BUNDESPRÄSIDENT Lebendiges Ganzes
Am vorletzten Sonntagmorgen zeigte sich Walter Scheel noch gewohnt heiter. Nach Lektüre eines ihm vorab zugestellten SPIEGEL-Artikels über das präsidiale Amtsverständnis erläuterte er wohlgelaunt einem frühen Besucher, dem Bonner Korrespondenten der »Süddeutschen Zeitung«, Klaus Dreher, die dort beschriebene »Kunst, bis an die Grenze zu gehen«.
Verwundert fragte er nur, warum die Sonntagszeitungen nicht aufgegriffen hätten, was sein Staatssekretär Paul Frank dem SPIEGEL über die vermeintliche Fülle der präsidialen Befugnisse ausgebreitet hatte.
Doch kaum hatte der Besucher die Villa Hammerschmidt verlassen, wurde es ernst. Ein Telephongespräch mit Bundeskanzler Helmut Schmidt ließ den Präsidenten ahnen, daß die freimütigen Bekenntnisse Franks eine Verfassungskrise auszulösen drohten. Denn der Regierungschef machte klar, daß er an den in mehr als 25 Jahren gewachsenen Rechten seines Amtes nicht rütteln lassen wolle.
Genau dies aber war die Quintessenz der Überlegungen Franks wie auch der Tenor eines Gutachtens, das der hauseigene Ministerialdirigent Paul Döring unter dem Datum des 19. Juli 1976 verfertigt hatte. Der Präsident kann danach, wenn er seine ihm vom Grundgesetz gegebenen Kompetenzen voll ausschöpft, einen weit über die bisherige Praxis hinausgehenden Einfluß nicht nur im Bereich des Auswärtigen, sondern auch in der Innenpolitik beanspruchen -- ungeachtet der Richtlinienkompetenz des Kanzlers.
Am Telephon zeigte sich Schmidt über die neuesten Denkspiele im Präsidialamt äußerst verärgert, zumal er bei jüngsten Gesprächen über die -- von Scheel aus verfassungsrechtlichen Gründen abgelehnte -- Wehrdienstnovelle den Eindruck gewonnen hatte, der Präsident sei sich der herkömmlichen Grenzen seines Amtes wohl bewußt und auch bereit, sie zu respektieren. Nun aber lehrte der SPIEGEL-Artikel den Kanzler, daß der Nachbar in der Villa Hammerschmidt hochfliegende Pläne aus der Frühphase seiner Amtszeit keineswegs begraben hat, ja zur Machtprobe entschlossen schien.
Als der gewiefte frühere FDP-Chef jedoch das volle Ausmaß der Verärgerung Schmidts erkannte, steckte er schnell zurück: Er habe weder von dem Frank-Gespräch mit dem SPIEGEL-Korrespondenten noch vom Gutachten seines Hauses gewußt, versuchte er den Kanzler zu beruhigen.
Ähnliches beteuerte Scheel gleichentags auch gegenüber Hans-Dietrich Genscher, seinem Nachfolger im Amt des FDP-Vorsitzenden und des Außenministers. Mehr noch: Wenn nötig und wenn die Herren es wünschten, so ließ er gegenüber Schmidt und Genscher durchblicken, sei er auch bereit, seinen Staatssekretär zu opfern.
An einer solchen Dramatisierung aber war den beiden Führern der sozialliberalen Koalition nicht gelegen. Sie wollten nur die Gelegenheit nutzen, Scheels Ausdehnungsgelüste möglichst ein für allemal zu zügeln. Das Ergebnis der sonntäglichen Telephonate: Frank sollte beim Kanzler antreten und klärende Anmerkungen zu der SPIEGEL-Enthüllung machen; das Präsidialamt sollte die Affäre in einer öffentlichen Erklärung nach dem in Bonn üblichen Schema F herunterspielen.
Entsprechend hieß es dann in der Pressemitteilung des Präsidialamtes: »Aus teils zutreffenden, teils sinnentstellenden oder falschen Zitaten, die in dem Artikel dem Chef des Bundespräsidialamtes zugeschrieben werden, ist eine Tendenz entstanden, von der sieh Staatssekretär Frank auf das entschiedenste distanziert.« Überdies habe es sich um ein »Hintergrundgespräch« gehandelt, das ohne Scheels Wissen und ohne Abstimmung mit ihm geführt worden sei. Zugleich wurde Franks Rücktritts-Angebot mitgeteilt, das der Präsident aber abgelehnt habe.
Von Journalisten befragt, mochte das Präsidialamt nicht kundtun, welche -- in der Tat korrekt wiedergegebenen -- Frank-Zitate »zutreffend« und welche »sinnentstellend« oder gar »falsch« seien. Schon gar nicht war auszumachen, inwiefern die Tendenz des Artikels den durch zahlreiche Beispiele belegten Intentionen des Präsidenten und seines Amtsgehilfen widersprechen solle (siehe auch Seite 22).
