Leben wir in einer anderen Republik?
Wer hat wen oder was wann gewendet? Waren es die Bonner Freidemokraten, die sich im Herbst 82 einer Koalition mit den Christdemokraten zuwandten? War es die CDU, deren Vorsitzender Helmut Kohl fast drei Jahre nach seiner Wahl zum Kanzler immer noch die Notwendigkeit einer »geistigmoralischen Wende« - zu einem offenbar bevorstehenden Zeitpunkt - betont?
Oder - hat die Wende schon stattgefunden, der Schwenk zurück in die heile Welt der fünfziger Jahre, des bürgerlichen Biedermeier? Schlug sie fehl, wie der christkonservative »Rheinische Merkur« im Seglerjargon vermutet, zur riskanten Halse? War, so fragt die »Zeit«, »die Inszenierung ein Flop«, das Wort Wende nur eine Wendung?
Die Wende sei eben, sprach der Kanzler nach der herben Niederlage seiner Partei in Nordrhein-Westfalen, »kein Spaziergang«. Also ein langer Marsch? Sie sei nur eine bösartige Erfindung parteipolitischer Gegner, vermutet der CDU-Abgeordnete Friedrich Kronenberg: »Der Begriff ist gar nicht unser Sprachgebrauch.« Es habe sie deshalb gar nicht gegeben, behauptet stolz der Liberale Gerhart Baum, weil die FDP sich allen Wende-Versuchen hartnäckig widersetzt habe.
Tatsächlich sind die Kernstücke der wichtigsten sozialliberalen Reformgesetze weiter in Kraft, obwohl es an Vorschlägen zur Änderung des Demonstrationsstrafrechts, des Scheidungsrechts, der Datenschutzgesetze oder der Abtreibungsregelung im Strafgesetzbuch-Paragraphen 218 nicht mangelt: Hier traut sich die CSU, auch aus Sorge um die Wählerinnen, nicht, beim Verfassungsgericht zu klagen, die Bonner Unionsfraktion mag nicht, die Bundesregierung will nicht; und ob sich der von Helmut Kohl beauftragte Mainzer Ministerpräsident Bernhard Vogel zur Klage entschließt, ist noch nicht entschieden.
»In der Rechtspolitik«, warnt Professor Jürgen Seifert, Vorsitzender der Humanistischen Union, »sind die Gegenkräfte mobilisiert.« Aber noch sind sie in der gesellschaftspolitischen Balance; die Kräfte nicht stark genug, stattgehabte Entwicklungen zurückzudrehen. Das gilt in der Ostpolitik, wo die Verträge auch von gemäßigten Rechten respektiert werden, das gilt beim Paragraphen 218 und der Abtreibung auf Krankenschein, deren Verbot die CSU gegen die CDU - vornehmlich gegen deren weibliche Abgeordnete - bisher nicht durchzusetzen vermochte.
Doch in manchen Bereichen von Politik und Gesellschaft ist der Kurswechsel längst im Gange. Für den Sozialdemokraten Freimut Duve ist er sogar schon abgeschlossen: »Wir leben seit zwei Jahren in einer anderen Republik, ohne daß es uns ständig bewußt ist.«
Tatsächlich hat die gesellschaftliche Wende wohl schon vor der politischen Wende 82 begonnen. Tatsächlich wuchs schon unter dem SPD-Kanzler Helmut Schmidt die Erkenntnis, daß der Staat nicht alles Wünschbare finanzieren und
regeln könne. Tatsächlich hatten Sozialliberale schon in den letzten Jahren ihrer Koalition begonnen, öffentliche Wohlfahrt einzugrenzen und die Neuverschuldung zu kappen.
In den letzten sozialliberalen Jahren bereits registrierten Soziologen den »Rückzug ins Private«, die Wiederentdeckung eher konservativer Wertvorstellungen, einen geringeren Druck auf öffentliche Veränderung. Manche Zeithistoriker meinen, die eigentliche Wende - von Reformillusionen hin zum Machbaren - habe mit dem Wechsel von SPD-Kanzler Willy Brandt zu SPD-Kanzler Helmut Schmidt 1974 begonnen.
Wahr ist: Die politische Wetterwende in der Republik dokumentiert sich nicht darin, daß eine neu zusammengesetzte Mehrheit des Parlaments nach einem Wahltag die gesetzlichen Grundlagen von Staat und Gesellschaft umkrempelt.
Sie verstärkt die Trends. Sie schreibt fort, was der Konsens der Wählermehrheit schon gebilligt hat. Sie setzt Akzente anders.
Etwa in der Bildungsförderung: Schon unter Kanzler Schmidt ging die Regierung vom sozialliberalen Grundsatz ab, Schülern und Studenten mit staatlichen Hilfen die gleichen Ausbildungs- und Berufschancen anzubieten. Jetzt gilt offen das Motto Lorbeer und Feigenblatt: Gefördert werden neuerdings vor allem Hochbegabte oder aber (einige wenige) besonders Benachteiligte.
In der Entwicklungshilfe: Stolz war der sozialdemokratische Minister Erhard Eppler (bis 1974) darauf, den benachteiligten Staaten in der Dritten Welt Hilfe ohne Bedingungen zu gewähren. Jetzt gilt, daß die Hilfsgelder - so der zuständige CDU-Staatssekretär Volkmar Köhler - »beschäftigungswirksam für unsere Wirtschaft« zu sein haben.
In Sachen Verteidigungsbereitschaft: Über öffentliche Bundeswehr-Gelöbnisse - wie erstmals 1980, als es in Bremen unter Hans Apel noch heftigen Streit gab - regt sich niemand mehr auf; sie sind an der Tagesordnung. Die geheime Rüstungsplanung bespricht das Verteidigungsministerium mit der einschlägigen Industrie, nicht aber mit den kompetenten Parlamentariern; die Papiere sind ja geheim.
