RECHTSEXTREMISTEN Lebende Zeitbomben
Alles deutet auf eine ruhige Schicht, als die beiden Polizeibeamten mit ihrem VW-Bus auf den Parkplatz Roseburg an der A 24 Hamburg-Berlin einbiegen.
Verkehr schwach, Straße trocken, keine Unfälle. Es ist Sonntag, der 23. Februar 1997, neun Uhr früh.
Zwei irische Lkw-Fahrer frühstücken in ihren Führerhäusern. Auf NDR 2 dudelt Soft-Pop: »Hey little Girl«.
In einer Parkbucht steht ein Mazda-Kombi. Hinterm Lenkrad ein schlafender Mann, auf dem Rücksitz ein Pitbullterrier, regungslos.
Das Nummernschild des Pkw erscheint den Polizisten verdächtig: mehr Bohrlöcher als nötig, der Goldmetallic-Lack drum herum auffällig sauber.
Kurze Zeit später ist Polizeiobermeister Stefan Grage tot, sein Kollege Stefan K. verletzt. Geschossen wurde mit einer Pumpgun, einem Vorderschaftrepetiergewehr, das Polizisten im ländlichen Schleswig-Holstein meist nur in Amokläufer-Filmen wie »Falling Down« oder »Taxi Driver« zu sehen bekommen.
Der Fahrer des Mazda war nach einer kurzen Unterredung mit den Beamten zu seinem Wagen zurückgekehrt, hatte sich hineingebeugt, im Umdrehen wieder aufgerichtet und sofort das Feuer eröffnet. Wortlos, ohne Zögern, mit Brenneke-Geschossen, einer Munition mit fingerdicken Bleikernen. Jäger benutzen sie, um Wildschweine zu erlegen.
Kay Diesner heißt der Schütze, 24 Jahre alt, wohnhaft in Berlin-Marzahn. An seinem Arbeitsplatz, einem elektrotechnischen Betrieb, galt er, so ein Vorgesetzter, als »engagierter Mitarbeiter« - ruhig, fleißig, unauffällig. Nie kam er zu spät, Überstunden waren für ihn selbstverständlich.
Mit allen kam der kahlgeschorene junge Mann gut zurecht. Auch mit den Ausländern im Betrieb gab es »keine Probleme«, wie ein Kollege versichert.
Den Vernehmern der Sonderkommission »Parkplatz Roseburg« erklärt Diesner, als Mitglied des »Weißen Arischen Widerstands« (WAW) befinde er sich »gegenüber dem Staat in einer Notwehrsituation«. Die Polizisten hätten zuerst geschossen.
Die kaltblütige Tat an der Autobahn hat polizeiliche Staatsschutz-Ermittler und Experten für Rechtsextremismus in den Verfassungsschutz-Ämtern überrascht.
Zwar war Diesner wegen Landfriedensbruchs, Körperverletzung, Bedrohung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte aktenkundig, aber er galt als Randfigur der rechten Szene, politisch in jüngster Zeit kaum noch aktiv.
Die kriminaltechnische Untersuchung seiner Waffe sorgte für eine weitere Überraschung: Auch der Anschlag auf den Buchhändler Klaus Baltruschat, 62, der im PDS-Haus von Berlin-Marzahn am vorvergangenen Mittwoch niedergeschossen worden war, geht auf das Konto des 24jährigen. Die Ermittler glauben, daß er sich für die »Niederlage« rächen wollte, die jungrechte Kämpfer am 15. Februar bei einer Straßenschlacht mit linken Autonomen in Berlin-Hellersdorf hinnehmen mußten.
Von einer neuen Qualität rechter Gewalt, so der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Peter Frisch, könne dennoch nicht die Rede sein: »Zur Zeit gibt es keine konkreten Anhaltspunkte dafür, daß in Deutschland rechtsterroristische Strukturen bestehen.« Jörg Milbradt, stellvertretender Leiter des Verfassungsschutzes in Brandenburg, sekundiert: »Es passiert gelegentlich, daß sich in der Neonazi-Szene Psychopathen rumtreiben.«
Immer wieder sind aus der Szene, in der sich politischer Irrsinn und individuelle Psychopathologie zu einem Zwei-Komponenten-Sprengstoff mischen, Wahnsinnstäter hervorgegangen.
