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Lebensborn hinter Tudor-Zinnen

SPIEGEL-Redakteur Joachim Hoelzgen über Patrick Steptoe und seine Klinik für Retortenbabys *
Von Joachim Hoelzgen
aus DER SPIEGEL 3/1986

Das 1200 Seelen-Dorf Bourn in der Grafschaft Cambridgeshire wirkt mit seinen Cottages und Backsteinhäusern wie eine verschlafene Enklave aus dem 19. Jahrhundert - kaum zu glauben, daß sich auf einer Anhöhe am Dorfrand das Weltzentrum für künstliche Befruchtung etabliert hat.

Hier, am Ende einer Auffahrt, die vom Pub »Goldener Löwe« abzweigt, gebieten die In-vitro-Pioniere Dr. Patrick Steptoe, 72, und Mitforscher Robert Edwards, 60, wie Edelmänner über die Bourn Hall Clinic, eine Art Mekka hilfesuchender Unfruchtbarer.

Das Hauptquartier der beiden Ärzte verblüfft seine Besucher, von denen manche glauben, sich in der Adresse geirrt zu haben. Nichts Antiseptisches scheint hier zu lauern. Bourn Hall ist einer der ältesten Herrschaftssitze Cambridgeshires. Seine Zinnen und Mäuerchen wurden im 17. Jahrhundert vom Uralt-Geschlecht der Delawares errichtet; ein unternehmungslustiger Earl der Sippe ging durch Exkursionen in der Kolonie Amerika in die Geschichte ein, da sogar ein US-Staat nach ihm benannt wurde.

Heute parken vor dem Anwesen die Jaguar-Limousinen und Range Rover von Patienten wie blecherne Zellklumpen um den brandneuen Mercedes 380 SE des Hausherrn Steptoe. Der Luxus in den Kamin-Salons entspricht dem edelster Landhotels: schneeweiße, reichverzierte Stuckdecken, getäfelte Wände aus fast schwarz verfärbtem Eichenholz, ausladende Sessel und Sitzecken in den bunten Blumenmustern Laura Ashleys.

Steptoe und Edwards, denen die Anerkennung durch das englische Establishment bis heute versagt geblieben ist - keiner der beiden wurde zum Ritter geschlagen -, haben sich, Bourn Hall sei Dank, ein Denkmal geschaffen.

In Steptoes Konsultationszimmer zieht der wuchtigste und älteste Kamin des Hauses, erbaut 1647, die Blicke der Besucher auf sich. »Bourn Hall«, sagt der Hausherr, »ist ein idealer Platz, er erinnert keinen an ein Krankenhaus.«

Steptoe schätzt die Nähe zu den Patientinnen. Die sitzen gleich nebenan in der Empfangslounge und in den angrenzenden Kaminräumen und stricken Strampelanzüge, beseelt von der Hoffnung, der Doktor werde es schon richten. Auch Inderinnen und Pakistanerinnen warten dort; sie haben die Gucci-Taschen neben ihren Sesseln abgelegt und werden begleitet von ihren aufstrebenden Ehemännern aus Mittelklasse-England, die sich in die »Financial Times« vertiefen. Die Arbeiterklasse ist ebenfalls vertreten, ein Ehepaar aus Bradford etwa, er Lastwagenfahrer, sie Hausfrau, der staatliche Gesundheitsdienst erstattet die Behandlungskosten.

Doktor Steptoe, ein weißhaariger Gentleman mit angenehmer Stimme und auffallend gepflegten Händen, deutet die Anziehungskraft Bourn Halls, mit britischem Understatement, aus Zahlensäulen und Statistik-Kurven.

Von insgesamt 2000 Retortenbabys, die bisher weltweit erzeugt wurden, stammen 530 aus den Petri-Schalen Bourn Halls, referiert er. Die Photos von mehr als 100 kerngesund aussehenden Babys, übersandt von dankbaren Eltern, hat er auf einer Pinnwand aufgespießt. Neben dem Schreibtisch hängt ein Farbbild, das ihn und eine Frau zeigt, die sich laut Steptoe »ganz besonders für unsere Arbeit interessiert": Prinzessin Anne, Mutter von zwei natürlich gezeugten Kindern und eine, wie der Arzt findet »sehr bemerkenswerte Frau«.

