GESELLSCHAFT / GEBURTENKONTROLLE Last und Lust
Der jüngste war 37, der älteste 94.
Die Männer, alle unverheiratet, waren nahezu unter sich. Es ging um die Pille -- im Petersdom zu Rom. Zum Konzil waren dort alle katholischen Bischöfe versammelt.
Die meisten -- so schien es -- waren dafür, das Verhütungsmittel dem katholischen Kirchenvolk freizugeben. Manche waren entschieden dagegen. Da trat der belgische Kardinal Léon Joseph Suenens vor das Konzil und beschwor die »Brüder im Bischofsamt« feierlich: »Vermeiden wir einen neuen Fall Galilei! Ein einziger genügt für die Kirche!«
Das war am 30. Oktober 1964. Fast vier Jahre lang durfte Suenens hoffen. Seit dem Montag vergangener Woche aber hat die katholische Kirche jenen »neuen Fall Galilei«, den der Kardinal hatte verhindern wollen.
Wie vor dreieinhalb Jahrhunderten Papst Urban VIII. nicht wahrhaben wollte, daß die Erde sich anders bewegen könnte, als die Kirche es lehrte, so will es nun Papst Paul VI. nicht hinnehmen, daß seine Christen sich anders lieben, als seine Vorgänger Pius XI. und Plus XII. es vorschrieben.
In einer Enzyklika »Humanae Vitae« ("Vom menschlichen Leben") hat der Papst die »künstliche Geburtenkontrolle« verboten -- die Anti-Baby-Pille ebenso wie das Präservativ und den Koitus interruptus.
Zwar nennt Paul VI. die verbotenen Methoden nicht beim Namen, und für den Geschlechtsverkehr wählte er Worte wie »ehelicher Akt«, »liebende Vereinigung« und »Geschenk der ehelichen Liebe«.
Doch präzise genug schreibt er den katholischen Paaren vor, daß sie vor, bei und nach dem Geschlechtsverkehr die Empfängnis nicht verhüten dürfen Verboten sei jede Handlung, die »sich entweder in Voraussicht oder während des Vollzuges des ehelichen Aktes oder darauf folgend ... die Verhinderung der Fortpflanzung zum Ziel setzt«.
Für Papst Paul VI. ist die Zeit im Jahre 1930 stehengeblieben. Damals hat Pius XI. jedwede Empfängnisverhütung verdammt und katholischen Ehepaaren lediglich die völlige oder zeitweilige Enthaltsamkeit erlaubt.
Und wie später sein Nachfolger Pius XII., bestätigt und bekräftigt nun Paul VI. diese Regeln für den katholischen Koitus, als sei in den vergangenen 38 Jahren nichts geschehen.
Vier Jahre lang -- fast seine ganze Amtszeit hindurch -- hat der Papst gezögert, auf »neue Fragen« mit dem alten Verbot zu antworten. Keinem Thema widmete er sich so intensiv, keine Entscheidung fiel ihm so schwer, wie er am Mittwoch vergangener Woche bei einer Audienz in seinem Sommersitz Castelgandolfo berichtete. Schon 1965 hatte er in einem Interview gesagt: »In der Entscheidung sind Wir allein, entscheiden ist nicht so leicht wie studieren. Aber Wir müssen irgendwas sagen. Aber was denn? Gott muß Uns erleuchten.«
Vier Jahre lang haben ungezählte Katholiken und Nichtkatholiken ver-
* Auf dem Weg zur Audienz am Mittwoch letzter Woche.
sucht, den Papst von einem Pillenverbot abzuhalten. Im päpstlichen Palast häufen sich Memoranden und Bittbriefe. Es schrieben nach Rom 75 Nobelpreisträger, darunter die Deutschen Otto Hahn und Werner Heisenberg, 3500 katholische Ärzte und 800 katholische Professoren aller Fächer. Es baten um die Pille die Arbeitsgemeinschaft katholischer Frauen Bayerns (400 000 Mitglieder) ebenso wie der Männerring des Bundes Norddeutschland. Der Weltkongreß katholischer Laien in Rom, mit Teilnehmern aus 110 Ländern, forderte ein Ja zur Geburtenkontrolle. Und im Münchner Kabarett »Rationaltheater« schmähte ein halbentblößtes Paar kniend den Lust-Feind in Rom: »Oh Paul ... sei nicht mehr unser Gast!«
Doch in der vergangenen Woche fiel das bislang fatalste katholische Fehlurteil dieses Jahrhunderts.
Eine Welt, in der gelebt und geliebt würde, wie der Papst es will, wäre binnen kurzem eine Welt des Schreckens und des Todes. Denn eine Welt ohne jede Geburtenkontrolle, die Paul VI. »künstlich« nennt und ablehnt, würde so übervölkert, daß an Hunger in jedem Jahr mehr Menschen sterben müßten als in allen Kriegen der Menschheit zusammen.
Die Menschheit, in der Christen Ehrfurcht vor dem Leben predigen, hat nun einen Papst, der sie das Fürchten um ihr Leben lehrt.
Für den Stockholmer »Expressen« ist diese Enzyklika eine »Herausforderung an die gesamte Menschheit« für den Pariser »Combat« das »Todesurteil für Katholiken in unterentwickelten Ländern«, für die Wiener »Arbeiter-Zeitung« ein »Sieg der Weltfremdheit«.
»Trauer und Enttäuschung« bekundete die schwedische lutherische Kirche, vor einem »verheerenden und tragischen Irrtum« warnte der anglikanische US-Bischof Barrett. Pillen-Miterfinder Hoagland sprach von einem »mittelalterlichen theologischen Konzept, dessen Aufrechterhaltung ein moralisches Verbrechen an der Menschheit ist«.
Noch ist nicht abzusehen, wie sich die Entscheidung des Papstes auf die Welt auswirken wird. Auch Regierungen katholischer Länder suchten sogleich Distanz. Die Regierungen Kolumbiens und Boliviens beeilten sich zu versichern, daß ihre Programme der Geburtenkontrolle fortgesetzt würden.
Und auch in seiner Kirche steht der Papst ziemlich allein. Abgesehen von einigen wenigen papstfrommen Bischöfen und Spaniern, applaudierte ihm niemand. So diskret wie nötig und so deutlich wie möglich distanzierte sich der Münchner Kardinal Julius Döpfner, der zusammen mit dem Beigier Suenens jahrelang die große Zahl geistlicher Fürsprecher der Pille angeführt hat: Es sei eine »nicht leichte Aufgabe«, das Kirchenvolk mit der Enzyklika vertraut zu machen.
Priester minderen Ranges und katholische Prominente schlugen öffentlich einen härteren Ton an. »Skandal und Revolte« sagte der französische Jesuiten-Professor Gustave Martelet voraus, Austritte aus der Kirche und »qualvolle Konflikte« sieht der südafrikanische Erzbischof Hurley kommen, »schlimmste Konsequenzen« befürchtet der englische Titular-Erzbischof Thomas Roberts. Den Anfang machte am Priesterseminar Solothurn der Moraltheologe Anton Meinrad Meier: Er lehnt es ab, weiterhin Sexualethik zu lehren.
