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»Lassen Sie mich Ihnen helfen ...«

SPIEGEL-Reporter Gerhard Mauz im Prozeß gegen den Schauspieler Gunnar Möller in London
Von Gerhard Mauz
aus DER SPIEGEL 19/1980

Tätliche Auseinandersetzungen, die damit enden können, daß der andere tot ist, sollte man nicht in Großbritannien führen, schon gar nicht mit dem Ehepartner. »Das englische Strafrecht ist in der Berücksichtigung von Motiven äußerst zurückhaltend«, wie Professor Grünhut, Oxford, schreibt.

Zwar hat der Homicide Act von 1957, wie der Kriminologe Professor Mannheim bemerkt, »für Mord den Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit eingeführt mit der Wirkung, daß in gewissen Fällen nur die Totschlagsstrafe verhängt werden kann«. Doch auch für Mannheim halten die englischen Richter grundsätzlich noch immer »an den völlig veralteten« MacNaghten Rules fest.

1843 erschoß ein gewisser Daniel MacNaghten den Sekretär des Premierministers Sir Robert Peel, weil er diesen für Peel hielt, von dem er sich verfolgt wähnte. In diesem Zusammenhang kam es zur Bestimmung der Grenze der Unzurechnungsfähigkeit im englischen Strafrecht.

Die MacNaghten-Regeln lassen »pathologische Fehlentwicklungen im Gefühls- und Willensleben unberücksichtigt«, so wiederum Grünhut, der auch feststellt, daß alle Bemühungen, Persönlichkeitsstörungen ins Gespräch zu bringen, bei den Gerichten keine Zustimmung fanden: »Sie haben alle Ansinnen zurückgewiesen, ''sich auf einem Meer einzuschiffen, das keine Ufer hat'', und über den Wortlaut der MacNaghten-Regeln hinauszugehen.«

Vor Ort, im Londoner Kriminalgericht Old Bailey, erweist sich nur zu deutlich, wie sehr die englische Hauptverhandlung gegen das »uferlose Meer« der seelischen Verfassung des Angeklagten abgesperrt ist.

Am Abend des 24. September 1979 hatte der Schauspieler Gunnar Thor Carl Möller, 51, eine Auseinandersetzung mit seiner 45 Jahre alten Ehefrau Brigitte, die mit ihrem Tod endete. Stünde er deswegen vor einer Schwurgerichtskammer der Bundesrepublik, so würde nicht nur von der Verteidigung, sondern auch vom Gericht und der Anklage aus, die Frage seiner Schuldfähigkeit eine wichtige Rolle spielen.

Doch Gunnar Möller hat seine Frau im Londoner Ortsteil Hampstead getötet. Und so hat Mister Howard, sein Verteidiger, ein älterer Herr, der über eine Halbbrille hinwegspäht und, während er fragt, hörbar mit dem Kleingeld in seiner linken Hosentasche spielt, erhebliche Mühe, die Vorgeschichte der Tat und ihre besonderen Umstände herauszuarbeiten.

Vor ihm steht wie eine Mauer die MacNaghten-Regel, derzufolge jedermann als gesund gilt, bis das Gegenteil erwiesen wurde -- und er muß das Gegenteil darlegen und nachweisen. Sieben Frauen gehören der zwölfköpfigen Jury an. Und die Anklage wird von Miss Ann Curnow vertreten.

Miss Curnow ist brillant. Ihre einzige Schwäche könnte sein, daß sie lückenlos brillant ist. Sie spricht einprägsam und instruktiv zur Jury hin, die ihr und dem die Bank mit ihr teilenden Verteidiger gegenübersitzt. Man lauscht ihr, als nehme man an einem Kurs in englischem Recht teil. Lächelt sie einmal, so ist das ein Geschenk für den, dem das Lächeln gilt.

Miss Curnow hat lange, schmale Hände, die sie sparsam und darum mit großer Wirkung zum Hervorheben und Erläutern einsetzt. Und nie hat man das Gefühl, daß sie irgend jemand, geschweige denn die Jury, für ihre Auffassung gewinnen will: Sie unterbreitet nur.

