KUBA Lebendiges Denkmal
Die Wellen brechen sich an den drei Meter hohen Mauern des Malecon, Havannas sechsspuriger Uferchaussee, und schlagen über die Straßenbrüstung. Gischt sprüht die Luft schmeckt nach Salz.
Der Asphalt ist glitschig, auf dem Malecon lagert das Meer Sand und Treibgut ab. Die verblaßten, pastellfarbigen Fassaden der arkadengeschmückten Häuser, die zur Stadtseite die Prachtallee säumen, blättern ab; rieselndes Mauerwerk zeugt von der zerstörerischen Kraft der Erosion.
»Die Karibische See ist sehr aggressiv, weit aggressiver als etwa das Mittelmeer«, erklärt Felipe Velasco Bouzada, Sprecher des Bürgermeisters von Havanna: »Die Häuser entlang dem Malecon müßten wir jedes Jahr frisch streichen.«
Doch Farbe ist teuer auf Kuba. »97 Prozent aller Farbe müssen wir für harte Devisen im Ausland beschaffen«, sagt Velasco. »Dabei stehen wir natürlich jedesmal vor der Frage: Sollen wir lieber Milch für die Kinder oder Farbe für die Häuser kaufen?«
Die Alterspatina, die Havanna angesetzt hat, ist längst in Verfall übergegangen. Doch jetzt soll ein Sanierungsprogramm die Stadt retten. Der Schwerpunkt der Restaurationsarbeiten liegt in der von der Unesco als »Weltkulturerbe« unter Denkmalschutz gestellten Altstadt, Habana Vieja.
1511 oder 1515 - je nach Quelle - von dem Spanier Diego Velazquez an der Südküste der Insel gegründet, dann an einen geschützten Hafen im Norden verlegt, entwickelte sich La Villa de San Cristobal de La Habana - so der vollständige Name schnell zum wichtigsten Hafen im spanischen Kolonialreich.
Von hier segelte Hernan Cortes nach Mexiko, um das Aztekenreich zu zerschlagen. Hier gingen die spanischen Silberflotten aus Bolivien, Peru oder Mexiko vor der Überfahrt nach Europa noch einmal zur Proviantaufnahme vor Anker. Englische und französische Korsaren plünderten die Schatzkammern, die Briten nahmen 1762 das »Juwel der Antillen« für
elf Monate ein, und Theodore Roosevelt, der spätere US-Präsident, führte im Spanisch-Amerikanischen Krieg (1898) seine »Rough Riders« gegen Havanna.
50 Jahre später wollte Kubas Diktator General Batista die meist ein- oder zweigeschossigen alten Kolonialbauten und Häuser aus der Zeit der Jahrhundertwende abreißen, um Platz für eine moderne City mit Hochhäusern, Banken und Versicherungen zu schaffen. Die kubanische Revolution unter Fidel Castro vereitelte diesen Flächennutzungsplan, doch 25 Jahre Planwirtschaft richteten beinahe das gleiche an.
»Vor der Revolution«, sagt Velasco, »war Havanna eine hochentwickelte Stadt, die keinen Vergleich mit irgendeiner europäischen Metropole scheuen mußte.« Doch unter Castro verkümmerte die glanzvolle Hauptstadt. »25 Jahre lang investierte die Revolution fast ausschließlich in die Infrastruktur auf dem Land«, erklärt der Stadtsprecher.
Das alte Regime hatte sich nur für die Hauptstadt interessiert und ließ das Land verkommen. Castro, der ohne die Unterstützung der Bauern nie gesiegt hätte, machte es umgekehrt: Er ließ Schulen, Hospitäler und Straßen auf dem Land bauen, schuf neue Industriezentren und Arbeitsplätze in der Provinz.
Die Ergebnisse dieser Strukturpolitik brachten eine Menge Vorteile: Der unkontrollierte Zuzug vom Land unterblieb, und somit auch das Wucherwachstum der Stadt. In Havanna gibt es nicht jene Elendsviertel, die sonst überall die Städte Lateinamerikas einschnüren.
Während sich vor der Revolution 65 Prozent der kubanischen Industrieproduktion in Havanna konzentrierten, hat sich dieser Anteil heute auf 35 Prozent verringert. Die Stadt leidet nicht, wie Mexiko oder Caracas, unter einer dichten Smogglocke. Sie droht auch nicht im Verkehr zu ersticken: Insgesamt rollen nur 120000 Autos über die Boulevards und durch die engen Gassen, neben alten
Volkswagen und Ami-Schlitten aus früheren Tagen meist Ladas und Polski-Fiat, die oft schon nach wenigen hundert Kilometern die ersten Mängel aufweisen, dazu Wartburg-Modelle aus der DDR.