Den Fuldaer Geistlichen Alfons Sarrach schreckte der »Atem einer zeit- und weltfremden Mönchs-Theologie, der aus dem Rundschreiben weht«. Und vieles spricht dafür, daß es bei solchem Grollen in der katholischen Kirche nicht bleiben, daß sich ein Gewitter erst noch entladen wird.
Schon ist abzusehen, daß dieser »zweite Fall Galilei« für die katholische Kirche folgenschwerer sein wird als der erste.
Damals ging es nur um das Bild von der Welt. Heute geht es um das Leben auf dieser Welt.
Damals waren die meisten Menschen mindestens so unwissend wie der Papst. Heute wissen die meisten katholischen Paare aus eigener Erfahrung, wie weltfremd die Vorschriften sind, die ihnen der Papst für ihr Liebesleben macht.
Damals gab es unter den Gläubigen keine Gegen-Partei gegen den Papst. Heute aber geschieht etwas Spektakuläres, und Kirchenhistoriker werden nicht viele Parallelen in der Vergangenheit finden: Der Papst handelt gegen seine Kirche.
Wo immer in den letzten Jahren Katholiken mit dem Problem der Geburtenkontrolle befaßt waren -- stets waren die meisten für und nicht gegen die Empfängnisverhütung: die Mehrheit der Pillen-Kommission, die Paul VI. selbst berufen hat; die Mehrheit der katholischen Moraltheologen; die Mehrheit der katholischen Bischöfe die sich zum Pillenproblem äußerten.
Bei allen Umfragen, wo immer sie stattfanden, ergaben sich große katholische Mehrheiten für die Pille. In der Bundesrepublik sind, wie der SPIEGEL Ende vergangenen Jahres feststellte, 81 Prozent der Katholiken der Ansicht, daß die Pille den Papst nichts angeht oder daß er sie freigeben soll. Für ein Verbot sprach sich nur jeder sechste Katholik aus,
Und vor allem: Die Mehrheit der katholischen Ehepaare, sogar nach innerkirchlichen vorsichtigen Schätzungen weit mehr als die Hälfte, praktiziert seit langem die Methoden, die Paul VI. jetzt verboten hat.
Noch niemals in den letzten hundert Jahren hat sich ein Papst so über die Meinung der Mehrheit in seiner Kirche hinweggesetzt.
Zwar haben schon andere Päpste das Kirchenvolk in eine vergleichbar prekäre Lage und in einen Gegensatz zur nichtkatholischen Umwelt gebracht:
* 1854, als Pius IX. das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis Mariae verkündete,
* 1870, als auf Drängen desselben Papstes vom Ersten Vatikanischen Konzil das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes beschlossen wurde,
* 1950, als Papst Pius XII. das Dogma von der leiblichen Himmelfahrt Mariae proklamierte.
Doch der neunte und der zwölfte Pius konnten sich immerhin darauf berufen, daß sie die Mehrheit der Bischöfe auf ihre Seite gebracht hatten. Beide Päpste hatten die Voten der Oberhirten eingeholt, bevor sie die Mariendogmen verkündeten. Und auf dem Konzil 1870 sorgte Pius IX. -- wenn auch mit fragwürdigen Methoden -- dafür, daß sich eine Mehrheit für die Unfehlbarkeit fand.
Der heutige Papst aber hat die Ansichten einer Minderheit zur amtlichen Lehre der Kirche gemacht. Er schlug sich auf die Seite der Traditionalisten, denen längst antiquierte Lehren wichtiger sind als die Liebe und sogar das Leben ihrer Mitmenschen.
Kardinal Ernesto Ruffini etwa, jahrelang mit Kardinal Ottaviani ein Anführer der Konservativen, verglich die Bürgerwohnung mit einem Bordell: »Eheleute stürzen in Vergewaltigung und Prostitution, wenn sie die Ehe nicht christlich halten und die eheliche Vereinigung von ihrem Ziel (der Zeugung) abtrennen.«
Und wenige Tage bevor Paul VI. seine Enzyklika veröffentlichte, bekannte ein geistlicher Pillen-Gegner sogar, daß er bereit ist, dem eigenen Glauben zuliebe fremdes Leben zu opfern. Der holländische Theologie-Professor Jan Visser bejahte im Deutschen Fernsehen die Frage, ob »die Kirche auch eine hoffnungslose Übervölkerung der Welt in Kauf nehmen würde, um ihre traditionelle Lehre zu verteidigen«. Visser: »Ja. Wenn sie wirklich überzeugt ist, daß das das Gesetz Gottes ist, würde ich das denken. Auch wenn die Welt untergehen würde, Gerechtigkeit soll geschehen.«
Je aussichtsloser ihre Position schien, um so ungehemmter schmähten diese Konservativen die Pillen-Fürsprecher unter den Geistlichen und die Pillenbenutzer unter den Eheleuten.
Jedwede Empfängnisverhütung, so formulierte es die von Kardinal Ottaviani angeführte Minderheit der Pillen-Kommission in einem Gutachten für den Papst, sei »ein verdammenswertes Laster, ein vorweggenommener Mord«. Und über andersdenkende Amtsbrüder schrieben diese Geistlichen: »Es gibt manche, die unter gewissen Umständen Selbstmord, Abtreibung, Unzucht und sogar Ehebruch erlauben.«
Doch nicht nur diese geistlichen Gefolgsleute des Anti-Pillen-Papstes offenbarten, wie fremd Ihnen die Welt und wie lästig ihnen die Liebe der anderen ist. Paul VI. selber steht ihnen kaum nach.
Über die Koitus-Gefahren für die katholischen Frauen schreibt der Papst in der Enzyklika: Der Mann könne durch die »Anwendung empfängnisverhütender Mittel ... die Achtung vor der Frau verlieren und sich ... dahin verirren, sie einfach als Werkzeug selbstsüchtiger Befriedigung und nicht mehr als seine Gefährtin zu betrachten, der er Achtung und Liebe schuldet«. Dazu die »Frankfurter Rundschau": »Dieser Ansicht kann wirklich nur jemand Gewicht geben, der sein Leben im Zölibat verbringt, für den die Lust der Frau am Geschlechtsverkehr offenbar völlig unvorstellbar ist.«
Das Papst-Wort ist der jüngste Niederschlag von 2000 Jahren christlicher Leibfeindlichkeit. Denn der Bruch zwischen Religion und Eros ist so alt wie die Kirche. Schon der Apostei Paulus verkündete, daß sich das »Verlangen des Fleisches gegen den Geist richtet«, obwohl er doch andererseits den Männern predigte: »Liebet Eure Frauen, wie Christus die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben hat.« Sex zwischen Sünde und Sakrament -- das war und ist seit fast zwei Jahrtausenden für die Kirchen ein schier unlösbares Problem.
Lang ist die Liste der Päpste, der Heiligen und der Kirchenväter, die den Leib und die Liebe haßten. Der heilige Augustinus etwa konnte sich das Leben im Paradies nur lustlos vorstellen: Gezeugt worden sei dort mit »Gliedern, die vom Willen bewegt, nicht durch die Lust erregt wurden«.