In Sachen Vergangenheitsbewältigung: Im Sommer 85 kann eine Straße in Bergen-Belsen, der Stadt, in deren Konzentrationslager 40 Jahre zuvor das Mädchen Anne Frank starb, nicht nach dem - damals 15jährigen - jüdischen Kind benannt werden; der Bürger-Widerstand sei zu groß. Des 40. Jahrestages des Kriegsendes will der amtierende deutsche Kanzler partout auf einem Soldatenfriedhof gedenken; in Israel, ausgerechnet, hatte derselbe Helmut Kohl ein Jahr zuvor von der »Gnade der späten Geburt« gefaselt, die ihm half, den Untergang des Dritten Reiches als Fünfzehnjähriger zu erleben.
»Wer feine Ohren hat, kann die neue Windrichtung vernehmen«, schreibt der konservative Journalist Ludolf Herrmann, der gut zu hören meint, wie der Wind weht: etwa in der Generation der jungen Wähler, die sich in Berlin von _(Schwarzrotgoldene Fahne im Arbeitszimmer ) _(Helmut Kohls im Bonner Kanzleramt; ) _(dahinter Kohls Aquarium. )
den Grünen ab- und der CDU zuwandten. Oder bei den Abiturienten, die den Wehrdienst wieder »mehrheitlich zu bejahen beginnen« (Herrmann).
Andere, mit anderem Sensorium, spüren die neue Windrichtung in anderem Umfeld - etwa die streitbare Freidemokratin Hildegard Hamm-Brücher. Bei der Debatte um das Gesetz zur »Auschwitz-Lüge« - es bedroht mit Strafe den, der Judenmord oder Verbrechen an Vertriebenen bestreitet - machte die Liberale in einer persönlichen Erklärung ihre Bedenken gegen die »schreckliche Aufrechnerei« in diesem Kompromiß-Gesetz geltend. Der CDU-Abgeordnete Rudolf Seiters versuchte sie mit Zwischenrufen zu bremsen, und Beifall hörte die Rednerin nur von Grünen und Sozialdemokraten. Dabei hatten sich manche Parteifreunde in der FDP-Fraktionssitzung noch heftig im Sinne von Frau Hamm-Brücher dagegen ausgesprochen, den Holocaust mit dem Los von Vertriebenen gleichzusetzen. »So von den eigenen Leuten geschnitten zu werden«, empfand die Liberale als »Zeichen, daß klimatisch die Wende längst vollzogen ist«.
Nicht der Streit um ein anderes, verschärftes Strafrecht gegenüber vermummten Demonstranten oder um die Abtreibung auf Krankenschein prägen das Aussehen der Wende-Republik. Aber es fügen sich kleine Teile zum Bild. Da wird Hildegard Hamm-Brücher, weil unbequem, ausgegrenzt. Das Bundespresseamt läßt dem Kanzler mißliebige Journalisten von Fernsehdiskussionen mit Helmut Kohl im öffentlichen-rechtlichen Fernsehen ausschließen.
Eine Zensur findet, bewahre, nach wie vor nicht statt. Aber der für kulturelle Filmförderung zuständige Innenminister Friedrich Zimmermann entscheidet im Alleingang, daß der ihm mißliebige Film »Das Gespenst« von Herbert Achternbusch die versprochene Beihilfe nicht vollständig erhält. Der Leiter der bayrischen Staatskanzlei, Edmund Stoiber, regt an, daß Rundfunkräte - also meist Parteipolitiker - künftig Fensehbeiträge auf Wunsch schon vor der Ausstrahlung sehen könnten; wenigstens eine Vorzensur soll wohl doch stattfinden.
Eine wirkliche Wende in der Selbstdarstellung der Republik zeigt sich jetzt allabendlich nach dem Abendprogramm im Fernsehen. Das ZDF holte einen zehn Jahre alten Plan aus der Schublade, beauftragte eine Regieassistentin der Abteilung »Gesellschaft- und Bildungspolitik«, die deutsche Fahne zu bügeln, filmte dann das frisch geplättete Tuch und verbreitet nun dazu bei Sendeschluß die Nationalhymne; dritte Strophe. Die ARD zog nach. Grund, so ein Fernseh-Sprecher: »Heute ist es schwer geworden, das Nein zu solchen Symbolhandlungen zu begründen.«
Früher hätte es gereicht, nein zu sagen.
Heute ist die deutsche Fußball-Nationalelf gehalten, im Stadion bei den Klängen der Hymne mitzusingen, als ginge es ums Vaterland und nicht um Siegprämien. Am 8. Mai intonierte die Festgemeinde im Bundestag lauthals die dritte Strophe des Deutschland-Liedes; früher waren, allenfalls, dezente Streicher konzertant auf dem Podium tätig. Neben Kohls Schreibtisch im Arbeitszimmer hängt schlaff ein neu angeschafftes schwarzrotgoldenes Tuch wie in einem Schirmständer. Die Bundeszentrale für politische Bildung wirbt neuerdings mit schwarzrotgold umrandeten Karten bei Bonn-Besuchern und in Schulen für den Text des Liedes; bisher allerdings nur mit dem dritten Vers.
Für ein Cover seiner Schallplatte, auf der er das Deutschland-Lied singt, durfte Hermann Prey unmittelbar vor dem Sitz des höchsten Staatsorgans, dem Bundespräsidialamt, posieren. Der CDU-Abgeordnete Wilfried Böhm legte gemeinsam mit der »Konservativen Aktion« eine Single mit dem Deutschland-Lied in einer Million Exemplaren auf - mit allen drei Strophen. Deutschland, Deutschland, über alles.
