TODESSTRAFE Legales Blutbad
Noch auf dem elektrischen Stuhl beteuerte der Verurteilte seine Unschuld am Tod des Polizeioffiziers. Dann durchfuhren, am letzten Mittwoch im Januar, 2000 Volt eineinhalb Minuten lang den Körper des 33jährigen. Ein Arzt bestätigte den Tod des Gefangenen. Demonstranten vor dem Staatsgefängnis von Florida klatschten Beifall.
»Wenn das Tempo vom Januar anhält«, schrieb die »International Herald Tribune«, werde das »legale Blutbad« überschwappen; 60 Hinrichtungen werde es dann allein in diesem Jahr in amerikanischen Gefängnissen geben. Über 70 Prozent der US-Bevölkerung haben sich bei einer kürzlich veranstalteten Umfrage für die Todesstrafe ausgesprochen - fast doppelt soviel wie 1966. Zwei Drittel der Befragten glaubten, Hinrichtungen würden auf potentielle Straftäter abschreckend wirken.
Zweifel an der Präventivwirkung von Todesurteilen haben jetzt amerikanische Wissenschaftler erneut aufgrund einer umfangreichen Studie vorgetragen: Zum erstenmal legten die Soziologen Dane Archer und Rosemary Gartner von der University of California in Santa Cruz eine international vergleichende Langzeituntersuchung über Gewaltverbrechen vor. Fazit: Der Abschreckungseffekt der Todesstrafe sei »wissenschaftlich nicht haltbar«.
In mehr als zehnjähriger Arbeit haben die Wissenschaftler Daten aus 110 Ländern und 44 Großstädten der Welt zusammengetragen (die meisten Ostblockländer verweigerten die Mitarbeit). Das überwältigende Zahlenmaterial verknüpften Archer und Gartner zu einer Kriminalstatistik ("Comparative Crime Data File"), die Verbrechensdaten vom Anfang des Jahrhunderts bis zum Jahre 1974 enthält. _(Dane Archer, Rosemary Gartner: »Violence ) _(& Crime in Cross-National Perspective«. ) _(Yale University Press, New Haven und ) _(London; 344 Seiten; 30 Dollar. )
Die Datenbank soll Forschern Aufschlüsse über die Ursachen von Gewalt und Kriminalität liefern. Sie könnte aber auch die Diskussion um die Todesstrafe neu entfachen: Die Häufigkeit von Mord und Totschlag, so fanden die Soziologen bei einer Auswertung aller Vergleichszahlen für 14 Länder, nimmt keineswegs zu, wenn die Todesstrafe abgeschafft wird - im Gegenteil.
Eine sogar »brutalisierende« Wirkung der Todesstrafe hatten Wissenschaftler schon 1980 in einer Langzeitstudie für die Jahre von 1907 bis 1963 am Beispiel des US-Bundesstaates New York festgestellt.
Durchschnittlich zwei Gewaltverbrechen mehr registrierten sie jeweils im Folgemonat nach einer Hinrichtung.
Zu ähnlichen Ergebnissen kamen unlängst Soziologen der University of California in San Diego. Bei der Auswertung der amerikanischen Kriminalstatistik von 1973 bis 1979 waren sie auf einen deutlichen Anstieg der Schwerverbrechensrate jeweils in den ersten vier Tagen nach einem in den Medien breit geschilderten Gewaltschauspiel gestoßen, einem Boxkampf beispielsweise.
Mehr als 50 Prozent der US-Bundesbürger würden, wie eine Gallup-Umfrage im Januar zeigte, die Todesstrafe auch dann beibehalten wollen, wenn deren Abschreckungswert eindeutig widerlegt würde. Die Stimmung ist beeinflußt von der in den USA unvergleichlich hohen Kriminalitätsrate.
Bis Mitte der 60er Jahre, so ermittelten die Soziologen Archer und Gartner, war die Häufigkeit von Gewaltverbrechen in den Vereinigten Staaten seit den 30er Jahren kontinuierlich gesunken. Doch dann gab es einen dramatischen Wandel: Zwischen 1963 und 1973, so fanden die Wissenschaftler heraus, verdoppelte sich die Zahl der Kapitalverbrechen. Jedes Jahr gibt es in den USA rund 23 000 Mordfälle. Allein in der New Yorker U-Bahn wurden im letzten Jahr 14 500 Gewaltverbrechen gezählt - durchschnittlich 40 am Tag.
Zwischen 1966 und 1970 betrug die durchschnittliche Tötungsrate in Frankreich 0,45 pro 100 000 Einwohner, in Paris 0,61. In Westdeutschland war sie etwa doppelt so hoch. Für Amerika erreichte sie den 14fachen, für New York den 46fachen Wert. Selbst 1971, in der blutigsten Phase des nordirischen Bürgerkriegs, war dort die Gewaltrate nicht höher als in Amerika.
»Unsere Rate für Mord- und Totschlagsdelikte ist, verglichen mit der anderer Industrieländer, astronomisch«, resümierten die Amerikaner Archer und Gartner. »Es gibt wenige soziale Indikatoren, die die Vereinigten Staaten so schlecht aussehen lassen, wie die Zahlen über Gewaltverbrechen.«
Auch die Orte, an denen Gewalt in Amerika besonders gedeiht, machten die Wissenschaftler mit Hilfe der Vergleichsstudie aus: in den südlichen Bundesstaaten, in den großen und mittleren Städten und, überraschenderweise, auf dem Land.
Keinen Beleg fanden sie für die bislang geläufige Annahme, daß das Ausmaß der Gewalt zwangsläufig mit der Größe der Städte wächst. Bei der Langzeitanalyse von 34 Hauptstädten verzeichneten sie ebensooft eine Zunahme wie ein Nachlassen der Gewaltkriminalität. So sank beispielsweise in Tokio die Mordquote, bezogen auf die Bevölkerungszahl, seit Anfang der 50er Jahre deutlich: Sie war schon 1972 zehnmal so niedrig wie in New York.
Auf den Krieg als Vater der Gewalt stießen die kalifornischen Wissenschaftler gleichfalls mit den Mitteln der Statistik: In allen Nationen, die - gleich ob als Sieger oder Besiegte - an militärischen Auseinandersetzungen beteiligt waren, stieg jeweils in der Nachkriegszeit die Zahl der schweren Verbrechen - »am meisten in Ländern mit einer großen Zahl von Gefallenen«.
Das staatlich »sanktionierte Töten«, so die Interpretation der Soziologen, wirkt in Friedenszeiten nach.
Dane Archer, Rosemary Gartner: »Violence & Crime in Cross-NationalPerspective«. Yale University Press, New Haven und London; 344Seiten; 30 Dollar.