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ENGLAND Leben wie Tarzen

In einem Aufsatz beurteilte ein 13jähriger Londoner Schüler seine Zukunftsaussichten: »An die Arbeit als Klosettreiniger.« Der Schuldirektor verordnete die Prügelstrafe -- und Englands Presse fühlte sich an die Welt von Charles Dickens erinnert.
aus DER SPIEGEL 21/1971

Mit einem schlichten »No, Sir« beschied Martin Woodhams, 13, seinen Schuldirektor Roy Smith, 46, als dieser ihm am 1. April mit einem Rohrstock in die Handflächen zu prügeln wünschte. Die Folge: Martin wurde suspendiert.

inzwischen ist der Ex-Zögling der Shirley Secondary Modern School im Londoner Vorort Croydon zu einer Art nationalem Heros avanciert. eröffnete das Schicksal dem langlockigen Teen ungeahnte Zukunftsmöglichkeiten.

Grund für die geplante Züchtigung mit dem Rohrstock -- den die Schüler vieler britischer Schulen im Gegensatz zu renitenten Zuchthausinsassen immer noch akzeptieren müssen -- war ein Strafaufsatz zum Thema »Familienleben«. Strafarbeit. weil die Klasse 2 B unter »voller Mitwirkung« (Direktor Smith) des Knaben Martin eine Zeichenlehrerin zu Tränen getriezt hatte.

Acht der »Familienleben«-Essays muteten den gestrengen Headmaster Smith ("Ich bin kein Tyrann") als »obszön« frech und albern« an. Die Verfasser -- fünf Mädchen und drei Jungen -- zitierte er zur Prügelstrafe. der allein Martin sich versagte. Umgehend wurde er in unfreiwillige Ferien entlassen.

Direktor Smiths Erziehungsmethoden gerieten in die Schlagzeilen. Tagelang beschäftigten sich Londons Zeitungskommentatoren mit dem »Fall Woodhams«. Die Prügelstrafe weckte Reminiszenzen an Charles Dickens. »Sind wir in der Welt des Wackford Squeers, des grausamen Besitzers von Dotheboys Hall in »Nicholas Nickleby?«, fragte etwa die »New York Times«.

Und was der Schulmann an Martins Aufsatz »frech« fand, verlockte andere zum Schwärmen. »Ein wundervoller Text voller Tränen und Hoffnung«, befand Schlagerstar Tommy Steele. »Wenn ihr Jungen wie Martin keine Geschichten schreiben laßt« so rügte der Pop-Sänger die Pädagogen. »wo wollt ihr dann eure Autoren von morgen hernehmen?«

Martin Woodhams, Sohn eines Lastwagenfahrers und einer Krankenhaus-Putzfrau. über »Familienleben":

Mein Vater hat gerade eine Veranda vor unser Haus gebaut, weil im Winter immer die kalte Luft reinkommt, das tut sie jetzt nicht mehr. Unser Haus hätte ich gern groß und modern, vielleicht auf dem Land. Aber wie man sieht, sind meine Hoffnungen gering ... Wenn ich 16 bin, werde ich Bankangestellter und spiele Fußball, gehe fischen und schaffe mir eine Freundin an. Aber auch hier sieht man, daß es unmöglich ist.

Wenn ich das Geld habe, ziehe ich auf den Kontinent und lebe im Urwald wie Tarzan. Ich bringe Tiere zum Essen mit und töte Löwen und kämpfe mit Riesenschlangen. Ich kaufe Segelschiffe und segle die Dschungelflüsse hinauf, und bald käme ich wieder, um in England mit all meinen Trophäen zu leben. Aber auch das ist ein Traum, eine Traumwelt, nur eine Traumwelt. Und wenn ich ausgeträumt habe, gehe ich wieder an die Arbeit als städtischer Klosettreiniger. Veröffentlicht wurde dieses Stück zeitgenössischer Schülerprosa« als Anfang des Monats ein privater Schulausschuß mit fünf zu drei Stimmen den Rausschmiß des Shirley-Zöglings billigte, falls er nicht nachträglich seine Strafe -- einen Rohrstockschlag in jede Hand akzeptiere. Martin zog es vor, zu Hause zu bleiben.

Vorige Woche beschloß ein offizielles Schulkomitee, Martin könne wieder seine alte Schulbank drücken; durch die lange Freizeit, vor allem den »Ausfall von Schulfußball«, sei er ausreichend gestraft.

Doch Martin ist mittlerweile seinen Träumen ein gutes Stück nähergerückt. Die Leiterin einer Londoner Spezialschule, die neben normalem Lehrstoff auch Schauspielunterricht vermittelt (Schulgeld: rund 1400 Mark pro Jahr), war so entzückt von dem »unverschämt kommerziellen Gesicht« des Vorstadtknaben, daß sie ihm ein Stipendium spendierte.

Der vorige Montag war Martins erster Schultag im neuen Institut. Während sich der britische Teen-Essayist in die Kunst des Steptanzens einweisen ließ, erreichte ihn ein erstes Schauspielangebot der EMI-MGM für den ["ilm »Up the Chastity Belt« (zu deutsch: »Hoch mit dem Keuschheitsgürtel").

Für 175 Mark Gage wird Martin einen Flegel mimen.

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