Über alles in der Welt: Um den Journalisten des Weltwirtschaftsgipfels und US-Soldaten in der Bundesrepublik das rechte Bild von der Republik zu vermitteln, publizierte der Burda-Verlag für das Presseamt eine »Bunte Spezial« über »Vierzig Jahre in Bildern 1945-1985«, eine ziemlich schlicht geratene Werbebroschüre für den Enkel Adenauers, die von historischen Fehlern und Fehleinschätzungen strotzt.
Fast eine halbe Million Mark hat das Bundespresseamt ausgegeben für diese bisher einmalige Art regierungsamtlicher Selbstdarstellung: Erstmals hat sich eine regierungs-offizielle Behörde - das Presseamt ist dem Kanzleramt angegliedert - eine Illustrierte gekauft; erstmals verheimlicht
eine Publikumszeitschrift im Impressum, daß sie im Auftrag eines Sponsors als durchgehend bezahlte Anzeige erscheint. Erstmals redigierte und konzipierte ein Regierungssprecher - damals war es noch Peter Boenisch - eine privatwirtschaftlich verlegte Zeitschrift und ließ dabei alles der Regierung Unliebsame weg: Er entfernte Bilder und Texte über Kurt Schumacher (SPD) und Willy Brandts Kniefall im Warschauer Getto; es gibt keine Friedensbewegung, keine Grünen im Parlament, aber Helmut Kohl ausgiebig und in voller Größe.
Das Bonner Innenministerium lehnte es aber ab, für 250000 Mark eine dreiteilige TV-Dokumentation über den Düsseldorfer KZ-Majdanek-Prozeß für die politische Bildungsarbeit an Schulen zu kaufen. Nach langem Tauziehen erklärte sich immerhin eine Institution der Bundesländer bereit, die von Eberhard Fechner gedrehte Serie zu übernehmen.
»Bonn schwimmt auf der konservativen Woge«, meint Ex-Innenminister Gerhart Baum, »wie der Korken auf den Wellen.« Und um die Wellen unter Kontrolle zu nehmen, basteln die Regierenden an neuen Vorschriften und Verordnungen, suchen langfristige Veränderungen zu erreichen, indem sie Vertrauenspositionen mit Leuten ihres Vertrauens besetzen. Damit wird der Rückwärtstrend verstärkt.
Die Bonner Regenten stellen sich nicht nur, wie der Kanzler-Berater und Professor Michael Stürmer meint, dem »Zeitgeist« - was immer das ist -, sondern sie halten oft genug bewußt Kurs zurück in die fünfziger Jahre.
Die Designer der Mode gingen voran zu den Ausgrabungsarbeiten: Dreiviertelhosen, Petticoats und Hawaiihemden wurden exhumiert, Nierentisch und Tütenlampen gesellschaftlich wieder anerkannt. Der Bundeskanzler tappte hinterher mit seinen mahnenden Erinnerungen, es hülfe jetzt wieder wie vor einer Generation, die Ärmel aufzukrempeln und am neuen deutschen Wirtschaftswunder zu weben.
Und es klingt beinahe gar nicht mehr zynisch, wenn die Pop-Gruppe Geier Sturzflug singt: »Es wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt.«
Das heimelige Erinnern an die fünfziger Jahre, schreibt der Germanist Dieter Bänsch, »appelliert an Vorstellungen von der Einfachheit der Anfänge, der Selbstverständlichkeit von Wachstum. Das Wort verströmt Biedersinn. Es verspricht Zukunft in unserer Vergangenheit.«
Die beherrschenden Themen von damals, Antikommunismus, Rüstung, atomare Abschreckung, Westintegration und Fortschrittsglaube bestimmen auch heute die politische Auseinandersetzung. Damals mahnte ein Wahlplakat der CDU, der blutrünstige Bolschewik drohe das ganze Deutschland zu verschlingen - es sei denn, man wähle Konrad Adenauer. Heute handelt »unmoralisch«, geht es nach Heiner Geißler, wer die amerikanische Weltraumrüstung ablehnt. Heute ist laut FDP-Chef Martin Bangemann »reaktionär«, wer dessen kindlichen Wachstumsglauben nicht teilen mag. Morgen gibt es, laut Franz Josef Strauß, eine »Katastrophe«, sollte die SPD die Bundestagswahl gewinnen.
Heute beklagt sich der Staatssekretär im Innenministerium, das für Medien wie für Verfassungsfragen zuständig ist, über die Linkslastigkeit von TV-Journalisten, über eine »Medien-Steinzeit« in Deutschland, die sich »zu Lasten der westlichen Demokratien, zu Lasten der Leistungen dieses Staates, zu Lasten Amerikas auswirkt - negativ, ablehnend, langweilig«. Statt dessen möchte Staatssekretär Carl-Dieter Spranger mehr PK-Berichte »über die wirtschaftlichen Erfolge, wie viele Abermillionen Arbeit haben, über die positiven Lebensumstände, über gesunde Familien, vernünftige Kinder, fleißige Studenten«. Wer nicht mit Spranger zurück will in die heile Welt, wird ausgegrenzt: namentlich die Journalisten Claus Richter, Lutz Lehmann, Fritz Pleitgen, Klaus Bednarz und Franz Alt (CDU).