* Am 26. September 1980 zündete der 21jährige Rechtsextremist Gundolf Köhler auf dem Oktoberfest in München eine Bombe, die 13 Menschen tötete und über 200 verletzte. Der Attentäter kam bei dem Anschlag selbst ums Leben.
* Am 19. Dezember 1980 erschoß der 28jährige Neonazi Uwe Behrendt in Erlangen den jüdischen Verleger Shlomo Lewin und dessen Lebensgefährtin Frida Poeschke. Einige Monate nach der Tat beging der Killer im Libanon offenbar Selbstmord.
* Am 24. Juni 1982 erschoß der 26jährige Neonazi Helmut Oxner in Nürnberg in und vor einer Diskothek drei Ausländer und verletzte drei weitere schwer. Nach der Mordserie tötete er sich selbst.
* Im März 1996 gestand der 27jährige Neonazi Thomas Lemke aus Gladbeck bei der Polizei drei Mordtaten, unter anderen an einer Frau, die sich als Linke verstand.
Daß die Zahl durchgedrehter Einzeltäter in der rechten Szene zunehmen wird, glaubt der Neonazi-Aussteiger und Ex-Anführer der rechtsextremistischen »Nationalen Alternative« Ingo Hasselbach: »Der Verfolgungswahn wird geschürt in der Szene.« Der Todesschütze und Attentäter von Marzahn sei »nicht der einzige Typ seiner Art, da ticken noch ein paar Zeitbomben«.
Hasselbach kennt Diesner aus gemeinsamen Tagen 1990/91 in einem von Neonazis besetzten Haus in der Weitlingstraße im Ost-Berliner Bezirk Lichtenberg.
Damals war er »unscheinbar, zurückhaltend und hat nicht viel geredet«. Wie unvermittelt der einst schmächtige Junge, der seinen Körper im Fitneßstudio zur Waffe stählte, ausrasten konnte, erlebte Hasselbach schon vor gut sechs Jahren in einem Berliner S-Bahnhof. Dort schlug Diesner ohne Vorwarnung auf einen jungen Passanten ein, der einen Antinazi-Aufnäher an seiner Jacke trug.
Die kleine Welt der Möchtegern-Führer in der Weitlingstraße, wo auch Männer wie Ekkehard Weil verkehrten, der 1970 in Berlin am sowjetischen Ehrenmal einen Wachsoldaten niederschoß, beeindruckte den Jungen, der ohne Vater aufgewachsen war.
Kameradschaftsabende, das Geraune von Germanen, Titanen und nationaler Elite kamen für Diesner und andere wendegeschädigte, orientierungslose junge Wirrköpfe einer Wiederauferstehung als Kämpfer gleich.
Für die »Nationale Alternative« verteilte er Flugblätter, als Mitglied der »Sozialrevolutionären Nationalisten« nahm er an Wehrsportübungen teil und lernte auch mit scharfen Waffen umzugehen.
Hasselbach, der Diesner ausgebildet hat: »Ich fühle mich verantwortlich und habe wahnsinnige Angst, daß andere Leute, die mit uns in der Weitlingstraße waren, ähnlich durchdrehen.«
Auch Verfassungsschützer räumen ein, daß die braune Szene zunehmend unberechenbar wird, seit elf straff geführte Neonazi-Organisationen mit rund 1700 Mitgliedern vom November 1992 an verboten wurden.
Die »wachsende Aggressivität«, die Beamte beim Auswerten von Berichten ihrer V-Männer konstatieren, stellt die Geheimdienstler vor ein Dilemma.
Zwar mögen sie nicht einräumen, daß die Verbote ein taktischer Fehler gewesen sein könnten. Doch fast schon nostalgisch erinnern sich Kenner bei internen Lagebesprechungen an Zeiten, als die Szene noch von »betulichen Säufern«, etwa aus der Spitze der 1995 verbotenen Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP), zusammengehalten wurde.
