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Recht Leben zerstört

Nachsicht mit den Tätern? Kleinere Stasi-Delikte verjähren, wenn der Bundestag es nicht verhindert.
aus DER SPIEGEL 35/1993

Zweimal geriet der DDR-Bürger Thomas Krüger, 44, in die Fänge der Staatsorgane. Als junger Mann wurde Krüger von der Stasi abgeholt, weil er angeblich Flugblätter in einer Garage gedruckt hatte. Ein andermal kam er wegen kritischer Äußerungen während seines Wehrdienstes bei der Nationalen Volksarmee (NVA) in vorläufigen Arrest.

Erst vor kurzem fand Sozialdemokrat Krüger, mittlerweile Berliner Senator für Jugend und Familie, in DDR-Akten die Namen von zwei Inoffiziellen Mitarbeitern der Stasi, die ihn bespitzelt hatten. Von einem der beiden, einem guten Kameraden bei der NVA, war auch ein Bericht erhalten geblieben.

Krüger kann daher nachempfinden, wie gepeinigten und verfolgten DDR-Bürgern zumute sein wird, die erst jetzt vom Treiben der Denunzianten erfahren - ohne dann noch strafrechtlich gegen sie vorgehen zu können.

Denn damit ist es vorbei, wenn am 3. Oktober, drei Jahre nach der Vereinigung, die Verjährungsfrist für eine Reihe in der DDR begangener Straftaten abläuft.

Dazu gehören sogenannte Nadelstichmaßnahmen, die schmerzen sollten und nicht »einfach abzutun sind«, wie Krüger meint: das Abhören von Telefonen, die Kontrolle privater Briefe, Bespitzelung, Verleumdung und Hausfriedensbruch, Wahlfälschungen, die Verletzung des Wahlgeheimnisses sowie andere Taten, die mit Haftstrafen bis zu einem Jahr bedroht sind.

Ginge es nach der Mehrheit der ostdeutschen Justizminister, würde die Verjährungsfrist für Kleindelikte von drei auf sechs Jahre verdoppelt.

Dafür gibt es gute Gründe. Die Gauck-Behörde für die Stasi-Unterlagen ist überlastet. Bisher erhielt erst ein gutes Drittel der über 50 000 amtlichen - etwa Polizei oder Gerichte - und ein knappes Drittel der über 600 000 privaten Antragsteller Akteneinsicht.

Die Zentrale Dokumentationsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter hat erst knapp die Hälfte ihrer 45 000 Akten an die Länder abgegeben. Die Staatsanwälte vor Ort konzentrieren sich auf schwere Delikte; weniger gravierende Fälle bleiben oft liegen.

Doch ein Antrag im Bundesrat, mit dem Mecklenburg-Vorpommern bereits im März vergangenen Jahres die Verdoppelung der Drei-Jahres-Frist erreichen wollte, scheiterte an der westdeutschen Ländermehrheit.

Ihr hatte sich der Brandenburger Justizminister Hans Otto Bräutigam angeschlossen. Nach seiner Ansicht ist in vielen dieser Fälle »die persönliche Verantwortlichkeit sehr unklar und damit die Voraussetzung für eine Strafbarkeit in den meisten Fällen nicht gegeben«.

Dazu kommt, daß die ostdeutschen Justizorgane ohnedies hoffnungslos überfordert sind. Und mancher westdeutsche Justizminister bezweifelt, ob es dem Rechtsfrieden dient, wenn die kleinen Täter jahrelang weiter verfolgt werden.

Unbestritten war anfangs nur, daß es dringend einer grundsätzlichen Klärung für die Aufarbeitung der politischen Kriminalität in der DDR bedurfte. Denn zunächst entschieden die Gerichte, ob weiter zurückliegende Verbrechen verjährt seien.