Antikommunismus als Zweck von Politik und Gesellschaft - dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Alfred Dregger, ist die Propaganda der fünfziger Jahre nicht dumm genug, um damit Taten und Tote des 2. Weltkrieges zu rechtfertigen. Zweimal durchfurchte der Erzkonservative auf einer Privatreise den Warschauer Nordfriedhof, um das überwucherte Grab eines unbekannten deutschen Landsers aufzustöbern und seine Ruhe mit einem mediengerechten Blumengebinde zu stören. Kameraleute der ARD, die Dreggers Friedhofsschnüffelei filmen wollten, versuchte der CDU/ _(Vor dem Spiel Deutschland - Schweden ) _((2:0) im Oktober 1984; Falkenmeyer, ) _(Völler, Briegel, Schumacher, Rummenigge. )
CSU-Fraktionsvorsitzende zu verscheuchen.
Dregger schrieb an 53 amerikanische Senatoren, die ihren Präsidenten Ronald Reagan von der Visite auf dem Soldatenfriedhof Bitburg hatten abhalten wollen, er empfinde die Kritik am Besuch in Bitburg als »Beleidigung«. Schließlich habe er die Stadt Marklissa in Schlesien »gegen die Angriffe der Roten Armee« verteidigt und sein Bruder sei »an der Ostfront« gefallen.
»Dieser Brief«, meint Albrecht Müller, einst Planungschef im Kanzleramt, »ist der Markstein einer gewaltigen Veränderung.«
Der Berliner Ex-Bürgermeister Heinrich Albertz sieht »die Gefährlichkeit solcher Feindbilder in der bewußten oder unbewußten Ignoranz geschichtlicher Fakten« und in der »an die Gegenreformation erinnernde Ketzerverfolgung, die bis zur Vernichtung der Existenz geht, wenn der Betroffene nicht abschwört«.
So unverblümt wie derzeit haben sich die Rechtsaußen lange nicht zu Wort gemeldet und Geschichtsklitterung betrieben. Vor allem haben sie jetzt Gelegenheit, ihr schlichtes antikommunistisches Feindbild offiziell in Regierungspapieren festzuschreiben. Der SS-Freundschaftsverein Hiag beispielsweise wurde aus dem Verfassungsschutzbericht gestrichen, dafür der Jugendaustausch zwischen der DDR und Bundesrepublik als gefährdende Tendenz aufgeführt; Spranger wollte den deutsch-deutschen Jugendaustausch eigentlich sogar unter »subversiven Aktivitäten« registrieren.
Im zweiten Verteidigungs-Weißbuch der Regierung Kohl wird ein Ton angeschlagen, der zu Zeiten des Kalten Krieges kälter nicht war. Die Sowjet-Union, heißt es, verfolge »bereits im Frieden« das Ziel »... Westeuropa so weit wie möglich sowjetischem Einfluß zu öffnen, amerikanischem Schutz zu entziehen und politischem Druck auszusetzen«.
Reverenz erweisen Bonner Referenten wie in alten Zeiten den Vertriebenen. Dreimal schon trat Kanzler Kohl vor ihnen auf. »Kein Wunder«, sagt die Freidemokratin Hildegard Hamm-Brücher, »daß die jetzt wieder Morgenluft wittern.« Und das nicht nur im Mitteilungsblatt »Der Schlesier«, das sich zu dem Kommentar verstieg, der Kanzler verletze seinen Amtseid, wenn er die polnische West-Grenze anerkenne.
In der »Oberlausitzer Rundschau«, die jetzt im Bundesgebiet erscheint, wird die Rückgabe Schlesiens an die Deutschen verlangt: »Wenn jemand die Mona Lisa aus dem Louvre stiehlt«, heißt es in einem Leitartikel, »dann ist das nicht ein Akt der Rache zu verlangen, daß dieses Bild zurückerstattet wird ... Unsere Heimat aber ist von viel größerem Wert als alle Kunstschätze.«
Außer den Schlesiern fühlen sich auch die Deutschen Burschenschaftler aufgerufen, für die Wiedervereinigung zu streiten. Die »Brünner Burschenschaft zu Aachen« forderte, der »wiederholt in der Öffentlichkeit aufgestellten These von der Alleinschuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg entgegenzutreten«.
Schuld hatte offensichtlich ein anderer: In der Bayerischen Landesvertretung in Bonn durfte der Grazer Philosophieprofessor Ernst Topitsch sein Buch »Stalins Krieg« präsentieren. CSU-Staatsminister Peter M. Schmidhuber hielt die Einführungsrede zu dem Geschichtenbuch, das statt Hitler Stalin zur Zentralfigur im Zweiten Weltkrieg stilisiert und den Nazi-Führer zum Werkzeug der Kommunisten abwertet.
Zeichen, mehr nicht; noch nicht.
Bei den letzten Europa-Wahlen 84 erholte sich die totgesagte NPD in ihren alten Hochburgen in Unterfranken - nicht zur politischen Kraft, aber zur statistischen. Im schwäbischen Kaufbeuren erhielt die Rechtspartei 1,9 Prozent, im Landkreis Kitzingen immerhin 2,3 Prozent der Stimmen.
»In diesen unsicheren Zeiten«, weiß der Liberale Burkhard Hirsch, »wächst der Charme der einfachen Lösungen.«
Das stimmt mehr noch für die Gesellschafts- und Sozialpolitik. Hier gilt als regierungsamtliches Credo ziemlich unverhüllt wieder der Slogan im Stil der fünfziger Jahre: »Leistung muß sich wieder lohnen«. Das politische Ziel, mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen, ist für Kohl + Co. passe. Heute finden sich Gruppen am Rande der Leistungsgesellschaft wieder, die vorher noch dazu gehörten, weil sich der Staat für sie verantwortlich fühlte: junge Arbeitslose, Alleinerziehende, Alte, soziale Minderheiten.
