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»Laufen wie die Vögel fliegen«

aus DER SPIEGEL 37/1972

SPIEGEL: Herr Zátopek, als was stellen sich Ihnen, dem mehrfachen Goldmedaillen-Gewinner von 1948 und 1952, Olympische Spiele heute dar? Sie haben sich verschiedentlich enthusiastisch über die Anlagen in München und die Atmosphäre geäußert -- ist der Rahmen schöner als der Kern?

ZÁTOPEK: Wissen Sie, Avery Brundage, der bis jetzt dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) vorstand, ist gewiß ein ehrenwerter Mann, aber seine Vorstellungen von Olympia sind überholt. Amateur zu sein, war schon immer mehr eine Frage, die sich ein jeder Sportler selbst beantworten mußte. Geist und Körper im Spiel -- von diesem alten olympischen Gedanken kann man wohl heute nicht mehr sprechen. Die Olympischen Spiele werden immer mehr zu einer modernen Unterhaltungsgroßindustrie.

SPIEGEL: Ist das erst seit München so?

ZÁTOPEK: Nein, das habe ich auch 1968 in Mexico City schon erlebt, wo die Spiele beinahe zu einer großen Fiesta ausgeartet wären. In einem der Vorläufe wurde ein Athlet -- ich glaube, er kam aus Singapur -- zweimal überrundet, und da sagte jemand: Sieh mal, ein Sportler à la Coubertin, der nicht gewinnen, sondern teilnehmen will. Das war natürlich ein Witz, denn mit dieser Devise kann man nicht mehr bei Olympischen Spielen antreten.

SPIEGEL: Warum nicht? Ist Coubertins Idee tot?

ZÁTOPEK: Ich wurde es so sagen: Die Olympischen Spiele haben eine andere Bedeutung bekommen. Sie sind so etwas wie ein gesellschaftliches Welt-Ereignis. Es bilden sich neue geographische Schwerpunkte im Sport, alte verschwinden wieder. Nehmen Sie Europa: Die Wiege der modernen Sportbewegung ist halb leer.

SPIEGEL: Was meinen Sie damit?

ZÁTOPEK: Wir Europäer haben in den Laufwettbewerben kaum noch Chancen. In Mexiko hat kaum ein europäischer Läufer eine Goldmedaille gewonnen. Wir haben keine Zeit mehr, zu Fuß zu gehen.

SPIEGEL: Also werden die Länder der Dritten Welt künftig bei Olympischen Spielen eine Vorrangstellung einnehmen?

ZÁTOPEK: Diese Entwicklung hat schon begonnen. Sehen Sie, bei uns fahren die Kinder schon mit dem Bus, wenn sie einen Kilometer zurücklegen müssen. Die Läufer aus Addis Abeba dagegen, die laufen, wie die Vögel fliegen, vom ersten bis zum letzten Tag ihres Lebens. Als Abebe Bikila 1960 in Rom zum Marathon antrat, da schienen alle ein wenig peinlich berührt: Ein Mann aus einer ehemaligen Kolonie Italiens der beste Läufer der Welt -- das konnte doch nicht sein. Bikilas gibt es viele in solchen Ländern. Bei uns sind körperlich Tüchtige bereits Ausnahmeerscheinungen ...

SPIEGEL: ... die dann auch noch besonders gefördert werden müssen, damit sie olympiareif werden?

ZÁTOPEK: Bei uns -- gleich ob in West- oder Osteuropa -- macht allein die Leistung frei: Wer mehr arbeiten will, ist frei, das zu tun. Wer mehr lernen will, ist frei, das zu tun. Wer mehr Sport treiben will -- bitte, dasselbe.

SPIEGEL: Hängt der persönliche Freiheitsraum, vielleicht besser: der persönliche Spielraum, wirklich nur vom Leistungswillen des einzelnen ab?

ZÁTOPEK: Natürlich nicht. Wenn ich eine Fabrik für mich haben wollte, einen Wald -- unmöglich. Allerdings tritt bei uns auch niemand wie ein Raubtier auf wie dieser Fischer, der Schachspieler. Das wäre absolut unmöglich, da würde unsere Schachföderation eingreifen.

SPIEGEL: Fühlten Sie sich als Sportler frei?

ZÁTOPEK: Ich hatte alles, meine Aschenbahn, Rennschuhe, Trainingsanzug, Zeit genug, Essen. Was ich wollte, habe ich bekommen. Nur ein Problem existierte eben, ein Hindernis: die Leistung. Kinder werden mit Bonbons belohnt, Sportler mit Medaillen.

SPIEGEL: Als Sie Ihren ersten großen Erfolg errangen, Olympia-Sieger im 10 000-Meter-Lauf 1948, waren Sie Leutnant in der tschechoslowakischen Armee, später wurden Sie zum Oberst befördert. Was tun Sie heute?

ZÁTOPEK: Ich bin ein einfacher Arbeiter und bohre außerhalb Prags nach Mineralwasser. Aber bitte: Ich spreche sehr ungern über Politik.

SPIEGEL: Worüber haben Sie mit Willy Brandt gesprochen, als Sie mit ihm bei der Eröffnungsfeier zusammentrafen?

ZÁTOPEK: Ich sympathisiere zwar mit dem Bundeskanzler, aber das Zusammentreffen war rein zufällig und unpolitisch. Ich sah ihn unter der Tribüne am Nebentisch sitzen. Natürlich machte ich große Augen, auch er muß mich erkannt haben, er schaute mich auch an. Frech oder nicht, habe ich mir gesagt: Ich bin hingegangen und habe ihn begrüßt. Vielleicht war es nicht richtig -- es war spontan, gut gemeint. Es war einfach schön für einen normalen Menschen wie mich, eine große Sache.

SPIEGEL: Wie hat es Sie berührt, daß nach den Jahren des Kalten Krieges manchmal schon so etwas wie Freundlichkeit zwischen West und Ost aufkommt -- spürbar auch im Stadion, als die Teams der DDR und der Sowjet-Union ihren Beifall bekamen?

ZÁTOPEK: Jedes Olympia schreibt ein Kapitel in der olympischen Geschichte. Hier wurde deutlich, daß die Welt immer mehr Hand in Hand geht. Die Unterschiede sind nicht mehr so wichtig. Sport, Kultur und Wissenschaft verwischen die Grenzen. Im übrigen: Ich halte auch die Daumen für die Sportler der DDR, von der tschechoslowakischen Mannschaft ganz zu schweigen -- natürlich bin ich ein bißchen Patriot.

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