Anders auch als etwa in Bogota oder in Kingston auf Jamaika, wo Mord, Totschlag und Drogenhandel die Unterwelt beherrschen, ist die Kriminalität in Havanna unterentwickelt: wenige Morde, meist Resultat hitziger Eifersuchtsdramen, ein paar Gelegenheitskriminelle, die Touristen auf dem Schwarzmarkt ungültige Pesos gegen gute Dollar andrehen, und ein halbes Hundert Prostituierte, die sich gern vor dem Hotel Nacional herumtreiben, der einstigen Luxusabsteige des amerikanischen Mafia-Gangsters Meyer Lansky.
Havanna ist sicherlich die schönste und sauberste Stadt in der ganzen Region. Doch die jahrelange Vernachlässigung der Hauptstadt bei der Verteilung der ohnehin knappen Haushaltsmittel bewirkte, daß Kirchen und Paläste, Bürgerhäuser und Geschäfte verrotteten.
Der Schwamm sitzt in Mauern und Decken, die Gemeinschaftstoilette für fünf, sechs Familien ist nur über die Haustreppe zu erreichen. Die alten »vitrales« aus dem vergangenen Jahrhundert, bunte, holz- oder metallgefaßte Glasfenster, sind längst zerbrochen, die schmiedeeisernen, kunstvoll verzierten Fenstergitter, die »rejas«, rosten und lösen sich aus dem losen Mauerwerk. Die einst prächtigen Arkaden müssen oftmals mit Balken abgestützt werden. Auf einsturzgefährdeten Balkons wuchern Palmen und anderes tropisches Grünzeug.
Von insgesamt 540000 Wohnungen, in denen die zwei Millionen Einwohner Havannas leben, sind »40 Prozent renovierungsbedürftig oder abbruchreif« sagt Felipe Velasco. Das heißt, daß über 63 Prozent der Altbauten stark beschädigt sind.
Erst der frühere Armeegeneral Oscar Fernandez Mell, der 1976 das Amt des Bürgermeisters übernahm, drängte auf eine Lösung der hauptstädtischen Probleme. Aber noch 1979 wurden meh-Häuser abgerissen als neue gebaut. Rund »100000 Wohnungen fehlen«, sagt Fernandez Mell, der 1986 in Pension ging. Sogar Fidel Castro prangerte in einer Rede das »Entstehen von Barackensiedlungen« an, etwa im Stadtteil Cotorro um die säuberlich restaurierte Hemingway-Finca »La Vigia« oder im Barrio Obrero am Hafen.
Bis zum Jahr 2000, so beschloß die politische Führung 1982, sollen 224000 Wohnungen entstehen. Zwei Jahre später verabschiedete die Volksversammlung ein Wohnungsbaugesetz, wonach jeder Bewohner auch Eigentümer seines
Hauses oder seiner Wohnung werden soll.
Felix Contreras, 47, Sohn einer Prostituierten und eines Batista-Soldaten, eines »asesino« (Mörder), wie er sagt, bis zu seinem 20. Lebensjahr Analphabet und heute Dichter und Journalist verdankt »der Revolution alles«, auch seine Wohnung gleich hinter dem Malecon und seine beiden Arbeitsräume in einem Souterrain im Stadtteil Vedado.
Jeden Monat zahlte er zehn Prozent seines Einkommens für die Wohnung. Nachdem er auf diese Weise zwei Drittel des von der Regierung festgesetzten Preises abgestottert hatte, wurde er als Eigentümer eingetragen. Das restliche Drittel streckte ihm die staatliche Bank in Form eines zinslosen Darlehens vor, das er nun in kleinen Raten zurückzahlt.
Doch auch von den neuen Eigentümern »wird zu wenig saniert«, rügt der Architekt Humberto Diaz. »Die Leute hätten das Geld dafür, aber die Materialien fehlen.« Ex-Bürgermeister Fernandez, der einst in der Sierra Maestra an der Seite Ernesto ("Che") Guevaras focht, bestätigt die Kritik: »Ein Haus besteht ja nicht nur aus vier Wänden. Da gibt es Scharniere, Schlösser, Lampen, Schalter, Toiletten, Rohre - alles Dinge, deren Herstellung eine Industrie erfordert, die Kuba nicht hat.« Derzeit fehlen etwa 15000 Wasserhähne.