»Neu ist die Mitleidlosigkeit«, diagnostiziert der Grüne Joschka Fischer, »mit der über die Neue Armut hinweggegangen wird.«
Die versteckte Not in einer Wohlstandsgesellschaft, vom damaligen rheinland-pfälzischen Sozialminister Heiner Geißler Mitte der siebziger Jahre entdeckt und damals der sozialliberalen Regierung angekreidet, wird von der Union heute wegdiskutiert, obwohl sich manche Probleme für die Berufenen verschärft haben. Den Rentnern, behauptet _(Bei Adenauers 91. Geburtstag 1967. )
Arbeitsminister Norbert Blüm unverdrossen, gehe es »gut«, von den Arbeitslosen müsse »niemand hungern«, und unter den Schwerbehinderten gebe es viele Simulanten, »die eigentlich nicht behindert sind«. Tatsächlich wurden den Rentnern seit Oktober 82 nur noch reale Einkommenszuwächse von 0,4 Prozent beschert; immer mehr Arbeitslose fielen, weil die Anspruchsbedingungen verschlechtert wurden, aus der Nürnberger Unterstützung und bedürfen jetzt der Sozialhilfe. Die Hilfe für Schwerbehinderte wurde so stark gebremst, daß sich sogar CSU-Chef Strauß für eine Revision - erfolgreich - einsetzte.
Fährt der Zug erst einmal rückwärts, gewöhnen sich die Mitreisenden daran. Die CDU-Wohlstandsrepublik fand noch merkwürdig, daß Kanzler Ludwig Erhard ungeliebte Intellektuelle als »Pinscher« beschimpfte. Heute behauptet der demagogische Intellektuelle Geißler, Pazifisten hätten »Auschwitz erst möglich gemacht«. Heute regt sich niemand auf, wenn Carl-Dieter Spranger sagt, Hausbesetzungen und gewalttätige Demonstrationen seien »Lern- und Trainingsplätze für terroristische Gewaltverbrecher«. Wozu wäre Aufregung nütze?
Die Republik gewöhnt sich an ehedem Undenkbares - daß etwa der Rechtsexperte der Regierungsfraktion, Fritz Wittmann (CSU), massive Urteilsschelte am Bundesverfassungsgericht übt, nachdem die Karlsruher Richter das Demonstrationsrecht versammlungsfreundlich - und damit liberal - auslegten. Im Pressedienst seiner Partei fragte Wittmann, »ob die in einigen Teilen realitätsfremde Entscheidung nicht von Randgruppen als Freibrief und Ermunterung zu Krawallen« aufgefaßt werden könne.
Im Bundesjustizministerium machten die Grünen Antje Vollmer und Christa Nickels ihre Erfahrung mit der politischen Wende. Auf dem Höhepunkt des Hungerstreiks einsitzender RAF-Terroristen fragten die beiden Frauen Justizstaatssekretär Klaus Kinkel, was die Regierung dagegen zu tun gedenke, daß sich Häftlinge zu Tode hungerten.
Sie werde gar nichts tun, antwortete Kinkel. Denn diesmal könne die Regierung sicher sein, »daß die Konsequenzen von der Bevölkerung getragen werden«.
Damit werden die Wähler zum Maßstab staatlichen Handelns; nehmen die, in letzter Konsequenz, auch den Tod von Mitbürgern in Kauf, denen eigentlich staatliche Fürsorge zu gelten hätte, scheint alles in Ordnung. Antje Vollmer: »Das war für mich ein Schlüsselsatz.« Inhaftierte Hungerstreikende, die noch bei Bewußtsein sind, werden also künftig nicht mehr gegen ihren Willen künstlich ernährt, auch wenn sie in akuter Lebensgefahr schweben.
Antje Vollmer schließt, selbstkritisch, nicht aus, daß die Grünen mit ihren lockeren Extratouren beigetragen haben, »die Illusion und den Anschein zu erwecken, als hätte sich Liberalität ausgeweitet«. Dabei habe der Klima-Umschwung die Grünen selbst schon erreicht: »Man läßt sich die Flügel seiner Vorstellungskraft beschneiden.«
Den Klimawechsel spüren vor allem jene, die sich für Minderheiten engagieren. Undenkbar ist derzeit eine sachgerechte Diskussion in den Bundestagsfraktionen über die Initiative des Europaparlaments, die Homosexuelle und Lesben Heterosexuellen gesetzlich gleichstellen will; das heißt, die Altersgrenze für erlaubte homosexuelle Kontakte von 18 auf 16 Jahre zu senken. Die FDP in sozialliberaler Zeit suchte sich noch mit dem Verlangen nach Abschaffung des Paragraphen 175 im Konflikt mit Kanzler Schmidt zu profilieren. Jetzt traut sich - außer den Grünen, die gleich auch Sex mit Kindern erlauben wollten - niemand an das Thema heran. Rechtspolitiker Baum: »Da stürzt sich denn doch gleich die CSU drauf.«
Für jene Form der politischen Kultur, so wie SPD-MdB Freimut Duve sie definiert, »die Minderheit vor der Mehrheit zu schützen«, schwindet in der Wende-Republik offensichtlich der Raum.
Amnesty International hat es beim Innenminister, der ein neues Asylrecht vorbereitet, schwer, mit Bedenken Gehör zu finden. Friedrich Zimmermann hat bisher jedes Gespräch mit der Gefangenen-Hilfsorganisation verweigert. Terminschwierigkeiten.