Flüchtlinge etwa hätten, so ein Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt, gleich nach Ankunft im Westen Anzeige erstatten müssen - zum Beispiel ein ostdeutscher Bauer, der in den fünfziger Jahren wegen Denunziation seinen Hof verlor und 1990 den Denunzianten anzeigte.

Das Oberlandesgericht Braunschweig erkannte sogar in einem Fall auf Verjährung, obwohl ein Häftling gleich nach seinem Freikauf im Jahr 1964 Anzeige wegen Verschleppung und Freiheitsberaubung eingereicht hatte. Begründung: Der Fall hätte schon damals exterritorial von einem westdeutschen Gericht verhandelt werden müssen.

Daraufhin mobilisierte der heutige Schweriner Justizminister Herbert Helmrich (CDU), damals Vorsitzender des Rechtsausschusses im Bundestag, den Gesetzgeber. Auf Antrag des Thüringer Justizministers Hans-Joachim Jentsch wurden im März die Bestimmungen über DDR-Delikte der Sühne von Naziverbrechen im Nachkriegsdeutschland angeglichen: Die Verjährungsfristen begannen erst mit dem Ende der DDR, am 3. Oktober 1990.

In Verhandlungen mit seinen Länderkollegen erhielt Helmrich im Juni auch die Zusage, die Verjährung für schwere Delikte in der DDR, darunter Rechtsbeugung und Amtsanmaßung, zu verlängern - von fünf auf acht Jahre.

Daß davon die kleinen Untaten nicht betroffen sind, schafft Unmut im Osten. Der politische Umgang mit dem DDR-Unrecht vermittle vielen Ostdeutschen den fatalen Eindruck, erklärt Jentsch, als werde »die Sicht der Opfer leider kaum noch zur Kenntnis genommen«. Der Erfurter Minister: »Wir tragen nicht dazu bei, den Rechtsstaat hier begreifbar zu machen.«

Eine Gruppe von Bürgerrechtlern und Schriftstellern, darunter Wolf Biermann, Bärbel Bohley und Reiner Kunze, startete vorige Woche einen Aufruf gegen die Verjährung der Bagatelldelikte - dies sei ein »Affront« gegen große Teile der DDR-Bevölkerung.

Die Landtagsfraktion von Bündnis 90/Grüne in Sachsen-Anhalt brachte Ende voriger Woche eine Dokumentation mit verjährenden Straftaten heraus. Leserbriefschreiber, Patienten und Kritiker des Truppeneinmarsches in der CSSR wurden verfolgt, weil sie diffamiert worden waren. Der Gesetzgeber solle, so die Fraktion, für Delikte dieser Art doch noch »die Verjährungsfrist aufheben«.

Die SPD-Abgeordneten Angelika Barbe (Berlin) und Rolf Schwanitz (Plauen) protestierten gegen juristische Nachsicht mit Tätern, die »zahllose Lebensläufe zerstörten« (Barbe). Schwanitz forderte von der Bundesregierung, den Bundesratsantrag zur Verlängerung der Verjährungsfristen sofort an den Bundestag weiterzuleiten.

Auch Jentsch will ein Eilverfahren zur Ausweitung der Drei-Jahres-Frist durchsetzen. Doch dafür ist es fast zu spät. Der Bundestag müßte innerhalb zweier Sitzungswochen das Verlängerungs-Gesetz verabschieden, damit der Bundesrat rechtzeitig zustimmen kann.

Kollege Helmrich hat denn auch geringe Hoffnung: »Es geht jetzt nur noch mit der Brechstange.« Y _(* In der Zentralen Beweismittel- und ) _(Dokumentationsstelle der ) _(Landesjustizverwaltungen in Salzgitter. )

Stasi-Opfer Krüger Treiben der Denunzianten

Justizakten über DDR-Straftaten* »Die Sicht der Opfer kaum zur Kenntnis genommen«

* In der Zentralen Beweismittel- und Dokumentationsstelle derLandesjustizverwaltungen in Salzgitter.

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