Leben in der Krise
Moderne Schiffe sind mit geheimnisvollen Apparaturen ausgerüstet, sie verhindern übermäßiges Schwanken selbst im Orkan. Über ähnliche Stabilisatoren muß Rudolf Scharping verfügen.
Die Zuhörer in der Leipziger Friedrich-Ebert-Stiftung hatten am Mittwoch voriger Woche einen wankenden SPD-Chef am Rednerpult erwartet.
Wie kann einer in der sozialdemokratischen Diaspora Sachsens, vor feindlicher Klientel aus Bankern und Unternehmern, schon souverän über Wirtschaftspolitik referieren? Einer, der 48 Stunden zuvor auf der Klippe stand und gestürzt wäre, hätte ihn nicht Übervater Johannes Rau gehalten?
Doch Scharping steht und steht und steht.
Mit abgeschwollenen Tränensäcken, das angeknipste Lächeln eine Spur sicherer als sonst, skizziert der Mann mit der Graubrot-Aura seine Gedanken unbeschwert, als stünde er einer harmonischen Partei vor, die einen überzeugenden Gegenentwurf zur Kohlschen Republik anzubieten weiß.
Plötzlich scheint Scharping von fast zwanghaft heiterer Gelassenheit erfüllt. Fröhlich raunzt er die Banker an, endlich Risikokapital-Fonds zur Stützung junger Unternehmen aufzulegen.
Er rät den verblüfften Professoren, mehr Zeit für die Lehre als auf Nebenjobs zu verwenden, und hält den Unternehmern vor, Deutschland habe »kein Kosten-, sondern ein Managementproblem«.
Der angeschlagene Kanzlerkandidat versprüht nichts Visionäres wie noch letzten Herbst bei seinem Auftritt in Tutzing. Doch er tritt souveräner auf als Anfang des Monats bei seiner dürftigen Rede in der Haushaltsdebatte im Bundestag, als Grünen-Chef Joschka Fischer »den Anfang vom Ende Rudolf Scharpings« weissagte.
In Leipzig versteigt sich am Ende gar der örtliche CDU-Spion zum Großlob: »Scharping sagt ja fast das gleiche wie Ministerpräsident Biedenkopf.« Und Professor Cornelius Weiss, 62, Rektor der Universität, staunt über »Scharpings Nehmerqualitäten«.
Das Leben in der Krise scheint Scharping auf wundersame Weise gegen alle Selbstzweifel zu immunisieren. Obschon frische Umfragen ihn mit niederschmetternden 16 Prozent als unpopulärsten der möglichen Kanzlerkandidaten seiner Partei ausweisen, redet er sich beharrlich ein: »Die Genesung ist im Gang.«
Dank seiner Fähigkeit zur Autosuggestion entkoppelt Scharping die Dauerdepression und die Gründe dafür. Sein Debakel, sagt er, bedeute eigentlich nicht mehr als »einen von vielen Härtetests, die man bestehen muß«. Schicksal eben. Nicht zu beeinflussen. Nur zu bestehen.
Manchmal wundert sich Scharping schon über sich selbst, und er sinniert, als stehe er neben sich: »Es scheint schwer verständlich, daß meine innere Sicherheit nicht leidet.«
Wie einst der scheinbar chancenlose Helmut Kohl harrt er unbeweglich aus und ignoriert die Realität solange, bis sie seinen Vorstellungen entspricht. Hat nicht der Pfälzer Bundeskanzler bewiesen, daß die Wähler Ausdauer mehr achten als die Showmaster-Qualitäten eines Politikers, wenn auch erst nach langen Jahren des Spotts?
»Verläßlichkeit«, hofft der Kandidat für den Abschuß, »hat höheren Stellenwert, als viele vermuten.« Und irgendwann, da ist er sicher, kommt der Moment.
Dann werden die Wähler, die den starren Scharping verschmähen, den unbeugsamen Scharping zu schätzen wissen.
Solange muß er sich treu bleiben. »Der Golfstrom«, philosophiert er auf dem Rückflug von Leipzig in das nervige Bonn, »ändert seine Richtung auch nicht, nur weil das Meer aufgepeitscht ist.«