Kann eine Regierung Menschenrechte noch ernsthaft vertreten, wenn sie den 72jährigen CSU-Pensionär Richard Jaeger zum Leiter der bundesdeutschen Menschenrechts-Kommission bei der Genfer Uno beruft, die eine weltweite Ächtung der Todesstrafe erreichen soll? »Kopf-ab-Jaeger« hatte sich in seinen Abgeordneten-Zeiten seinen Spitznamen als Befürworter der Todesstrafe verdient.
»Mit Entsetzen« verfolgt Freidemokrat Baum die Bonner politischen Diskussionen um Asyl- und Ausländerrecht. Schon die Vermerke aus der Verfassungsabteilung seines ehemaligen Ministeriums lesen sich für den Ex-Minister so, als hätten seit seiner Entlassung auch sämtliche Beamte gewechselt. Baum: »Die unterstützen jetzt voll die CSU-Politik.«
Die wird von Staatssekretär Spranger so formuliert: Flüchtlinge aus Afghanistan, Polen oder Äthiopien sorgten für eine »Destabilisierung« der Bundesrepublik. Das könne, und damit ist Sprangers Feindbild wieder klar, »durchaus in das _(Bei der Begegnung mit US-Präsident ) _(Ronald Reagan vor dem Hambacher Schloß ) _(im Mai 1985. )
Kalkül der Verursacher der Fluchtbewegungen passen«. Kommunistenjäger McCarthy läßt grüßen.
So linksliberale Tendenzen wie der Ruf nach mehr Datenschutz passen nicht in rechtes Weltbild. Die Ermordung eines libyschen Oppositionellen in der Bonner Innenstadt hätte, nach Meinung mancher Unionspolitiker, verhindert werden können, wenn die Behörden rechtzeitig - vor der Tat? - den Namen des späteren Mörders mitgeteilt hätten; die rechtskonservative »Welt« klagte damals: »Datenschutz für Mord«.
Rechte Rechtspolitiker der Koalition, angeführt von Experten des CSU-Innenministers Friedrich Zimmermann, arbeiten derzeit an Gesetzen, mit deren Hilfe Verfassungsschutz und Polizei in nachgerade beliebigen Datenaustausch treten können (SPIEGEL 30/1985). Die vom Bundesverfassungsgericht noch 1983 neu verkündete »informationelle Selbstbestimmung« soll dem Bürger wohl peu a peu wieder genommen werden.
Dabei sind die Schritte nicht von langer Hand geplant - eher Ausdruck eines dumpfen Aktionismus, Antwort auf das Getuschel unter Wählern, Sympathisanten und Parteifunktionären in der Provinz: Es muß etwas geschehen.
Nach einer Analyse von Gunter Hofmann in der »Zeit« fehlt es »der gegenwärtigen Bonner Politik an Sinn für die soziale, politische oder moralische Dimension ihres Handelns. Es fehlen ihr die verbindlichen Standards. Es mangelt ihr an Ernsthaftigkeit. Ihre Ziele bleiben oft dunkel. Nichts ist verboten, alles erlaubt, fast alles egal. Palaver ersetzt den Diskurs«.
Selbst Niederlagen bei Landtagswahlen ändern nichts am Drall. »Die Gesetzesmaschine läuft, die neuen Mehrheiten sind stabil«, beschreibt der Sozialdemokrat Peter Conradi den Populismus der Konservativen und speziell ihres Kanzlers. »Gelangweilt, uninteressiert bürstet die neue Mehrheit die Argumente der Opposition wie lästige Krümel vom Ärmel ab.«
Was nicht ins Konzept paßt, findet nicht statt. Die milliardenteure Verkabelung der Republik ist ökonomisch Unsinn, sachlich unnütz und zudem - ausnahmsweise - nicht einmal vom Willen der Mehrheit getragen. Dennoch läßt Postminister Christian Schwarz-Schilling weiter buddeln; die Regierung hat es für gut erkannt. Basta.
Weil Familienminister Heiner Geißler das Aufklärungsheft »Betrifft: Sexualität« für schlecht hielt, ließ er als eine seiner ersten Amtshandlungen trotz großer Nachfrage die Broschüre einstampfen, die ungewollte Schwangerschaften bei Jugendlichen verhüten helfen sollte. Statt dessen gab er über eine halbe Million Mark für das Bilderheft »Das Leben vor der Geburt«, das schwangeren Frauen in Abtreibungs-Beratungsstellen die Entscheidung für das Kind erleichtern soll.
Auch der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit half beim Umdenken. Jürgen Warnke weigerte sich, weiterhin die »Kinderfibel« zu fördern, ein »Bilderbuch zum Mitdenken«, das die Ursachen der Armut in der Dritten Welt erklären will. Statt dessen ließ Warnke ein buntes Plakat »von Kindern in fernen Ländern« herausgeben, das per Bildgeschichte junge Leser informiert, worum es bei der Entwicklungshilfe neuerdings geht: »Überlegt doch mal miteinander, an wie vielen Stellen auf diesem Bild ihr Dinge seht, die aus der Bundesrepublik kommen.«
Bundesministerin Dorothee Wilms hält neuerdings eine Untersuchung über »Arbeiterkinder im Bildungswesen« unter Verschluß. Der Innenminister verteilt an höheren Schulen kostenlos die umstrittene Studie von Elisabeth Noelle-Neumann »Das Extremismus-Potential unter jungen Leuten«, in der als Indikator für linksextremistische Gesinnung unter anderem die Lektüre von SPIEGEL und »Stern« genannt wird.
Hatten die sozialdemokratischen Bildungsminister noch strikt darauf geachtet, bei der Förderung von Studentenverbänden linke und rechte gleichermaßen zu bedienen, so ist bei Frau Wilms die Balance dahin. Der christdemokratische RCDS bekommt doppelt soviel wie die Hochschulgruppen der Jungsozialisten; aus dem gleichen Fonds dürfen künftig auch nichtstudentische Organisationen subventioniert werden - die CSU-nahe Hanns-Seidel-Stiftung gehört dazu.