Die Sanierungsarbeiten in der Altstadt verschlingen gigantische Summen. »Die Wiederherstellung von Habana Vieja wird Generationen dauern und uns bis weit ins nächste Jahrtausend beschäftigen«, räumt Chefrestaurator Sergio Gonzalez ein. 1980 begann er mit 60 Mann, heute beschäftigt er 1000 Mitarbeiter.
Fast 1000 Gebäude auf vier Quadratkilometern Altstadt sollen restauriert und saniert werden. 110000 Menschen drängen sich hier in teilweise völlig heruntergekommenen Häusern. In die hohen Hallen der alten Kolonialbauten haben sie Zwischendecken gezogen, um die Wohnfläche zu vergrößern. Sie bauten Küchen ein, verlegten Strom- und Wasserleitungen und scherten sich nicht im geringsten um bau- oder feuerpolizeiliche Auflagen.
Mit einem Kostenaufwand von rund 20 Millionen Dollar restaurierten Gonzalez' Arbeitsbrigaden bisher 20 Gebäude, darunter den gepflasterten Platz der Kathedrale, dessen Stirnseite von der wohl schönsten Barockkirche der Karibik mit ihren beiden asymmetrischen Glockentürmen und der prächtigen Kalksteinfassade beherrscht wird.
Auch die nur wenige Meter entfernte »Plaza de Armas« mit dem einstigen Palast der Generalkapitäne, in dem heute das Stadtmuseum untergebracht ist, dem »Palacio del Segundo Cabo« (heute Kulturministerium) und dem Castillo de la Fuerza Real, der ältesten Festung Havannas, ist bis zu den Gaslaternen hin originalgetreu wiederhergestellt.
Nebenan, in der Calle del Obispo, einer schmalen, malerischen Gasse, entstanden einige Häuser in alter Pracht: das Hotel Ambos Mundos, in dem Ernest Hemingway »Wem die Stunde schlägt« schrieb, oder das Restaurant »Las Minas«.
Der laufende Fünf-Jahres-Plan sieht Ausgaben von 30 Millionen Dollar zur
Restaurierung weiterer 44 Baudenkmäler vor. Die Kubaner hatten zunächst auf finanzielle Unterstützung durch die Unesco gehofft, doch die politischen Kontroversen um diese Organisation und ihren Generaldirektor Amadou M'Bow haben diese Aussicht zerschlagen. Acht Millionen Dollar wollte die Unesco einmal für das Projekt Alt-Havanna beisteuern, bis heute hat sie nur ein paar Experten aus Italien und Spanien geschickt.
So pumpen sich die kubanischen Stadtsanierer Mittel und Geld aus anderen Gegenden zusammen. Mexiko und Nicaragua liefern Holz, denn Holz ist knapp auf Kuba, seit die Spanier die Wälder der Insel fällten, um ihre Schiffe zu bauen. Polen richtete eine Tischlerei ein, Libyen, Algerien, Marokko und Syrien schickten Teppiche, Möbel, Kupfer- und Messinggeschirr für das maurische Museum. Selbst das bettelarme Vietnam hat Unterstützung zugesagt.
Die seit dem Wiederaufbau von Berlin-Mitte und der Dresdener Semperoper restaurationserprobte DDR hilft mit Fachleuten, die Bundesrepublik leistet mit Farbe und Chemikalien »einen wichtigen Beitrag«, wie Felipe Velasco dankbar mitteilt.
Alt-Havanna soll, wenn es wiedererstanden ist, »ein lebendiges Denkmal« sein, betont Velasco: »Wir wollen keine Stadt zum Anschauen, sondern eine, in der die Menschen leben.«
Mag sein. Doch der alte, zweigeschossige spanische Wohnpalast mit dem schönen, von Kolonnaden gerahmten Innenhof in der Calle del Obispo ist zwar sorgfaltig restauriert, aber nur im Parterre, wo »Las Minas« jetzt mit Delikatessen lockt.
In den beiden oberen Etagen sind die einst bunten »vitrales« entweder trübe oder längst zerbrochen, die Arkadenbögen mit Balken gegen Einsturz gesichert. Dort wohnen nicht weniger als 19 Familien - nicht ein Handgriff wurde bisher getan.