Ähnlich wünschten sich viele Heilige auch ihre Gegenwart: Augustinus etwa konnte sich keinen rechten Christen vorstellen, der »nicht lieber, wenn er es könnte, ohne Begierde Kinder erzeugte«. Was den Beischlaf angeht, so unterschied sich für den heiligen Hieronymus der Mensch »in nichts von den Schweinen und unvernünftigen Tieren«. Und auch für Thomas von Aquin war »jede Lust schlecht«.
Diese Sex-Feindlichkeit wirkt bis in die Gegenwart hinein. Bei vielen Priestern und anderen Patienten stellte der katholische Arzt und Sexualberater Friedrich Freiherr von Gagern fest, sie empfänden »das Sexuelle geradezu als Gegen-Wert des Religiösen«.
Doch je unabhängiger die Christen von ihren Kirchen wurden, um so gleichgültiger wurden ihnen die Weisungen ihrer Moralprediger.
Als erste zogen im Jahre 1930 die Bischöfe der anglikanischen Kirchen daraus die Konsequenz: Sie stellten den Eheleuten frei, mit welchen Mitteln sie die Zahl ihrer Kinder beschränkten. Verboten blieben nur Abtreibung und Sterilisation.
Im selben Jahr, in dem die Anglikaner die Freiheit wählten, verschloß die katholische Kirche sich diesen Weg. Plus XI. legte seine Kirche auf den Standpunkt fest, den Paul VI. nun bekräftigte. In einer Enzyklika »Casti connubii« ("Der reinen Ehe") sprach der elfte Pius das Verdammungsurteil über katholische Eheleute, die »durch Verkehrung des natürlichen Aktes ... aus Widerwillen gegen den Kindersegen die Last vermeiden, aber trotzdem die Lust genießen wollen«.
Mit zwei Zitaten belehrte der Papst die Katholiken darüber, daß Ehe-Sünder Gott fürchten müßten, aber auch auf Gott hoffen dürften:
* Die Strafe Gottes drohe nach dem heiligen Augustinus: »Unerlaubt und unsittlich ist der eheliche Verkehr selbst mit der rechtmäßigen Gattin, wenn dabei die Weckung neuen Lebens verhütet wird. Das hat Onan, »des Judas Sohn, getan, und darum hat ihn Gott getötet«;
* die Hilfe Gottes habe das Konzil von Trient versprochen »Gott befiehlt nichts Unmögliches; indem er befiehlt, mahnt er zu tun, was du tun kannst, und um das zu bitten, was du nicht kannst, und er hilft. daß du kannst.«
Und der nächste Papst, Plus XII., verdammte dann erstmals, vier Wochen vor seinem Tod, auch jenes Produkt moderner Wissenschaft, das nun in der Enzyklika von Paul VI. mit keinem Wort erwähnt und doch vor allem anderen gemeint ist: die Antibabypille.
Entgegen aller medizinischen Erkenntnis tat Plus sie als Mittel zur »direkten Sterilisation« ab -- während sie doch in Wahrheit erstmals auf zugleich gefahrlose und zuverlässige Weise gewährleisten konnte, daß Kinder in menschenwürdige und sozial gesicherte Verhältnisse hinein, nach dem Wunsch der Eltern gezeugt und geboren werden.
Vor 14 Jahren wurde die Antibabypille in den Labors eines Instituts in Boston zum erstenmal zusammengemischt. Vor acht Jahren erschien sie, rosarot, in den Regalen amerikanischer Drugstores. Seit sechs Jahren gibt es sie in bundesdeutschen Apotheken.
Nun schnippen schon 25 Millionen Frauen in aller Welt Tag um Tag das Hormonpräparat aus der Silberfolie oder durch die Öffnung in der Datumswählscheibe. Und Schwester Sourire, die singende Nonne ("Dominique"), stimmte Jubeltöne an: »Glory be to God for the Golden Pill« -- Ruhm sei Gott für die goldene Pille.
Kein anderes Produkt der pharmazeutischen Industrie ist je so sorgsam geprüft, so argwöhnisch in seinen Wirkungen und Nebenwirkungen beobachtet worden. Kein anderes ist auch von Weltlichen so heftig geschmäht, befehdet und verleumdet worden wie die Antibabypille.
Ärzte, die sich zu Hütern der Moral aufwarfen, brandmarkten sie (so 1964 in der »Ulmer Denkschrift« einiger hundert deutscher Mediziner) als Mittel »zur weiteren Aufweichung unserer Ehe- und Familienordnung«, ja vielleicht gar als Auslöser für »heutige ... Entartungserscheinungen«; sie werde womöglich »Deutschland in ein sterbendes Volk verwandeln«.
Ärzte, die Renommee zu erlangen hofften (so beispielsweise der Hamburger Gynäkologe Oskar Guhr), verdächtigten sie, die gefürchtetste Krankheit auszulösen -- Krebs. (Die Behauptung wurde widerlegt.)
Und Deutschlands volkstümliche Blätter schürten gefühlige Widerstände, tief in der Intimsphäre. Das »Grüne Blatt": »Millionen Männer verlieren die Lust an der Liebe« (weil entfesselte Frauen sie überfordern). Eine »Bild«-Leserin, anonym: »Ich hasse die Pille. Sie hat unsere Liebe aufgelöst. Mit jedem Glas Wasser, zu trinken mit der Pille, habe ich das Begehren fortgespült.
Doch all das konnte den Siegeszug der Antibabypille allenfalls geringfügig bremsen -- aufhalten ließ er sich nicht. Immer mehr Frauen, vornehmlich die jüngeren, griffen zu jenem Geburten-Verhütungsmittel, das sich hauptsächlich durch zwei Eigenschaften allen anderen Nothelfern für folgenfreien Beischlaf überlegen zeigte: Die Pille stört weder Ästhetik noch Empfindung des Sexualakts, und sie wirkt hundertprozentig sicher.
Sieben Millionen Amerikanerinnen (fast 20 Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter) schützen sich mit der Pille. In Schweden (Anteil der Pillenbenutzerinnen: 19 Prozent) ist sie Lehrstoff der sechsten Volksschulklasse (elf- bis 13jährige Mädchen). Den Pillen-Rekord hält vorerst Australien -- 25 Prozent der gebärfähigen Frauen nehmen dort die tägliche Hormon-Portion.
In den katholischen Ländern Südamerikas (derzeit rund zwei Millionen Pillenbenutzerinneny wird sie den Armen vorenthalten, die Wohlhabenden wissen sie sich zu beschaffen. Rund 25 000 Italienerinnen, denen sie als »Teufelswerk« (so der ehemalige Innenminister Taviani) verboten ist, verlegten sich auf Schmuggel und Schwarzhandel: Hormone werden im kleinen Grenzverkehr oder auf Schleichwegen aus der italienischen Pillen-Produktion beschafft, die ausschließlich für Orient-Export bestimmt ist.