Sie ist eine junge Frau, die sich auf gescheite Weise ihrer Wirkung jederzeit bewußt ist -- die Frau, die in England auf Bühne, Leinwand und Bildschirm von Diana Rigg repräsentiert wird, von jener Schauspielerin, die auf so unterschiedlichen Ebenen wie Shakespeare, Tom Stoppard und Emma Peel zu glänzen versteht.

Miss Curnow, so heißt es, hat sich einer Minderung der Anklage auf Totschlag widersetzt, sie klagt Mord an, mit ihrer Darstellung und Beweisführung beginnt die Hauptverhandlung. Als Miss Curnow fertig ist, fragt man sich, wieso Totschlag überhaupt in Erwägung gezogen werden konnte.

Gunnar Möller, so sieht die Darstellung Miss Curnows aus, war angetrunken, aber nicht sinnlos betrunken. Ob er in seiner Einlassung bei der Polizei einen Unterschied zwischen morden und töten machen konnte oder ob sein Englisch nicht ausreichte, den Unterschied zu erkennen -- Miss Curnow überläßt die Antwort der Jury. Brigitte Möller hatte nichts getrunken, wie die Obduktion ergab. Gunnar Möllers Aussage vor der Polizei, seine Frau sei eine Trinkerin gewesen, steht befremdend da.

Um 19.20 Uhr war die Polizei im Haus, von Brigitte Möller gerufen, die sich von ihrem Mann bedroht fühlte. Die Polizeibeamten hatten nicht den Eindruck, daß Gunnar Möller außer sich war. Sie meinten, sich damit begnügen zu können, so wie sie die Situation beurteilten, daß Brigitte Möller sich in ihr Zimmer zurückzog und einschloß und daß Gunnar Möller versprach, er werde die verschlossene Tür respektieren.

Miss Curnow führt vor, daß Gunnar Möller knapp 40 Minuten später durch die Tür zum Zimmer seiner Frau brach, daß er sie in den Patio des Hauses S.128 verfolgte, in den sie über die Feuerleiter zu entkommen suchte, und daß er sie dort mit dem Bein eines Schemels tötete, nachdem er sie gewürgt hatte.

Miss Curnow ist keineswegs einseitig, das Einerseits und das Andererseits überfüllen ihre Darlegungen geradezu. Doch gerade darum drängt sich der Eindruck auf, daß Gunnar Möller ein Ende mit seiner Ehe machen, daß er seine Frau töten wollte. Warum? Für Miss Curnow hat es nur darum zu gehen, daß Gunnar Möller seine Frau getötet hat, daß er nicht sinnlos betrunken war, daß er durch eine Tür brach und daß er vor der Polizei gesagt hat, er habe seine Frau töten (oder ermorden?) wollen.

Die Frage, ob er seinen Mandanten als Zeugen aufrufen soll oder nicht, kann sich für Mister Howard, den Verteidiger, nicht gestellt haben. Nur Gunnar Möller selbst kann die Geschichte seiner Ehe erzählen, anders ist sie nicht in die Verhandlung einzubringen.

Gunnar Möllers Englisch ist eine Katastrophe, obwohl er seit fast zehn Jahren in England lebt. Ihm ist eine Dolmetscherin beigeordnet worden und Honourable Judge Caulfield, der Richter, der die Sitzung leitet, ist sich des Sprachproblems bewußt. Gelegentlich greift er ein, läßt Gunnar Möller eine wichtige Passage auf Deutsch sagen und diese Passage anschließend ins Englische übersetzen. Doch deutsche Beobachter zweifeln gelegentlich an der Übersetzung.

Auch kann Gunnar Möller nicht etwa zusammenhängende Ausführungen machen. Seine Biographie, die Geschichte seiner Ehe, seine Erinnerung an die Tat -- alles muß einzeln von Mister Howard durch Fragen abgerufen werden. Es kommt vieles nicht zur Sprache auf diese Weise. Er ist beispielsweise kein großer, Rollen gestaltender Schauspieler gewesen, kein Alec Guinness, um einen britischen Vergleich zu wählen.