Seit die Neonazi-Szene kopf- und führungslos ist, wächst »die Gefahr, daß braune Autisten sich zu Terroristen entwickeln«, so ein Beamter des nordrheinwestfälischen Verfassungsschutzes.
Auch bei Diesner läßt sich der Weg vom Autisten zum Killer nachzeichnen.
Nach dem Ausstieg seines Anführers Hasselbach aus der rechten Szene und dem Zerfall der »Sozialrevolutionären Nationalisten« schloß er sich 1992 der sektenhaften Kleingruppe »Weißer Arischer Widerstand«
an. Angelehnt an das amerikanische Vorbild der rassistischen »White Aryan Resistance« (siehe Seite 36) wollte in Berlin ein Häuflein, das aus einem halben Dutzend Kämpfern bestand, den »Rassenkampf« proben.
Die Truppe begann 1994 zu zerfallen, nachdem Marcus Bischoff, der als ihr Kopf galt, eine Haftstrafe wegen »Bildung eines bewaffneten Haufens« und Propagandadelikten antreten mußte.
»Bei Diesner«, sagt Bischoff, der derzeit in der Berliner Justizvollzugsanstalt Tegel einsitzt, »hat sich seitdem ein ungeheurer Haß aufgestaut.«
Trost und Führung suchte der selbsternannte Jung-Arier beim Berliner Neonazi Arnulf Priem und dessen Gruppe »Vandalen«. Doch von der kruden Mischung aus SS-Ideologie und rechter Esoterik konnte er nicht lange zehren. Auch Priem mußte in den Knast. Wegen NS-Propaganda und »Bildung eines bewaffneten Haufens«.
Seitdem war Kay Diesner, der im Kameradenkreis gern von seinem Vorbild, dem 1930 von Kommunisten erschossenen SA-Mann Horst Wessel, schwärmte, ein SA-Mann ohne SA, eine lebende Zeitbombe.
Der Verlierer, der mit seinem Kampfhund in einem 18geschossigen Plattenbau in Berlin-Marzahn wohnte, fühlte sich »vom Staat bedroht«. Wie sehr er in seinem ohnmächtigen Wahn auf alles gefaßt war, belegt die Tatsache, daß er bei seiner Verhaftung eine schußsichere Weste trug und mehr als vierzig Schuß Munition bei sich hatte.
Auch wenn all dies eher an den durchgeknallten Vietnam-Veteranen Travis Bickle in Martin Scorseses Film »Taxi Driver« erinnert als an eine braune RAF - in Thüringen erscheinen nach Diesners Schüssen manche Drohungen aus der rechten Szene in einem neuen Licht.
In der Stadt Altenburg ist in der letzten Woche ein Flugblatt aufgetaucht, das für Unruhe sorgt und über dessen Echtheit Verfassungsschutz und LKA streiten. Wer auch immer es verfaßt hat, mit der Rechtschreibung haperte es: »Dieses Trecksloch« solle »gestürmt und dem Boden gleich gemacht« werden. Objekt der rechten Wut ist ein kleiner Infoladen im Zentrum der Stadt, in dem sich Linke und Autonome treffen.
Die Haßtirade gipfelt in einem Mordaufruf: »Einzelne Leute« sollen »geschnappt und ausgerottet« werden. Dann folgen die Namen von sieben Todeskandidaten - sechs stadtbekannte linke Aktivisten und Altenburgs Oberbürgermeister Johannes Ungvari (CDU), auf dem Flugblatt als »korrupte Judensau« beschimpft.
Unterschrieben ist der Aufruf von einer Bewegung »Blood & Honour« (Blut und Ehre).
Die Todesliste von Altenburg markiert scheinbar den Aufschwung der braunen Aktivisten in Thüringen. Im Gegensatz zum bundesweiten Trend ist in dem Land zwischen Werra und Saale die Zahl der rechtsextremistischen Straftaten dramatisch angestiegen: auf 939 Fälle im Jahr 1996 (1995 waren es 733, 1994 noch 478 Fälle).