Französinnen, die »von dem Bannspruch des Generals de Gaulle betroffen sind ("Es kommt nicht in Frage, daß die Sozialversicherung die Pille vergütet. Sie zahlt ja auch nichts für Autos. Beide dienen der Zerstreuung"), kauften wenigstens die Platte des Quartier-Latin-Beatle Antoine: das Lied von der armen Arbeiterfrau, die den Gashahn auf dreht, weil ihr der Staat »la bombe verte«, die grüne Bombe, verweigert.
Auch bundesdeutsche Pillenwillige müssen, vor allem wenn sie noch jünger und noch ledig sind, um ihre Hormon-Ration kämpfen: gegen den Rektor der Pädagogischen Hochschule in München beispielsweise, der Ende letzten Monats einen studentischen Informationsstand mit Pillen-Aufklärungsmaterial aus der Eingangshalle der PH entfernen ließ; gegen Ärzte, die medizinische Bedenken vorschützen (der Berliner Gynäkologe Eberhard Schaetzing: »Hände weg von der Keimdrüse!"), auch wenn ·sie in Wahrheit die Moral bewachen wollen.
Eine praktische Ärztin im friesischen Jever, beim Ausstellen eines Pillen-Rezepts gegen Hormonstörungen: »Aber keine Unzucht treiben!«
1,4 Millionen bundesdeutsche Frauen zwischen 16 und 45 Jahren, so ergeben die jüngsten Marktanalysen, nehmen schon die Pille. Das sind 13 Prozent der Frauen in dieser Altersgruppe, mehr als doppelt so viele wie Anfang 1965 (ein Jahr zuvor waren es erst zwei Prozent). Und ihre Zahl wächst, wie die Marktbeobachter feststellen, »gerade in jüngster Zeit rapide«.
Daß auch der Bannstrahl aus dem Vatikan diesen Trend nicht merklich wird beeinflussen können, spiegelten am Montag letzter Woche Deutschlands Aktienbörsen wider: Die Papiere der Berliner Schering AG, des größten westdeutschen Antibabypillen-Herstehers (Marktanteil: über 60 Prozent), zogen an.
Die Börsianer, scheint es, verstanden die Welt besser als der Papst -- so gut wie die Staatsoberhäupter von 27 Ländern, die im Dezember vorigen Jahres bei der Uno eine Entschließung vorlegten, in der die Empfängnisverhütung zu einem »Grundrecht des Menschen« erklärt wird.
Die Nöte dieser Welt verstanden haben auch die Wissenschaftler: Allein für den Zweck, die empfängnisverhütende Pille weiterzuentwickeln und durch neue, einfacher zu handhabende Präparate zu ersetzen, schüttete die Ford Foundation Ende vorigen Jahres einen Forschungsetat von 63 Millionen Mark aus -- unabhängig von den Millionenbeträgen, die fast alle großen Pharma-Unternehmen der Welt dieser Suche zuwenden.
Denn außer Paul VI. und seinen Ottavianis bezweifelt kaum ein Nachdenklicher unter der Sonne: Anders als durch den konsequenten, weltweiten Einsatz moderner Empfängnisverhütung ist die Apokalypse, die der Menschheit droht, ist das Pandämonium von Hunger, Seuchen, Krieg und Tod nicht abzuwenden.
Ende des vorigen Jahrhunderts entdeckte Louis Pasteur die Grundsätze moderner Hygiene. Der Sieg über Seuchen und Säuglingssterblichkeit hat seither die durchschnittliche Lebenserwartung des Menschen verdoppelt, schließlich verdreifacht. Und so wie damals die Menschheit vom grausaminhumanen Weg der Natur abwich, muß nun der zweite Schritt der Humanität getan werden: Steuerung der Geburtenrate wird zum moralischen Postulat.
Hunderttausende von Jahren hatte es gedauert, bis sich die Steinzeit-Population zur ersten Bevölkerungsmilliarde -- im Jahre 1850 -- vermehrte. Für den zweiten Milliardensprung waren nur noch 75 Jahre nötig. Heute (Weltbevölkerung: 3,4 Milliarden) ist die Spanne schon auf 15 Jahre geschrumpft. Und wenn Geburtenkontrolle ausbliebe, würden sich -- so die demographische Hochrechnung -- in 30 Jahren. um das Jahr 2000, sieben Milliarden Menschen auf der Erde drängen (siehe Graphik).
Asien, wenn es den hölzernen Hakenpflug durch modernes Ackerbaugerät ersetzen und die Zahl seiner Esser nicht nur durch Hungertod begrenzen will, wird mit dem eigenen, bodenständigen Aberglauben und Unverstand genug zu schaffen haben -- es wird Erleuchtungen aus Rom kaum sonderliche Beachtung schenken (mit Ausnahme vielleicht der mehrheitlich katholischen Philippinen).
Aber die päpstliche Bannbulle wider die Geburtenkontrolle könnte verheerende Folgen hervorrufen in einem Kontinent, dessen 260 Millionen Einwohner fast ausschließlich katholischen Glaubens sind und der die höchste Bevölkerungszuwachs-Rate in der Welt aufweist: ·in Lateinamerika, wo schon In wenig mehr als 20 Jahren die Verdoppelung der Bevölkerung droht.
Schon jetzt müssen in Südamerika Millionen Menschen mit einer Hungerdiät von täglich 1200 Kalorien vegetieren. Den »Mangel an Weitblick von seiten der Regierungen«, einen »ungenügenden sozialen Gerechtigkeitssinn« und »egoistische Hausmachtpolitik« hat Pillen-Gegner Paul VI. dafür angeklagt.
Aber es gehört schon die ganze Engstirnigkeit reaktionär-katholischen Weltverständnisses dazu, den Umstand zu verkennen, daß gottgefälliger Menschheitsfortschritt -- im Kampf gegen Krankheit und frühen Tod -- diese soziale Hochspannung zum Gutteil verursacht hat; daß, wer Penicillin und Pockenimpfstoff gutheißt. mit gleicher Entschiedenheit auch drastische Geburtenkontrolle nicht nur tolerieren, sondern propagieren muß.
Nicht minder grotesk im Hinblick auf volkreiche Entwicklungsländer muß anmuten, daß Paul VI. sich von einer »Beherrschung des Trieblebens« und von »ehelicher Keuschheit in Zucht und Ordnung« (so die Enzyklika) das Heil für die von Hungersnot bedrohte Welt erhofft.