Die Mittel für den Deutschen Volkshochschulverband wurden eingeschränkt, dafür erhalten kirchliche Fortbildungsstätten mehr Geld. Auf 200000 Mark aus dem Hause Wilms muß die »Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule« verzichten; dafür darf der konservative Bundeselternrat auf Förderung rechnen.
Großzügig half die Bundesregierung bei der Reise deutscher Jugendgruppen nach Jamaica, wo über Ostern 85 eine »internationale Jugendkonferenz« stattfand. Die rechtsgerichteten Touristen - von der Schüler Union, dem RCDS und der Kaufmannsjugend - erhielten statt der üblichen 600 Mark 2000 Mark aus Steuermitteln - das wohl deshalb, weil es in Jamaica um ein Konkurrenzunternehmen zu den Moskauer Weltjugendfestspielen ging. Wer dorthin wollte, kriegte nichts, obwohl ursprünglich ein Reisekostenzuschuß zugesagt war: Geißler fürchtete kommunistische Unterwanderung; und »Welt« wie »FAZ« zollten ihm Beifall - mit Russen diskutiert man nicht.
In staatlich abhängigen Gremien müssen allenthalben neue Leute das Sagen haben. Der Kanzler selbst intervenierte beim Präsidenten des Goethe-Instituts, damit Kohls Schulfreund Lothar Wittmann dort stellvertretender Generalsekretär wurde. Wittmann, derzeit Leiter der Deutschen Schule in Brüssel, ist CDU-Mitglied.
In der Bundeszentrale für politische Bildung sollte der Sozialdemokrat Franklin Schultheiß als Geschäftsführender Direktor dem früheren RCDS-Vorsitzenden und CDU-Bundestagsabgeordneten Gerd Langguth Platz machen. Grund: Die Direktoren hätten sich künftig im Dreijahresrhythmus abzuwechseln.
Schultheiß prozessierte und bekam vom Kölner Verwaltungsgericht recht; der wahre Grund für die geplante Ablösung sei wohl, so das Urteil, das andere Parteibuch des anderen Kandidaten. Langguth selbst hatte sich, so ist es in einem Aktenvermerk des Innenministeriums festgehalten, gegen den geplanten Wechsel ausgesprochen: Er könne sich nicht mit der »Rolle eines Geschäftsführers auf Zeit identifizieren« und wolle deshalb »mit dem Bundeskanzler sprechen«.
So muß das Innenressort einen stichhaltigen Grund erst noch nachliefern. Ähnlicher Fall: Die Leiterin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Ute Canaris, wurde abberufen, weil sie keine ärztliche Ausbildung habe. Dafür sollte sie binnen acht Wochen in das Referat »Gesundheitshilfe und -vorsorge« in Geißlers Familienministerium überwechseln, das bis dahin von einem Arzt geleitet wurde. Vor Gericht konnte Frau Canaris ihre Versetzung verhindern.
Sonst ist die personalpolitische Wende erfolgreicher. Beim Deutsch-Französischen Jugendwerk wurde der Mann aus der CDU-Zentrale mit politischer Karriere im Rhein-Sieg-Kreis jenen Bewerbern vorgezogen, die Erfahrungen aus der Jugendarbeit vorweisen können. Bei Inter Nationes soll der jetzige Vorstand, ein parteiloser Diplomat, demnächst von einem CDU-Kandidaten ersetzt werden.
Auch das Deutsche Jugendinstitut in München, das sich mit international anerkannten Studien hervortat, soll an die Leine gelegt werden. Auf Druck der Bonner wurde der Jugendsoziologe Hans Bertram von der Bundeswehrhochschule München zum Direktor bestellt. Lieber hätten die unabhängigen Kuratoren Professor Rolf Kreibich von der FU Berlin auf dem Posten gesehen, weil er Kontakt zu den Jugendverbänden hat und sich in der Praxis der Jugendhilfe auskennt. Für den Vorstand des Instituts kandidierte
die DGB-Jugendbeauftragte Ilse Brusis - vergeblich. Und scheinbar großzügig stellte das Bonner Familienministerium dem Institut eine Million Mark in Aussicht - mit dem Geld sollen neue Stellen für CDU-nahe Abteilungsleiter geschaffen werden.
Geld ist offensichtlich immer dann leichter zu beschaffen, wenn es gilt, neue Positionen für bestimmte Leute einzurichten. In der Leitungsetage des Bildungsministeriums wurden zusätzlich drei höhere Beamte eingestellt. Im Bundespresseamt gibt es seit neuestem zwei weitere Ministerialdirigenten-Stellen, damit zwei verdiente Unionsfreunde beschäftigt werden können.
»Veränderungen in der Arbeitsstruktur« forderte der Innenminister von dem seinem Haus unterstellten Ost-Kolleg in Köln, nachdem er dort »Loyalitätsverletzungen« festgestellt zu haben glaubte. Das achtköpfige Wissenschaftliche Direktorium trat geschlossen zurück.
Dem langjährigen Generalsekretär des Bundesinstituts für Berufsbildung, Hermann Schmidt, verpaßte Ministerin Wilms einen Maulkorb; er darf nur Erklärungen abgeben, die zuvor mit dem Bildungsministerium abgesprochen wurden. In manchen Ministerien weigern sich einst selbstbewußte Fachbeamte, mit Journalisten zu sprechen: Sie haben Angst, abgehört oder beobachtet zu werden. In einigen Häusern wurde Mitarbeitern per Erlaß der direkte Kontakt mit der Presse untersagt.