In Steptoes schönem Lebensborn gibt es keine störenden Labors und Untersuchungsräume. Die moderne Welt der Zuchttechnik erhebt ihr baulich, häßliches Haupt am Rand des Parkplatzes, wo der Arzt ein Labyrinth aus hellgrauen Fertig-Flachbauten errichten ließ. Hinter den Fenstern hantieren Laborantinnen blaue Chirurgenmasken vor Mund und Nase, mit Phiolen und Inkubatoren. Andere inspizieren Eizellen und Samenfäden.

Mit der Selbstsicherheit des ärztlichen Pioniers zerstreut Steptoe Anwürfe von Kritikern, die in den Baracken-Labors alchimistischen Horror vermuten. »Den finsteren Mediziner gibt es nicht«, verkündet Steptoe mit dem glasklaren Tonfall eines Nachrichtensprechers der BBC. »Für alles, was die künstliche Befruchtung angeht, gibt es triftige medizinische Gründe.«

Ist es aber nicht doch denkbar, daß seine Forschungen mal ausufern könnten - bis hin zur Aufzucht von kompletten Babys außerhalb des Mutterleibes? »Nein«, antwortet Steptoe, für den die Frage »keine Relevanz« besitzt. Das kann nie bewerkstelligt werden, das ist schlicht Science-fiction, viel zu teuer. Frauen sind und bleiben kostenmäßig die preiswertesten Inkubatoren.«

Weit ist es in den Labors von Bourn Hall schon gekommen. »Schon bald«, kündigt der Arzt an, sei die Geschlechtsbestimmung in der Petri-Schale möglich, erkennbar an der DNS von Mini-Embryos, denen am zweiten oder dritten Lebenstag »nur ein bis zwei Zellen« zur Prüfung entnommen werden müßten.

»Hoffentlich«, wünscht Steptoe, »klappt es mit dem Verfahren schnell.« Skrupel beschleichen ihn dabei nicht. Steptoe: »Das 'sexing' darf nur zulässig sein, um geschlechtsbedingte Erbkrankheiten zu vermeiden, etwa Muskelschwund und Hämophilie bei Knaben.«

Der Engländer hätte es ganz gern, Zweifel an dem forscherischen Tun mit

Hilfe eines Regelwerks zu dämpfen. »Die Ethik«, formuliert er, »sollte international sein.« Schon haben er und Dr. Edwards eine »Europäische Gesellschaft für künstliche Befruchtung« ins Leben gerufen; eine »World Agency« zur Beobachtung von Retorten-Babys soll ihr folgen.

Steptoes Leistungswille und Enthusiasmus auch im Alter erklären sich mit dem Ehrgeiz eines Mannes, dem der Zweite Weltkrieg wichtige Entdeckerjahre raubte. An Bord des Zerstörers »Hereward« war Steptoe Mannschaftsarzt, als die Briten Kreta evakuierten. Der Zerstörer wurde versenkt, weil ein deutscher Stuka-Bomber seine Bombe direkt in den Schiffsschornstein placierte.

Steptoe wurde von einer italienischen Fregatte aufgefischt und verbrachte drei Jahre als Kriegsgefangener im Land Mussolinis. Damals habe er gelernt, »Ausdauer und Hartnäckigkeit als Werte zu schätzen«. Das galt auch für eine Art von Studium generale, das er mit anderen Gefangenen wie zum Beispiel Chemikern und Biologen absolvierte. »Wir hatten in dem Camp«, so Steptoe rückblickend, »praktisch eine Universität.«

Wann immer Steptoe später Zweifel am Erfolg überkamen, rief er sich die Zeit der Gefangenschaft ins Bewußtsein. Für Fatalismus blieb auch kein Raum, nachdem er sich als Gynäkologe niedergelassen und festgestellt hatte, daß jedes dritte Ehepaar, welches in seine Praxis kam, unfruchtbar war. Steptoe sann auf Abhilfe: »Ich begann mit Frauen, deren Eileiter hoffnungslos verklebt waren. Man hatte ihnen gesagt: 'Sorry, wir können da nicht helfen, Sie sind steril.' Ich mochte mich damit nicht abfinden.«

35 Jahre später hat es Steptoe erstmals auch geschafft, fortpflanzungsbehinderten Männern beizustehen. Geholfen wird in Bourn Hall solchen Anwärtern auf Vaterschaft, die zu wenige oder nur Spermien produzieren, die Steptoe »lethargisch« nennt. Steptoe vermengt die Minderzahl von Spermien mit der Eizelle und schafft es so »in 20 Prozent der Fälle«, aus Gehandikapten Kindsväter zu machen.