Er bot Solides, wenn man ihn richtig besetzte. Und 1955 ist er einmal in »Ich denke oft an Piroschka« perfekt eingesetzt worden. Doch diesen Erfolg hat er nie mehr erreicht, er hat später immer nur noch den Geschmack des ganz großen Erfolgs im Mund gehabt. Er hat sich nicht begnügen können, er hat gelitten und sein Leiden an seiner Umgebung ausgelassen.

Die Geschichte dieses Lebens wird nach dem Urteil noch einmal zu erzählen sein. Seine Frau hatte die Schauspielerei fast ganz für die Ehe und drei Kinder aufgegeben. Irgendwann schlug sie zurück, sie hat es nicht mehr hinnehmen können eines Tages. Zuerst hat er sich scheiden lassen wollen, dann sie -- und da wollte er sie mit einem Mal nicht mehr verlieren. Er brauchte sie. Sie organisierte sein Leben. Doch sie wollte nicht mehr in Kauf nehmen, was ihr als Frau von dieser Rolle aufgebürdet wurde.

Zum Tattag sagt Gunnar Möller in London aus, daß seine Frau, nachdem die Polizei gegangen war, wieder herunterkam. Er hatte eine Platte aufgelegt, »Du läßt Dich geh''n« mit Charles Aznavour. Sie sei vor Zorn darüber außer sich gewesen, habe nicht auf das Ende warten wollen, wo es versöhnlich wird, wo sich die Anklage in eine beschwörende Bitte verwandelt: »Du bist doch schließlich meine Frau ...«

Sie habe gesagt, daß sie sich erst jetzt, bei ihrem Freund, als Frau erlebt habe, daß er kein Mann sei. Sie habe gesagt, er solle sich aufhängen. Er habe plötzlich begriffen, daß sie ihn tatsächlich tot sehen wollte. S.129

Brigitte Möller flieht nach oben, er verfolgt sie, bricht durch die Tür, er schildert sich im Zustand der Raserei. Doch als sein Verteidiger mit ihm am Ende ist, kommen Miss Curnows Fragen. Kurz vor 20 Uhr ist Hillevi, die Tochter, zur Post gegangen, als sie fünf Minuten später zurückkehrte, geriet sie mitten in die tödliche Szene im Patio hinein. Mehr als fünf Minuten können es nicht gewesen sein, so nah wie die Post ist.

Er will ihr auch seine Meinung über ihren Freund gesagt haben, der jünger ist als sie und den er einen schlechten Schauspieler nennt. Doch all das soll sich in diesen wenigen Minuten abgespielt haben? Miss Curnow forscht danach, ob es nicht zur Tat kam, weil die Auseinandersetzung über das gemeinsame Vermögen nicht nach seinem Wunsch verlief. »Lassen Sie mich Ihnen helfen«, beginnt sie eine Frage.

Am Freitagnachmittag in der vergangenen Woche beginnt die Verteidigung, Zeugen vorzustellen, deren Aussagen entlastendes Licht auf die Ehe der Möllers werfen sollen. Der Hausarzt berichtet, daß Brigitte Möller eine starke Persönlichkeit war, daß sie unter Stimmungsschwankungen litt und zu Depressionen neigte und daß sie wohl auch zeitweise getrunken hat. Miss Curnow fragt im Kreuzverhör nur, ob Brigitte Möller eine Hexe gewesen sei. Der Zeuge verneint das selbstverständlich.

Vorerst und vielleicht bis zuletzt steht die Tat Gunnar Möllers vor seiner Lebensgeschichte und der Geschichte seiner Ehe, vor dem »uferlosen Meer«. Miss Ann Curnow vertritt die Krone gegen Gunnar Möller brillant. Sie hat auf Mord angeklagt, auf den lebenslang steht.

S.1251973 in dem tschechischen Spielfilm »Tage des Verrats«.*S.128Oben: 1963 in »Eroticon -- Karussell der Leidenschaften«;*unten: 1976 bei einem Besuch in West-Berlin.*S.1291955 in »Ich denke oft an Piroschka«.*

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