Carlos Lleras Restrepo, Staatspräsident von Kolumbien, empfahl den Verfechtern solch weltfremder Askese einen Besuch in den Elendsquartieren
* Dr. Herbert Heiss: »Die Abortsituation in Europa und in außereuropäischen Ländern«. Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart.
seines Landes und erläuterte: »Was soll man sagen zu dem Sexualverkehr zwischen Geschwistern, wie er in den Slums gang und gäbe ist? Was zu der fehlenden sexuellen Aufklärung, zu der menschenunwürdigen Behandlung der Kinder« zu dem erschreckenden Umsichgreifen der Prostitution unter Kindern beiderlei Geschlechts. Was soll man sagen zu der grassierenden Abtreibungsseuche und dem nahezu tierischen Sexualverkehr in der Folge alkoholischer Exzesse? Ich sehe mich nach diesen Eindrücken außerstande, die Moral oder Unmoral von Methoden der Empfängnisverhütung gegeneinander abzuwägen, ohne zugleich jene unmoralischen und oft kriminellen Verhältnisse vor Augen zu haben, die ein so simpler Akt wie die Empfängnis auf die Dauer zu erzeugen imstande ist.«
Erscheint mithin zweifelhaft, ob der Papst und seine Berater wirklich, wie sie vorgeben, die Probleme von Ländern mit explodierender Bevölkerungszahl ins Auge gefaßt haben -- ebenso offenkundig ist, daß sie die Augen verschlossen haben vor einem Problem, das vor allem in den hochzivilisierten Ländern die medizinische Diskussion um die Antibabypille von Anfang an begleitet hat: Die Alternative zu verläßlichen Verhütungsmitteln heißt Abtreibung.
Zu Zeiten Maria Theresias und zu denen Heinrich Himmlers war sie bei Todesstrafe verboten. Im westdeutschen Wohlfahrtsstaat drohen der Abtreiberin und ihrem Helfer Gefängnis, in schweren Fällen Zuchthaus. Aber zu allen Zeiten ist, wie unlängst Dr. Herbert Heiss, Oberarzt an der Universitätsklinik Graz, ·in einer Untersuchung über die Abtreibungssituation in der Welt notierte, »der Wille zur Abtreibung stärker gewesen als moralische, sittliche oder religiöse Bedenken und die Angst vor den psychischen, körperlichen und strafrechtilehen Folgen dieses Tuns"*.
25 Millionen Abtreibungen, so lautet eine Schätzung der Weltgesundheitsorganisation WHO, wenden jedes Jahr in der Welt vorgenommen. Aber solche Schätzungen sind -- wegen der enorm hohen Dunkelziffern -- ungewiß. Für die Bundesrepublik (jährlich etwa eine Million Lebendgeburten) schwanken sie zwischen 200 000 und 1,5 Millionen pro Jahr. Nach vorsichtigen Schätzungen sterben in Westdeutschland jährlich 250 Frauen an den Folgen einer Abtreibung.
Legalisierte -- und mithin vom Risiko befreite Abtreibungen, wie sie in den meisten Ostblockländern praktiziert werden*, kann die katholische Kirche in ihrem gegenwärtigen Bewußtseinszustand nicht tolerieren. Nicht einmal bei der sogenannten medizinischen Indikation, also wenn unmittelbare Gefahr für Leben oder Gesundheit der Schwangeren besteht, ist sie erlaubt -- wie das päpstliche Pillen-Papier wiederum bekräftigt.
Aber die Aufgeschlosseneren unter den katholischen Moraltheologen irrten, als sie hofften, daß wenigstens solcher Dogmen-Gewißheit nun in Rom die logische Konsequenz folgen würde: Die Seuche der Abtreibungen, weder durch weltliche Gesetzeshärte noch durch Androhung von jenseitigen Höllenqualen einzudämmen, kann -- wie 1967 auf der achten Internationalen Tagung für Familienplanung in Chile von fast allen Sprechern konstatiert wurde -- nur durch Vorbeugung besiegt werden, mittels verläßlicher Empfängnisverhütung.
Erste Beweise dafür liegen schon vor. In der Hamburger Frauenklinik Finkenau zum Beispiel ist nach Einführung der Pille die Zahl der Fehlgeburt-Patientinnen von 815 im Jahr 1960 auf 421 im Jahr 1967 zurückgegangen (in 85 bis 90 Prozent der Fälle, so Chefarzt Professor Hanns Dietel, war die Fehlgeburt künstlich herbeigeführt worden). Ähnlich bekundete Dr. Heilwig Droste, leitende Ärztin des Hamburger Beratungszentrums für Familienfragen: »Ich weiß aus vielen Gesprächen, daß die Abtreiber zunehmend über Arbeitslosigkeit klagen.«
Dies wäre in der Tat, nach Jahrtausenden der Vollbeschäftigung für abtreibende Medizinmänner und Engelmacherinnen, eine Wende. Zwar wußten die Frauen schwäbischer Volksstämme im Banat seit Jahrhunderten die spermientötende Wirkung zitronensaftgetränkter, in die Scheide eingelegter Schwämmchen zu nutzen; zwar erfanden Siebenbürger Sachsen eine besondere Technik, den »sächsischen Griff«, bei dem mit hartem Schnürgriff um den Penis im entscheidenden Moment das Ejakulat in die Harnblase umgelenkt wurde; zwar breiteten sich die Kondome, kaum daß der Kautschukbaum in Südamerika entdeckt war, über die halbe Welt aus (Welt-Jahresproduktion 1967: zwei Milliarden Stück).
Aber wenn strikte Nachkommensbeschränkung geboten schien -- so in Japan, wo von Anfang des 17. bis Mitte des 19. Jahrhunderts die Bevölkerungszahl auf 25 Millionen beschränkt blieb -, waren doch drastischere Maßnahmen nötig: Kindestötung, Kindesaussetzung und Abtreibung.
* In der Tschechoslowakei beispielsweise gab es in den Jahren 1963 und 1964 bei insgesamt 140 000 Abtreibungen keinen einzigen Todesfall.
Die Abkehr von den teils skurrilen, durchweg unzuverlässigen Verhütungsmitteln wurde erst möglich, als vor wenigen Jahrzehnten die Wirkweise jener Steuersubstanzen ermittelt wurde, die den Fruchtbarkeits-Zyklus im weiblichen Köper regulieren: der Sexualhormone.
Drei Jahre lang arbeiteten die amerikanischen Hormonforscher Gregory Pincus und John Rock an der Entwicklung der Hormon-Pille, die den weiblichen Organismus so umsteuert daß auch in den vom Papst für die Askese vorgesehenen Phasen des Zyklus keine Befruchtung möglich ist.
Ehe die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA im Jahre 1960 das Präparat zur allgemeinen Verwendung freigab, war es an einigen tausend Frauen jahrelang auf Wirksamkeit und Unbedenklichkeit erprobt worden.
Bis heute sind die Verdächtigungen nicht verstummt, die Pille würde Gesundheitsschäden verursachen. Aber bis heute hat sich keines der schwerer wiegenden Verdachtsmomente bestätigt:
* Noch immer nehmen mehr als 1300 Puertoricanerinnen, die seit 1956 am Testprogramm teilnehmen, regelmäßig ihre Pille -- ohne Folgen.
* Als der Krebsverdacht überprüft wurde, ergab sich eher das Gegenteil: Unter den Frauen, die das Hormon-Präparat regelmäßig nahmen, traten Krebsfälle sogar seltener auf als sonst.
* Als aufkam, daß bei Frauen die zur Thrombose (Pfropfenbildung im Blut) neigen, solche Gefahr durch Antibabypillen verstärkt werden könne, mußten die Ärzte einräumen: Wenn solche Frauen schwanger werden, sind sie noch eher thrombosegefährdet als durch die Pille. Und auch für den bislang unheimlichsten Einwand gegen die Pille -- daß sie vielleicht zur Schädigung der Nachkommen führen könne -- hat sich bislang keine Bestätigung finden lassen. Kindesmißbildungen, auch nach langjähriger Einnahme der Pille, sind, wie Ende letzten Jahres ein Sachverständigen-Gremium der Weltgesundheitsorganisation konstatierte, »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten«.