Die Pille für den Mann scheint da nur einen Katzensprung entfernt. Akribisch untersucht die Crew von Bourn Hall befruchtete Eizellen, um die Wirkungsmechanismen der »binding« genannten Verschmelzung von Eizelle und Samenfäden zu untersuchen. Gelegentlich klappt es schon, mit Hilfe eines Wirkstoffes das binding zu unterbinden.

Experimente mit Embryos unterliegen in Bourn Hall einer Art freiwilliger Selbstkontrolle. Steptoe und Edwards brechen neun Tage nach der künstlichen Befruchtung alle Versuche ab, obschon eine englische Regierungskommission und die ehrwürdige British Medical Association eine 14-Tage-Frist für zulässig erklärten. Die Beschränkung auf neun Tage hat aber auch technische Gründe. Steptoe: »Danach steigt der Energiebedarf der Embryos rasch an.«

Den Experimentatoren fällt es noch recht schwer, in dieser Phase den Säuregrad in der Nährlösung der bauchförmigen Brutapparate zu bestimmen. Auch der osmotische Druck und die exakte Balance des Molekulargewichts erfordern höchste Aufmerksamkeit, »damit«, so Steptoe, »die Zellen nicht bersten«. Weiter seien da schon die Australier, die im Tierversuch Embryos in ihren Inkubatoren rotieren ließen, um die Zentrifugalkräfte zur Lösung der einschlägigen Probleme heranzuziehen.

Verfeinert wurde in den Labors von Bourn Hall immerhin das Einfrieren von Embryos - in flüssigem Stickstoff und bei einer Temperatur von minus 200 Grad.

Diese Technik wurde notwendig, um Möchtegern-Müttern Ersatz-Embryos, sogenannte »spares«, anbieten zu können - für den Fall, daß die erste Einpflanzung befruchteter Eier erfolglos verlaufen sollte. Steptoe und Edwards entnehmen den Frauen normalerweise bis zu 15 Eier, belassen es aber beim Wiedereinpflanzen bei zweien, um dadurch das Risiko von Zwillings- oder Drillingsgeburten zu verkleinern. Doch selbst bei dem einen Eierpaar, so lehrt inzwischen die Statistik, kann in 20 Prozent aller Fälle mit Zwillingen gerechnet werden.

Das Einfrieren der Ersatzteil-Embryos geschieht im Alter von zwei bis fünf Tagen, wobei Steptoe einräumt, das optimale Alter bisher nicht zu wissen: »Man muß vor allem aufpassen, daß beim Tiefgefrieren die Zellflüssigkeit nicht mitvereist.« Hin und wieder klappt es aber schon. Sechs tiefgefrorene Embryos, in Bourn Hall aufgetaut und den Ei-Spenderinnen implantiert, machten ihre Empfängerinnen mittlerweile schon zu Müttern, deren Früchte aus der Kälte kamen.

Die moralischen Wirkungen der Tiefgefrier-Technik bereiten Steptoe, trotz der Triumphe, einiges Kopfzerbrechen. Im Einverständnis mit Forschungskumpan Edwards beläßt er es bei maximal zwei Jahren Gefrierzeit. Die Möglichkeit, daß ein Elternteil bei längerer Lagerzeit der Embryos gestorben sein könnte, dünkt ihn andernfalls zu groß.

Auch der Wunsch überlebender Eltern, die Embryos am Ende gar nicht wieder aufgetaut haben zu wollen, spielt bei der Beschränkung auf zwei Jahre eine Rolle. Doch womöglich unerwünschte Embryos würden zumindest den Bourn-Hall-Ärzten nicht verlorengehen. »Sie würden«, sagt Steptoe, als sei es eine tröstliche Mitteilung, »Forschungszwecken zur Verfügung stehen.«

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