen, Parteien, Bürger, Politiker noch einmal auf den Reformpfad zu schicken. Es ist nicht 1998, es gibt keinen Zauber des Anfangs. Man hat nicht viele Chancen für eine große Reform, vielleicht nur eine. Es braucht jetzt sehr entschlossene Politiker, um einen neuen Aufbruch zu organisieren. Es braucht Kraft, Hoffnung, Schwung.
»Gu''n Tach«, sagt Schröder, als er zu Beginn der Klausur in Neuhardenberg vor die Mikrofone tritt. Seine Regierung trottet heran und versammelt sich hinter dem Kanzler. »Es geht darum«, sagt er, »deutlich zu machen, dass wir mitten in einem Prozess sind, angemessen auf die Herausforderungen zu reagieren, vor die uns die Globalisierung und die älter werdende Gesellschaft stellen, und dass die Agenda 2010 eine angemessene Antwort ist.«
Joschka Fischer guckt in die Ferne, Hans Eichel sieht aus, als wüsste er nicht genau, warum er hier ist, das Haar von Heidemarie Wieczorek-Zeul leuchtet rot, Katrin Göring-Eckardt grinst. Nach zehn Minuten dreht Gerhard Schröder sich um. »An die Arbeit«, ruft er. Sein Kabinett trottet davon.
Als die Arbeit beendet ist, nach 24-stündiger Klausur, präsentiert der Kanzler nichts, was nach neuem Aufbruch, nach zweiter Reformrunde aussieht. Immerhin nimmt er eine Einsicht mit. Zu seinen Ministern sagt er: »Wir sind sehr gut im Aufspüren von Gesetzeslücken. Wir sind noch besser beim Füllen dieser Lücken. Weniger gut sind wir beim Nachdenken über das Ganze.«
Berlin, im Arbeitszimmer des Bundeskanzlers, Juli 2004
Gerhard Schröder hat alles erzählt. Über das Kosovo, über den Irak, über Deutschland in der Welt. Es hat Kraft gekostet, sagt er. Als er Kanzler wurde, hat er sich nicht vorstellen können, welche Dimensionen das Kanzlersein hat. 11. September, »nine eleven«, sagt er. Es gab immer Sachen, die gerade zu tun waren.
Der Stumpen ist wieder kalt geworden. Gerhard Schröder hat sich in seinem Sessel ausgedehnt, er wirkt wie ein Mensch, der mit sich im Reinen ist.
Eine merkwürdige Feierabendstimmung liegt in dem Raum, so als wäre eine Last abgefallen. Die Partei hat er an Franz Müntefering abgegeben, es gibt jetzt ein dickes Problem weniger. Die Reformen sind Gesetze geworden. Er hat was gemacht. Er hatte einen einzigen Schuss, in dem Schuss lag alles drin, was er zu bieten hat. Er sitzt und wartet.
Die Frage ist, ob er zu spät abgezogen hat.
Er klemmt die Zigarre zwischen die Zähne und schiebt seinen Schädel über die Sesselkante. Es sieht aus, als ginge jetzt noch einmal etwas los, aber es dauert nicht lange. Er fällt in den Sessel zurück, pflückt den Stummel aus dem Mund und sagt: »Die Frage ist ja immer, wann man etwas macht. Politik ist auch eine Frage des richtigen Zeitpunkts.«
Vielleicht hat er den verpasst. Vielleicht war das Jahr 1999 der richtige Zeitpunkt.
Das Problem von Reformpolitik, sagt Gerhard Schröder, »ist erstens«, sein Daumen klappt hoch, »trifft sie auf Bereitschaft bei den Menschen?« Und zweitens, der Zeigefinger steht in der Luft, »wie lange dauert es, bis eine Reform wirkt?« Er stellt Fragen, die Antworten muss man sich denken. Erstens: nein. Zweitens: womöglich zu lange, um noch einmal wiedergewählt zu werden.
Gerhard Schröder lacht jetzt viel, sein Gesicht bekommt etwas Wohliges. Er redet nicht über Dinge, die in der Zukunft liegen. Er erzählt von schönen Dingen, die vergangen sind. Vor einiger Zeit ist er nach Asien gereist, »und wissen Sie, was die Asiaten gesagt haben, als sie mich gesehen haben? ''Ah, agenda twenty ten'', haben die gesagt«.
Agenda twenty ten.
Gerhard Schröder schließt für einen kleinen Moment die Augen. Er hat etwas, das er mitnehmen kann, sollte er einmal von hier weggehen müssen.
* In einem ARD-Studio in Berlin am 2. Juli.* Beim Besuch des Stahlwerks Georgsmarienhütte, mit dessenBesitzer Jürgen Großmann (r.).* Im März 1998 im Treppenhaus des nordrhein-westfälischenLandtags.* Am 13. März 1999 vor seinem Haus in Saarbrücken, mit SohnCarl-Maurice.* TV-Entertainer Thomas Gottschalk, Rocksänger Klaus Meine(Scorpions), Anwalt Götz von Fromberg, Komiker Karl Dall,Ministerpräsident Sigmar Gabriel, beim Tischfußball auf FrombergsGeburtstagsfeier am 24. Februar 2002.* Mit dem sächsischen CDU-Ministerpräsidenten Georg Milbradt am14. August 2002 bei der Besichtigung der Hochwasserschäden inGrimma.* Mit Künstler Bruno Bruni (l.) und Schauspieler BurkhardDriest (sitzend r.).