Ihren Schrecken verloren haben inzwischen auch die sogenannten Begleiterscheinungen, über die sich anfangs rund 20 Prozent »der Pillenbenutzerinnen beklagten.
Die schwerer wiegenden -- wie gelegentliche Durchbruchsblutungen und anhaltende leichte Blutungen (spotting) -- traten kaum mehr auf, seit die Dosis der Wirkstoffe in der Pille drastisch gesenkt wurde.
Und was die leichteren anlangt -- wie Kopfschmerz, Übelkeit, Gewichtszunahme -, so machte US-Forscher Pincus in einem groß angelegten Versuch eine überraschende Entdeckung: Frauen, denen statt der echten Pille nur ein Scheinpräparat (Placebo) verabreicht worden war, verspürten in gleicher Häufigkeitsverteilung solche Nebenwirkungen,
Und wie bei echten Pillenbenutzerinnen die Begleiterscheinungen fast immer abklingen, wenn der Arzt auf ein anderes Präparat umschaltet, so verschwanden auch die spukhaften Nebenwirkungen bei den Placebo-Frauen, sobald Professor Pincus ihnen ein anderes Scheinpräparat verabreichen ließ.
Im selben Maße, wie die konkreten medizinischen Vorbehalte ausgeräumt wurden, flüchteten sich auch bei den Ärzten die Pillen-Gegner zusehends in vage, lebensphilosophische Argumentation.
1966 hob die wohl kritischste Arzneimittelbehörde der Welt, die amerikanische FDA, ihre ursprüngliche Empfehlung auf, die Pille nach jeweils vier Jahren Benutzung für einige Zeit abzusetzen. Aber ein Jahr später, auf dem Therapie-Kongreß in Karlsruhe, empfahl der Göttinger Gynäkologe Heinz Kirchhoff seinen Kollegen immer noch, nach jeweils sechs Monaten die Pillen-Verschreibung einzustellen, und zwar, wie der Kongreß-Berichterstatter Alfred Püllmann referierte, »rein intuitiv, ohne sich auf biologische Belege stützen zu können«.
Doch all das sind Rückzugsgefechte in den Reihen der Mediziner. In den Vereinigten Staaten sind, wie kürzlich eine Umfrage der US-Gynäkologenvereinigung ergab, schon 95 Prozent aller Frauenärzte bereit, die Pille zu verschreiben (vier Prozent zögern aus religiösen Gründen, nur ein Prozent hegt noch medizinische Bedenken). Und mittlerweile wird nun auch auf deutschen Ärztetagungen weithin für die Pille plädiert.
So vertrat auf dem diesjährigen Fortbildungskongreß der Bundesärztekammer in Badgastein der Münchner Gynäkologie-Professor Gerhard Döring die Auffassung, daß eine verläßliche Empfängnisverhütung jedenfalls für solche Frauen angezeigt sei, die gerade eine Geburt hinter sich haben: Gesundheitsschäden für die Frau und für das nächste Kind sowie ein erhöhtes Frühgeburten-Risiko seien zu erwarten, wenn der Abstand zwischen zwei Geburten weniger als zwei Jahre beträgt.
Und Professor Hans-Joachim Prill von der Universitäts-Frauenklinik Würzburg geht noch weiter: Er hält den Zeitpunkt für gekommen, da »zu überlegen wäre, ob nicht die Rezeptpflicht (für die Antibabypille) aufgehoben werden soll«.
Ein starkes Wort gebrauchte auf einem Fortbildungskongreß in Westerland der Hamburger Hygiene-Professor Hans Harmsen: Wer einer Frau, deren Leben oder Gesundheit durch eine erneute Schwangerschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit gefährdet wäre, nicht zu strikter Empfängnisverhütung rät, begeht einen »ärztlichen Kunstfehler«.
Es ist nicht auszumachen, wie katholische Ärzte oder auch Mediziner an katholischen Krankenhäusern solche eindeutigen medizinischen Normen mit der päpstlichen Enzyklika in Einklang bringen sollen.
Eine Umfrage des SPIEGEL ergab letzte Woche ein eher unklares Bild. Im katholischen Krankenhaus St. Barbara in Duisburg beispielsweise herrscht die Meinung, die Kirche habe ohnehin den »Augenblick verpaßt, die Entwicklung noch steuern zu können«; die Enzyklika werde jetzt nichts mehr ändern, »sie schafft möglicherweise Probleme für die Patientinnen, aber nicht mehr für uns«. Bei den Patientinnen seien vor allem »Neurosen, bedingt durch verkrampfte Sexual-Praxis, aber auch ein leichtes Ansteigen der Abtreibungen« zu befürchten.
Chefarzt Dr. Rolf Geißler vom katholischen Willehad-Hospital in Wilhelmshaven, selber Protestant, aber seit Übernahme des Chefarzt-Postens auf die moraltheologischen Prinzipien der katholischen Kirche verpflichtet, will gleichfalls »weitermachen wie bisher« -- Pillenverordnung »bei medizinischer Notwendigkeit«.
Durchaus vor Gewissenskonflikten -- »als Katholikin einerseits, als Ärztin andererseits« -- sieht sich hingegen die Chefärztin des Marien-Hospitals in Osnabrück, Dr. Ursula Brandenburg. Die Medizinerin, die sich »gleich Montag, als ich die Nachricht hörte, an die vatikanische Botschaft in Bonn gewandt« hat, um den genauen Text der Enzyklika studieren zu können, sieht nur noch die winzige Hintertür offen, die Pillen-Oegner Paul VI. der modernen Empfängnisverhütung gelassen hat: »Irgendwo las ich, daß die Verwendung von empfängnisverhütenden Mitteln in gewissen Krankheitsfällen« -- beispielsweise bei Zyklusstörungen oder bestimmten Hauterkrankungen -- »statthaft sein soll.« Gleichfalls am Montag, so berichtete die Chefärztin weiter, »kamen katholische Patientinnen zu mir mit der Frage, ob sie die Pille sofort absetzen sollten«.
Sie gehörten zu jenen 15,6 Prozent der bundesdeutschen Frauen, welche die Wahl einer Verhütungsmethode »von moralischen und religiösen Prinzipien abhängig« machen würden. Diese Angabe entstammt einer bisher unveröffentlichten Untersuchung über die Einstellung der westdeutschen Frauen zu Empfängnisverhütung und Sexualität, die der Würzburger Professor Prill anstellte. 1019 Frauen zwischen 20 und 45 Jahren wurden -- als repräsentativer Bevölkerungsdurchschnitt -- per Fragebogen einvernommen.
Aus dieser Befragung wird auch deutlich, daß eine Sorge der Pillen-Gegner unbegründet ist: Auch emanzipierte Frauen wollen Kinder (nur 2,6 Prozent der Befragten würden eine kinderlose Ehe führen wollen), aber sie wollen sie zur rechten Zeit -- 84 Prozent der befragten Frauen halten Familienplanung für erforderlich.
