SPANDAU Laut genug
Abend für Abend war Frau Karin Heinen, Mittfünfzigerin aus Berlin, zur Haftanstalt Spandau gefahren, drei Jahre lang. Sie bestieg Bäume, um einen Blick über die Kerkermauern zu werfen. Mit einer Trillerpfeife pfiff sie den Mann an, dem all diese Hingabe galt: Baldur von Schirach, einst Reichsjugendführer, gefangen seit 1945.
Nun stand sie zum letztenmal draußen, eingekeilt zwischen 1500 Menschen, in der Hand fünf rosarote Nelken, und sie seufzte: »Er wird endlich kommen.« Doch bevor er kam, erlitt sie einen Herzanfall. Zwei Polizisten trugen sie fort, ein dritter die Blumen hinterher.
Zwanzig Minuten danach kamen er und der andere. In zwei dunkelblauen
Mercedes-Limousinen der Leihwagen -Firma Hertz, umgeben von Mitgliedern der Familien, fuhren Baldur von Schirach und Albert Speer in die Freiheit.
Es war die große Nummer »einer Mischung von Happening und Harlekinade, von Oktoberfest und Satyrspiel« ("Die Zeit"). Mit einem Publikum aus urigen Berlinern ("unter denen mußten wir Kunsthonig fressen"), bierseligem Jungvolk aus nahen Beatkellern, das in Sprechchören brüllte »Heß raus - Ulbricht 'rein«, und 290 Journalisten.
Polizei rangelte mit Randalierern, ein Zuschauer fiel bei der Suche nach besserem Ausguck in eine Kanalröhre. Zwei Männer von mitteleuropäischem Gesichtsschnitt reckten ein Schild in die Höhe: »Das persische Volk grüßt Speer und Schirach in der Freiheit.«
Des Spektakels letzte Szenen spielten auf verschiedenen Bühnen. »Ganz vertraulich und exklusiv« hatte die Direktion des feinbürgerlichen Grunewald-Hotels Gehrhus fast allen Berliner Journalisten signalisiert, Albert Speer sei nach der Ankunft zu einer Presseerklärung bereit.
In dem gleichen Habit, in dem er am 18. Juli 1947 in Spandau eingeliefert worden war - graue Hose, dunkelblau gefärbte US-Militärjacke, blaßblaues Hemd und rote Krawatte - trat des Führers einstiger Rüstungsminister vor 13 Mikrophone und fragte: »Spreche ich laut genug?«
Dann lobte er die Behandlung in der Haft ("Stalins Zeiten sind vorbei") und war dankbar: »Ich bin sehr glücklich, draußen zu sein.« Fünf Minuten später zog sich der blasse Entlassene in das Fürstenappartement zurück, das Ehefrau Margarethe zum Tagespreis von 160 Mark auf ihren Mädchennamen Weber reserviert hatte. Um 2.05 Uhr löschten die Speers das Licht.
Baldur von Schirachs erste Schlafstatt in Freiheit war gratis. Das Zimmer 915 im Hilton-Hotel hatte der »Stern« bezahlt, 60 Mark für die Nacht. Auf Schirachs Bett lagen drei Oberhemden, in Cellophan verpackt, Pyjama und Hausschuhe. Die Nebenzimmer besetzten die drei Söhne des Freigelassenen, die »Stern«-Mannschaft unter Führung des stellvertretenden Chefredakteurs Schuller und - für alle Fälle - ein Herzspezialist.
Um 2.20 Uhr stellte sich der fast blinde Ex-Gauleiter von Wien den Journalisten, in grauer Hose, braunem Sportsakko und Rollkragenpullover. Er entschuldigte sich für den verspäteten Auftritt, dann dankte er dem britischen Arzt, der ihm in der Haft die Augen operiert hatte, und seinen Bewachern Harry, Tony und Freddy: »Ich werde sie bald wiedersehen, wenn ich wieder in Bayern wohne.«
Am Tage danach tauchten die beiden Spandauer, deren Aufenthaltsort zwanzig Jahre lang alle Welt kannte, vorerst unter. Freilich: Von Schirachs Tauchmanöver verzögerte sich. Als ein Mitarbeiter des »Stern« beim Berliner Senat für die viermotorige »Heron«, die das Blatt für seinen Autor beim »Morton Air Service« gechartert hatte, um Polizeischutz bat, bekam er vom amtierenden Pressesprecher Peter Herz zur Antwort: »Von mir aus können sie Molotow-Cocktails auf das Ding schmeißen.«
Um zwölf Uhr, nachdem Baldur von Schirach ausgeschlafen hatte, startete die Maschine. Der Pilot steuerte Stuttgart an. Dann verschwand Schirach - in München, Werneckstraße 18.
Albert Speer flog schon um 7.10 Uhr mit der Panam-Linienmaschine (Flugnummer 631) nach Hannover. Mit einem grauen Volkswagen, der bis an die Gangway vorzog, fuhr er fort. Journalisten, die Hitlers Waffenschmied verfolgen wollten, mutmaßten: in die Lüneburger Heide.
Diese Spur ist falsch. In Wahrheit suchte Speer Zuflucht im ostmärkischen Kärnten, daß die Braunen einst zum Ferienparadies des Dritten Reiches ausbauen wollten. In der feudalen Villa des Bergrats h. c. Dr. mont. Dr. techn. Hans Malzacher, in Villach. Mariannenstraße 2-3 a, verbrachte Speer nach 20jährigem Zellendasein die ersten Tage in Freiheit. Malzacher, einst Direktor der Oberschlesischen Bergwerk- und Hütten-AG, war im Kriege Speers Beauftragter für Südosteuropa; im Nürnberger Prozeß sagte er als Zeuge Nr. 9 für den Rüstungsminister aus.
Malzachers Freunde wußten schon seit Wochen von der Ankunft des prominenten Gastes. Sie hüteten das Geheimnis so gut, daß nicht einmal die österreichische Staatspolizei Wind bekam.
Schon bald unternahm Speer in Malzachers weißem Fiat 2100 und einem VW 1500, der von dem in Malzachers Diensten stehenden Zimmermann Wilhelm Printschler gesteuert wurde, Ausflüge zwischen Dobratsch und Turracher Höhe. Mit Ehefrau Margarethe spazierte er bei anbrechender Dunkelheit durch die Draustadt.
Doch diese Fluchtstätte war nur ein Notquartier. Ein als unauffindbar geltendes Alpenrefugium war nicht rechtzeitig fertig geworden: ein von Malzacher zu einem weißen Prachtbau ingemodeltes altes Bauernhaus, 50 Kilometer nordwestlich Villach in St. Oswald.
An dem Versteck, 100 Meter vor der Jausen-Station »Schneeweiß« in 1360 Meter Höhe gelegen, arbeitet eine Baukolonne in Sonderschichten. Auf der angrenzenden Weide grasen drei dalmatinische Esel.
Entlassener von Schirach, Söhne
Aus der Zelle ins Hilton
Entlassener Speer
Mit Hertz in die Freiheit