Auch die Präsidialrüge, der SPIEGEL beziehe sein Wissen aus einem »Hintergrundgespräch«, habe mithin eine vereinbarte Vertraulichkeit gebrochen, ist nicht gerechtfertigt. In der Tat war das Gespräch zwischen dem Staatssekretär Dr. Paul Frank und dem Bonner SPIEGEL-Korrespondenten Dr. Paul Lersch am 21. Oktober zunächst als »Hintergrundgespräch« anberaumt worden. Am Ende des Gesprächs jedoch, an dem auch der Pressereferent des Bundespräsidenten, Jürg Ter-Nedden, teilgenommen hatte, bat der Journalist den Staatssekretär, aus der Unterhaltung zitieren zu dürfen, weil die präsidialen Ambitionen in indirekter Rede nicht so präzise umrissen werden könnten wie mit den Worten Franks selber. Nach einigem Zögern stimmte der Staatssekretär zu.
Schließlich ist auch der gewollte Eindruck, als distanziere Scheel sieh in der Sache von seinem Gehilfen, irreführend. In dem Sonntagsgespräch mit Korrespondent Dreher bekannte sich der Präsident zu Franks Auskunft, er sei gewillt, mehr Einfluß als seine Vorgänger auf die Bonner Politik auszuüben. Nur das allzu laute Nachdenken monierte Scheel: »Ein Politiker manifestiert sich nicht in seinen Worten, sondern in seinen Taten.«
Folgerichtig hatte der Kanzler noch letzte Woche Anlaß zu neuer Verärgerung. Bei Lektüre des Entwurfs einer Rede, die der Präsident zum 25jährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe halten wollte, stellte Schmidt fest, daß die von Frank vorgezeichnete Linie in einigen Passagen den bis dahin fehlenden präsidialen Segen erhalten sollte. Sofort ließ er den Präsidenten wissen, was da zu lesen sei über die »Pflicht« eines jeden Verfassungsorgans, »die ihm zustehenden Kompetenzen voll auszuschöpfen«, und anderes mehr, bestätige die Besorgnisse, die der SPIEGEL-Artikel geweckt habe.
Ein paar der Kanzler-Monita nahm sich Scheel zu Herzen, als er am Buß- und Bettag seine Rede redigierte. Den Satz über die volle Ausschöpfung der Kompetenzen aber ließ er stehen. Und auch was er am letzten Donnerstag in Karlsruhe auf die ihm eigene vieldeutige Art sonst noch sagte, läßt darauf schließen, daß Scheel seine Ambitionen keineswegs verabschiedet hat.
So konzediert er zwar, jeder Politiker dürfe nur innerhalb der ihm von der Verfassung gesetzten Grenzen handeln. Diese aber sei »ein lebendiges, organisches Ganzes« -- Frank hatte von den »beweglichen unsichtbaren Grenzen« gesprochen.
So stellt Scheel zwar fest, die Bundesregierung sei »höchster Repräsentant des Gesamtstaates ... insofern er sich als politisch handelnder Staat begreift«. Zugleich aber schränkt er ein, kein Verfassungsorgan »ist dem anderen über- oder untergeordnet« -- und wehrt damit, wie sein Gutachter Döring, eine für ihn verbindliche Richtlinienkompetenz des Kanzlers ab.
So spricht er einerseits von der »Selbstbeschränkung"« verlangt andererseits aber »Rücksichtnahme« -- genau wie Döring, der den Rat des Präsidenten gar für »so gewichtig« wie den »Gebrauch einer verfassungsrechtlich bestehenden Kompetenz« hält und daraus schließt, die Beachtung dieses Rats sei einklagbar.
Die Bonner jedenfalls gewannen nach Scheels Karlsruher Interpretationen den Eindruck, daß sich der Präsident auch nach Franks vorlauter Grenzerkundung keineswegs geschlagen gibt. Sie fürchten sogar mehr. Ursprünglich hatte Scheel unter der Hand seine Absicht verbreiten lassen, 1979 nicht für eine zweite Amtszeit zu kandidieren, sondern an die Spitze einer weltweiten Stiftung zu treten, deren Aufgabe es sein werde, in internationalen Konflikten zu vermitteln -- also eine Art Welt-Ombudsman zu werden.
Nun rechnen die Bonner Regenten damit, daß Scheel ihnen als Bundespräsident erhalten bleibt -- für die Zeit nach 1979, in der seine Freidemokraten über einen Frontwechsel zur Union entscheiden müssen.