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TODESSTRAFE Legales Blutbad

Gary Mark Gilmore, der seine Erschießung fordert, ist nur einer von vielen zum Tode Verurteilten in den USA. 423 warten auf ihre Hinrichtung.
aus DER SPIEGEL 48/1976

Große Trauer sei unter den Pilgervätern von Plymouth ausgebrochen, so berichtet ein Chronist, als sie am 30. September 1630 einen der ihren wegen Mordes aufgeknüpft hatten.

Es war die erste Hinrichtung unter den Neusiedlern. Und sie paßte nicht zu ihrem Eigenbild vom Häuflein Auserlesener, das ein »neues Jerusalem« gründen wollte.

Knapp 350 Jahre später haben die Amerikaner weniger Skrupel: Im frommen Mormonenstaat Utah bewarben sich mehr als zwei Dutzend Bürger darum, den Doppelmörder Gary Mark Gilmore erschießen zu dürfen, der nach dieser einzig in den USA nur in Utah geübten Hinrichtungsart am 15. November hätte sterben sollen.

Gilmore wollte selber »wie ein Mann« sterben. Als seine Rechtsanwälte gegen seinen Willen Hinrichtungsaufschub erzwangen, unternahm er in der vorigen Woche einen Selbstmordversuch. Aber die Ärzte retteten Gilmores Leben -- vielleicht nur für das Erschießungskommando, das nach dem alttestamentlichen Motto richten soll: »Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll auch durch Menschen vergossen werden.«

Es ist ein atavistischer Grundsatz, der in anderen modernen Staaten der Welt abgeschafft wurde. In den USA dagegen sanktionierte ihn in diesem Jahr der Oberste Gerichtshof ausdrücklich. Er befand am 2. Juli mit sieben gegen zwei Stimmen, daß die Todesstrafe nicht verfassungswidrig sei: »Es ist eine extreme Strafe, die den extremsten aller Verbrechen angemessen ist.

Vier Jahre vorher hatte der Oberste Gerichtshof schon einmal zum Thema Todesstrafe gesprochen. Niemand dürfe mehr hingerichtet werden, befanden die Richter damals, solange die Maßstäbe für die Verhängung der Todesstrafe in den einzelnen Bundesstaaten so unterschiedlich, so »unberechenbar« und »willkürlich« seien.

Damit war freilich nur die formale Verhängung, nicht aber das Prinzip der Todesstrafe in Frage gestellt. Und um die verlangten Verbesserungen mühten sich die Gesetzgeber dann mit großem Elan: 35 Bundesstaaten erließen zwischen 1972 und 1976 neue Gesetze, die Todesstrafe für Mörder vorsahen; der Kongreß verabschiedete ein Todesstrafengesetz für Flugzeugentführer, deren Aktionen Menschenleben kosten.

All dieses hätten die Bundesrichter im Juli immer noch vom Tisch fegen können, wenn sie die Todesstrafe zu

* Die Scharfschützen, hinter einer Holzblende, sind für die Zeugen nicht sichtbar

einer »grausamen und unbarmherzigen« Strafe erklärt hätten, die im achten Verfassungszusatz verboten wird.

Aber eben dies fand das seit den Ernennungen durch die Präsidenten Nixon und Ford merklich nach rechts gerückte Richterkollegium nicht: Für besonders sträfliche Vergehen »gegen die Menschheit« könne die Todesstrafe durchaus die »einzig angemessene Reaktion der Gesellschaft sein«.

Die Bundesrichter erklärten zwar die Gesetze von North Carolina und Louisiana für verfassungswidrig, weil sie die darin vorgesehene obligatorische Todesstrafe für bestimmte Verbrechen für zu schematisch hielten. Dagegen billigten sie die Gesetze von Georgia, Florida und Texas ausdrücklich, die eine Art Mehrstufensystem darstellen:

Nachdem das Gericht den Angeklagten schuldig gesprochen hat, muß es vor der Strafbemessung mildernde und erschwerende Umstände abwägen. Einer dieser erschwerenden Umstände muß die Festsetzung der Höchststrafe rechtfertigen. Schließlich muß das Oberste Gericht des Staates das Urteil noch bestätigen. Im Rahmen eines solchen Verfahrens ist die Todesstrafe in 28 amerikanischen Bundesstaaten legitimiert worden.

Seitdem müssen 423 Todeskandidaten mit der Hinrichtung rechnen, und obwohl es für etliche noch Aufschubmöglichkeiten gibt, sind die Aussichten schockierend: Wenn im nächsten Jahr nur die 163 Verurteilten in Georgia, Florida und Texas hingerichtet würden, wäre das, so der »Christian Science Monitor«, ein »legales Blutbad«.

Es wären fast so viele Hinrichtungen in einem Jahr wie in den Jahren 1960 bis 1967 zusammen. Als letzter zum Tode Verurteilter war am 2. Juni 1967 der Spanisch-Amerikaner Louis Jose Monge in Colorado in der Gaskammer hingerichtet worden.

Mit ihrer Sanktionierung der Todesstrafe fanden sich Amerikas oberste Richter durchaus im Einklang mit der öffentlichen Meinung. 65 Prozent der Amerikaner hatten im April dieses Jahres in einer Gallup-Umfrage die Todesstrafe für Mord befürwortet -- das war der höchste Prozentsatz innerhalb der letzten 25 Jahre.

Viele Amerikaner sind vor allem deshalb für die Todesstrafe, weil sie sieh durch die hohe Zahl von Gewaltverbrechen bedroht fühlen und von Hinrichtungen eine abschreckende Wirkung erhoffen. Die aber ist mehr als zweifelhaft. Gegner der Todesstrafe argumentieren, sie habe in den USA nicht nur eine strafrechtliche Funktion, sondern auch eine politisch-soziale.

Die Todesstrafe, so die Bürgerrechtsorganisation NAACP, sei zu einem »extremen und sinnlosen Akt der Abschlachtung« geworden, »verhängt über eine kleine Gruppe von Ausgestoßenen«. Diejenigen, die sterben müßten, seien in der Regel »arm, machtlos ... und in überproportional großer Zahl auch schwarz«.

So sind seit 1908 im Bundesstaat Virginia nur Schwarze wegen Vergewaltigungen hingerichtet worden, obwohl fast ebenso viele Weiße wegen des gleichen Delikts verurteilt wurden.

Und während sie nur zwölf Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind unter den 423 Todeskandidaten, die jetzt in amerikanischen Gefängnissen auf ihre Hinrichtung warten, 179 Schwarze -- das sind 42 Prozent.

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