Verständlich, daß nach der Wende die neuen Herren versuchten, in ihrer unmittelbaren Umgebung Mitarbeiter ihrer politischen Couleur zu placieren. Manche aber arbeiteten mit dem Rasenmäher: Binnen zwei Jahren wirbelte Staatssekretär Paul Harro Piazolo das Bildungsministerium dreimal durcheinander; inzwischen ist fast jeder höhere Beamte mindestens einmal innerhalb des Ressorts versetzt worden. Und befördert werden nur noch Kandidaten mit dem richtigen Parteibuch.
Im Kanzleramt hatte Helmut Kohl schon bald nach Amtsantritt die oberen Etagen von allen Helfern seines Amtsvorgängers Schmidt leergeräumt. Dabei gab es lange Jahre im sozialdemokratischen Kanzleramt nur einen SPD-Abteilungsleiter von sechs, zum Schluß waren es dann drei. Über einen parteilosen Ministerialdirektor verbreitete sich der Kanzler: »Ich kann dieses Gesicht nicht mehr sehen.« Er muß es nun nicht mehr. Ausgewechselt wurden außerdem gut zwei Drittel aller Gruppen- und Referatsleiter.
Das mag mit dem Selbstverständnis der Konservativen zu tun haben: Machtausübung scheint manchen von ihnen wie ein natürliches Privileg. Diskussion oder gar Widerrede sind nicht vorgesehen. Die Sozialdemokraten hingegen standen immer unter Rechtfertigungsdruck.
Viele Christkonservative empfinden Kritik als Sakrileg, als Verstoß am Wählerwillen, der sie doch am 6. März 1983 an die Macht brachte. »Solche Fragen würden deutsche Fernsehjournalisten nicht zu stellen wagen«, brauste Innenminister Zimmermann auf, als ihm ein Schweizer TV-Redakteur bei einem Interview zu keß wurde.
Wohl wahr. Seit dem Machtwechsel in Bonn ist die Mehrzahl der Tele- und Funkjournalisten noch braver und harmloser geworden - vorauseilender Gehorsam oder schlechte Erfahrungen?
Für Postminister Schwarz-Schilling ist der Wende-Journalismus erst perfekt, wenn »alle meine Interviews ungekürzt gesendet werden«. Außenminister Hans-Dietrich Genscher praktiziert diesen neuen Umgang mit den elektronischen Medien bereits. Bei ARD und ZDF läßt er sich nur so lange interviewen, wie als Sendezeit vorgesehen ist: Keines seiner goldenen Worte soll der Schere einer Cutterin geopfert werden.
Von zwölf Hörfunk-Büros in der Bundeshauptstadt, schätzt der Funk-Journalist Hans-Peter Riese, selbst SPD-Sympathisant, werden acht von CDU/CSU-Mitgliedern oder -Sympathisanten geleitet. Zwei Bonner Büroleiter - Günter Henrich beim NDR und Wolfgang Wiedemeyer beim SWF - waren Kohl als Parteisprecher zu Diensten. Als »Vorbild und Mahnbild« für alle journalistischen Kollegen empfiehlt Fraktionschef Dregger den Leiter des ZDF-Magazins Gerhard Löwenthal. Ihm dankte er in einem Glückwunschschreiben für seinen »fairen und konstruktiven Journalismus«.
»Kloakenjournalismus« pflegen dagegen, so meint es jedenfalls dieser unser Kanzler, der SPIEGEL und jene anderen Publikationen, die sich mit Kohls Verstrickung in illegale Parteifinanzierungspraktiken befassen, an die sich der Kanzler heute nicht mehr erinnern kann.
Konstruktiv = optimistisch = christdemokratisch; kritisch = intellektuell = nestbeschmutzend - an diese Gleichungen wollen die rechten Regenten die Wähler gewöhnen; und sie entsprechen damit manchen deutschen Instinkten und Träumen von der heilen Welt.
Als beispielhaft destruktiv, unfair galt die Satire auf Kohl und Reagan in der »Mai-Revue« der ARD. Die Bundesregierung verlangte eine offizielle Entschuldigung der ARD und den Kopf des zuständigen Moderators Hansjürgen Rosenbauer, der darin »mehr als nur ein Signal für eine medienpolitische Wende« sah. Das Fernsehen als Filiale des Bundespresseamtes - so hätten sie es gerne, nachdem der Kauf der »Bunte Spezial« bereits gelang.
Der Kabarettist Dieter Hildebrandt bewertete den Pressionsversuch der Regierung gegen Rosenbauer so: »In Bonn hat sich der Vorsprung zwischen Realität und Satire so verringert, daß sie schon gar nicht mehr auseinanderhalten können, was richtig und was falsch ist.«
Hilfestellung dabei wollen ihnen die Programm-Direktoren der TV-Anstalten geben. Sie beschlossen nach der Regierungsintervention, daß Satire als solche künftig »deutlich erkennbar« sein müsse, damit sie nicht für Realität gehalten wird.
Die Bundesregierung hat bisher darauf verzichtet, eine solche Kennzeichnungspflicht für ihre eigenen Taten einzuführen.
Schwarzrotgoldene Fahne im Arbeitszimmer Helmut Kohls im BonnerKanzleramt; dahinter Kohls Aquarium.Vor dem Spiel Deutschland - Schweden (2:0) im Oktober 1984;Falkenmeyer, Völler, Briegel, Schumacher, Rummenigge.Bei Adenauers 91. Geburtstag 1967.Bei der Begegnung mit US-Präsident Ronald Reagan vor dem HambacherSchloß im Mai 1985.