Noch immer benutzen 42 Prozent der westdeutschen Frauen, so die Prill-Studie, »natürliche Methoden« der Empfängnisverhütung, wobei der (von der katholischen Kirche nach wie vor verbotene) Koitus interruptus einbegriff en ist. Acht Prozent der Befragten waren gegen jede Art der Verhütung, 55 Prozent wenden künstliche Verhütungsmittel an**.
Religionszugehörigkeit spielte bei dieser Häufigkeitsverteilung keine Rolle. Jedoch wurde, wie Prill ausführt, »die Ablehnung (von Verhütungsmitteln) sehr stark, wenn wir eine Korrelation mit den regelmäßigen oder häufigen Kirchenbesuchen vornehmen«.
Prills Studie bestätigte auch, was der medizinischen Fachliteratur seit längerem zu entnehmen Ist und was den Vormarsch der Pille in der Tat plausibel macht: die beträchtliche Unzuverlässigkeit anderer Methoden.
13,5 Prozent der von Prill Befragten, die sich mit Präservativen, Pessaren, Scheidensprays oder ähnlichen Verhütungsmitteln geschützt hatten, waren trotzdem schwanger geworden. Und unter denen, die den Koitus interruptus oder die -- vom Papst einzig zugelassene -- Zeitwahlmethode angewendet hatten, war es bei jeder dritten Frau zu einer unerwünschten Schwangerschaft gekommen.
»Das einzig Regelmäßige an der Regel (der Frau) ist ihre Unregelmäßigkeit«, hat einmal der Breslauer Gynäkologe Ludwig Fraenkel konstatiert. Und dem entsprechen die Statistiken der Familienplaner: 20 Schwangerschaften bei je 100 Frauen in jedem Jahr sind die durchschnittliche Versagerquote bei der Zeitwahlmethode.
Zu ähnlichen Ergebnissen kam der Bostoner Wissenschaftler Andre J. de Bethune kürzlich mit Hilfe der statistischen Wahrscheinlichkeitsrechnung: Wenn der »monatliche Sicherheitsfaktor« nur um drei Prozent unter die Hundert-Prozent-Marke sinkt, stehen die Chancen für eine ungewollte Empfängnis schon nach zweieinhalb Jahren 50 zu 50. Anders gerechnet: Wenn ein Paar, das sich ausschließlich an die Zeitwahl hält, mindestens zwei Jahre
* Im Münchner »Rationaltheater«.
** Einige der Befragten verwenden natürliche und künstliche Mittel nebeneinander. lang keine Kinder haben will, muß es sich nach der statistischen Wahrscheinlichkeit auf nur zweimaligen Verkehr pro Zyklus beschränken. Vier Jahre ohne Kind bedeuten maximal einen Koitus pro Zyklus. »Es überrascht nicht«, resümierte de Bethune, »daß die Rhythmusmethode zu einer Quelle seelischer Qualen geworden ist.«
Das Ausmaß solcher Qualen in katholischen Eheschlafzimmern veranschaulichte eine Sammlung von »Erfahrungsberichten«, die 1966 in dem renommierten katholischen Grünewald-Verlag (Mainz) erschienen ist*.
Ehefrau D., so ist dort nachzulesen, wurde in fünfeinhalb Ehejahren »trotz Einhaltung der Zeitwahl dreimal schwanger«. Das Paar C., das ebenfalls seine »Liebe nach dem Kalender« einrichtete, hatte in elf Ehejahren sieben Kinder und drei Fehlgeburten, das Paar B. neben ebenfalls drei Fehlgeburten -- zehn Kinder ("Ursprünglich hatten wir nur drei geplant").
Zu welch selbstquälerischer Sexual-Askese gehorsame Katholiken sich gezwungen sehen, ist gleichfalls dem Erfahrungsbericht zu entnehmen.
Ehepaar A.: »Wenn die Kurve oder der Kalender »nein« sagt, muß das Ehepaar sich gegenseitige sexuelle Indifferenz und Distanz vorspielen.« Schließlich verkehrte das Paar A. ("Wir sind beide noch nicht 30 Jahre") überhaupt nicht mehr geschlechtlich miteinander, das Paar D. nur noch »mit beträchtlicher Angst einmal alle drei Monate«. Dem Ehepaar A. drängte sich die »beunruhigende Frage« auf: »Ist das die wahre Berufung der christlichen Ehe?«
Solche Fragen aus den Reihen der Gläubigen waren es, die in den Jahren, in denen die Pille die Welt eroberte, auch in der katholischen Kirche einen Wandel anbahnten. Die Mehrheit der katholischen Moraltheologen machte sich die Argumente von Medizinern und anderen Wissenschaftlern zu eigen, die für die Pille sprechen.
Ungewiß war, ob diese geistlichen Gelehrten den Papst auf ihrer Seite hatten. Aber sicher konnten sie sein, im Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils zu handeln.
Es hatte die Eigenverantwortung der katholischen Christen gegenüber dem Klerus betont. Den Eltern billigte die Versammlung das -- bis dahin verweigerte -- Recht zu, die Zahl der Kinder frei zu regeln. Den Staaten wurde freigestellt, »geeignete Maßnahmen« zur Geburtenkontrolle zu treffen.
Moderne Moraltheologen entwickelten eine in sich geschlossene neue Lehre über die Empfängnisverhütung. Sie wurde dann auch von der Mehrheit jener Kommission übernommen, die Paul VI. nach dem Konzil zusammenrief, über die Pille nachzusinnen: Eine Methode sei so gut oder schlecht wie die andere, den Paaren solle die Entscheidung überlassen bleiben. Wichtiger als die Methode seien die Motive, eigensüchtiger Verzicht auf Kinder
* Michael Nowak: »Eheliche Praxis -- kirchliche Lehre. Erfahrungsberichte«. Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz.
dürfe nicht hingenommen werden. Nicht der einzelne Geschlechtsakt, wohl aber die Ehe insgesamt müsse der Zeugung von Kindern dienen. Die Empfängnisverhütung sei erlaubt, die Abtreibung bleibe verboten.
Und die Theologen beriefen sieh überdies auf eine alte katholische Glaubensregel: Wenn zwei unterschiedliche Moral-Lehren in der Kirche vertreten werden dürfen, dann darf auch nach jeder dieser Lehren gehandelt werden. Mithin stehe es den katholischen Eheleuten frei, ob sie Liebe nach dem Kalender (Spott-Bezeichnung. »Römisches Roulette") oder mit der Pille lieben wollten.
Ein Ja zur Pille hatte das Konzil nicht gesagt. Aber nicht, weil es nicht wollte, sondern weil es nicht durfte. Papst Paul VI. hatte sich die Entscheidung vorbehalten.
Daß er selber konservativ denke, hatte er mehrfach angedeutet. Und so versuchte er auch die Pillenkommission in reaktionäre Richtung zu lenken -- wohl vor allem deshalb, weil seine Vorgänger Pius XI. und Pius XII. die überkommenen Normen fast wie Dogmen verteidigt hatten.