Zwar stufen die Staatsschützer die meisten Taten unter der Rubrik »Propaganda-Delikte« ein. Dazu gehört das mit Schokoladeneis an eine Mauer geschmierte Hakenkreuz genauso wie die lebensgroße ausgestopfte Puppe, die Nachwuchsnazis - mit einem Judenstern versehen - an einer Autobahnbrücke bei Jena aufhängten.
Doch die braunen Kameraden sind offenbar dabei, sich neu zu formieren. »Seit eineinhalb Jahren hat sich in Thüringen ein rechtsextremer Kern etabliert, dessen Logistik, bundesweite Vernetzung und intellektuelle Führung früheren Strukturen deutlich überlegen ist«, weiß Innenminister Richard Dewes. Der Staat müsse sich auf Terroranschläge aus der Neonazi-Szene vorbereiten, warnt der SPD-Politiker.
Bereits in den vergangenen zwei Jahren verübten Neonazis eine Reihe von Anschlägen: So verschickten sie Briefbomben, plazierten Sprengstoffsätze in einem Kaufhaus in Suhl und auf der Heidecksburg bei Jena. Dabei benutzten sie funktionsfähige Attrappen. »So verbreiten sie Angst und demonstrieren überdies noch ihre Fähigkeiten«, sagt Uwe Kranz, Chef des Thüringer Landeskriminalamts.
Daß sie auch Zünder anlegen können, bewiesen die Hitler-Fans im November 1995, als in einem Ausländerheim in Jena eine Rohrbombe explodierte.
Große Teile der rechten Szene operieren unter dem Mantel des Thüringer Heimatschutzvereins, dessen lokale Untergruppen in Jena, Gera, Saalfeld und Erfurt sich Kameradschaften nennen. Mit Vorliebe schmieren und pöbeln die Nazi-Jünger in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald oder verbrennen bei Privatritualen Holzkreuze nach dem Vorbild des amerikanischen Ku-Klux-Klan.
»Die Rechte löst sich ganz bewußt in eine Art brauner Zellen auf«, beobachtete LKA-Chef Uwe Kranz. »Sie schotten sich ab und sind dabei, Befehls- und Kommandostrukturen aufzubauen.« Thüringens oberster Neonazi-Fahnder sieht Parallelen zu linksextremistischen Strategien der siebziger Jahre: »Die lernen von der RAF.« Dennoch, da sind sich außerhalb Thüringens die Experten einig, eine braune RAF drohe nicht, auch wenn das Reden darüber Planstellen im Landeskriminalamt schaffen hilft. Denn: Kaum eine Szene ist so von V-Leuten des Staats- und Verfassungsschutzes durchsetzt wie die rechte.
Bei »Aktivisten, die als besonders militant gelten«, hält es der brandenburgische Verfassungsschützer Milbradt sogar für möglich, präventiv vorzugehen und »Psychogramme zu entwerfen, um eine Einschätzung ihrer Gefährlichkeit abgeben zu können«.
Die Wirksamkeit vorbeugenden Eingreifens zeigte sich im Oktober letzten Jahres bei einer konzertierten Aktion von Verfassungsschützern in mehreren Bundesländern. Den Beamten war zu Ohren gekommen, daß Neonazis eine Broschüre unter dem Titel einblick 2 vorbereiteten.
Das Heft sollte die erste Ausgabe des konspirativ hergestellten einblick fortführen, der Ende 1993 rund 250 namentlich genannten Nazi-Gegnern »unruhige Nächte« angedroht hatte. Die neue Schrift mit Privatadressen und Telefonnummern von »feindlichen« Politikern, Juristen, Geheimdienstlern und Polizisten wollten die Neonazis über ein Postfach in den Niederlanden vertreiben.
Geheimdienstler statteten daraufhin rund einem Dutzend aktiver Neonazis Hausbesuche ab und kündigten den Kameraden »empfindliche Gegenmaßnahmen« für den Fall einer Veröffentlichung an.
Die Kämpfer parierten und ließen die Finger von dem Projekt.
* Bei einem Treffen in der Nähe von Jena; von der Polizeibeschlagnahmtes Foto.* Nach seiner Festnahme am 23. Februar.