Daran knüpften auch der Kommissionsvorsitzende Ottaviani und seine kleine Schar der Pillen-Gegner an -- wohl wissend, daß Paul VI. von der Einzigartigkeit seines Amtes durchdrungen ist und nicht an seinen Vorrechten rütteln lassen will.
Würde der Papst -- so das Geheimgutachten der Ottaviani-Minderheit -- die Lehre seiner Vorgänger korrigieren, so würde die Autorität der Kirche »in fast allen moralischen und dogmatischen Fragen ernstlich geschädigt«. Das Eingeständnis eines Irrtums der Kirche wäre »gleichbedeutend mit dem Hinweis, daß ihr der Beistand des Heiligen Geistes gefehlt hat«.
Und die Ottaviani-Gruppe deutete an, daß dann der Heilige Geist wohl oft unterwegs sei -- jedenfalls dann, wenn andere Kirchen die Empfängnisverhütung bejahten: Man müsse dann »ehrlicherweise zugeben, daß der Heilige Geist in den Jahren 1930, 1951 und 1955 auf seiten der protestantischen Kirchen war«.
Schon zwischen der Minderheit und der Mehrheit der Kommission entbrannte angesichts solcher Thesen ein Streit. Döpfner und die anderen Mehrheits-Parteiler in ihrem Gutachten: »Tatsächlich wissen wir, daß in der Lehre des kirchlichen Lehramts und der Überlieferung Irrtümer vorgekommen sind.«
Dieses Thema -- die Irrtümer der Päpste -- blieb bis zur vergangenen Woche auf die Pillen-Kommission beschränkt. Die Pillen-Enzyklika des Papstes hat es nun in die Öffentlichkeit getragen.
Weil die Forderungen Pauls VI. so überaus weltfremd und unmenschlich sind, mögen ihm viele Priester nicht glauben, daß er sich auf »unwandelbare Forderungen des göttlichen Gesetzes« berufen kann. Deshalb suchen sie in der Enzyklika nach Irrtümern. Und sie untersuchen, ob das Lehramt wirklich Schaden genommen hätte, wenn Paul VI. einen Irrtum seiner Vorgänger eingestanden und eine neue Ehe-Lehre verkündet hätte.
Vermutlich nicht. Aus der Kirchengeschichte ist oft zu belegen, daß Gleiches und Schlimmeres anderen Heiligen Vätern widerfahren ist.
Mindestens drei Päpste haben selber Irrlehren verbreitet und sich damit als fehlbar erwiesen, obwohl auch sie wie alle Petrus-Nachfolger im Jahre 1871) posthum für unfehlbar erklärt wurden. Papst Liberius (352 bis 366) verdammte die Lehre von der Gottgleichheit Jesu. die zuvor auf dem Konzil von Nicaea verkündet worden war und bis heute Dogma ist.
Zwei Jahrhunderte später irrte wieder ein Papst -- Vigilius (537 bis 555) als er sich zu einem Christusbild bekannte, das zuvor auf dem Konzil von Chalcedon verdammt worden war.
Exemplarisch ist der Fall des Papstes Honorius I. (625 bis 638). Er wurde auf dem Konzil von Konstantinopel 681 verflucht, weil er der Irrlehre des Monotheletismus verfallen war*.
Und es blieben Widersprüche in Glaubenswahrheiten ungeklärt. So hat das Konzil von Konstanz (1414 bis 1418) einen Beschluß gefaßt, der das Gegenteil eines Beschlusses des Ersten Vatikanischen Konzils (1869 bis 1870) besagt. In Konstanz wurde verkündet, daß jeder Katholik, auch der Papst, einem Konzil gehorchen müsse. Im Vatikan wurde verkündet, daß ein Konzil nur mit dem Papst, nicht gegen und nicht ohne den Papst entscheiden dürfe.
* Monotheletismus die Lehre, daß in Christus zwar zwei Naturen seien, aber nur ein einziger Wille.
Für eine Kette von Irrtümern sorgte ausgerechnet jener Papst, der auf dem Ersten Vatikanum das Unfehlbarkeits Dogma und den Papst-Primat durchsetzte: Pius IX. Er veröffentlichte 1864 eine Liste von Irrlehren ("Syllabus"), die er verdammte. Nie wurde dieser Entscheid aufgehoben, aber längst sind aus den meisten damaligen Irrlehren inzwischen katholische Wahrheiten geworden. Die Gewissensfreiheit zum Beispiel, von Gregor XVI. einst als »albernes Zeug« verspottet und von Pius IX. verdammt, wurde vom Zweiten Vatikanischen Konzil feierlich proklamiert.
Manche Irrtümer schleppte die Kirche jahrhundertelang mit -- so das Verbot des Zinses. Andere Entscheidungen wurden schnell korrigiert, wie vor allem der Zickzackkurs um die Mischehen zeigt:
* 1906 wurden in Deutschland von einem Tag auf den anderen alle evangelisch oder nur standesamtlich geschlossenen Mischehen, die bis dahin ungültig und auflösbar waren, für gültig, sakramental und unauflösbar erklärt. Seit 1918 sind solche Mischehen wieder ungültig.
* 1949 entschied Pius XII., alle im Orient vor einem orthodoxen Priester geschlossenen katholisch-orthodoxen Mischehen seien ab sofort ungültig. 1964 wurde dieser Beschluß wieder aufgehoben. Im Jahre 1964 ließ Paul VI. das Verbot der Feuerbestattung aufheben, das 98 Jahre zuvor der Heilige Stuhl erlassen hatte. Allen Christen war damals unter Androhung der Exkommunizierung untersagt worden, ihre »eigene Leiche oder die eines anderen verbrennen zu lassen«.
Die Toten anders ruhen zu lassen -- dazu war Paul VI. bereit. Die Lebenden anders lieben zu lassen -, dazu ist Paul VI. nicht bereit.
Doch was er selbst ablehnt -- das Eingeständnis eines Irrtums -, das mutet er seinen Priestern zu. Und sie sollen nicht widerrufen, was irgendwann ihre Vorgänger verbreitet haben, sondern das, was sie selber noch in der vorletzten Woche gesagt und geschrieben haben.
Paul VI. forderte seine Priester auf, sie sollten nunmehr »die ersten sein, die das Beispiel eines inneren und äußeren loyalen Gehorsams gegenüber dem Lehramt der Kirche geben« und fortan »ohne Zweideutigkeit die Lehre der Kirche über die Ehe darlegen«.
Das ist die Forderung nach jenem blinden Gehorsam, wie ihn einst Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, gepredigt hat: »Ich bin bereit zu glauben, daß das Weiß, das ich sehe, schwarz ist. wenn die hierarchische Kirche es so festlegt.«
Doch dazu ist, wie es scheint, der katholische Klerus weithin nicht mehr bereit. Die Zeit ist vorüber, in der das Macht-Wort eines Papstes einer innerkirchlichen Entwicklung Halt gebieten konnte.
Der grolle Ungehorsam hat begonnen.