Legenden vom Tigris
Der 9. Februar 2003: Es war der Tag, an dem ich nach Bagdad kam, um zu warten. Ob der Krieg sich noch abwenden lassen würde. Oder ob der Angriff der Koalitionstruppen käme. Knapp vier Wochen dauerte es - dann, nach dem letzten Bericht des Waffeninspektors Hans Blix vor dem Uno-Sicherheitsrat, war mir klar, dass der Krieg unmittelbar bevorstand.
Die Warnungen westlicher Botschaften, alle Ausländer sollten das Land verlassen, wurden jetzt mit jedem Tag eindringlicher. In der deutschen Vertretung an der Saadun-Straße, einer gelbgetünchten Villa aus den vierziger Jahren, residierte der Missionschef Claude Robert Ellner. Alle paar Tage rief er die deutschsprachigen Korrespondenten zusammen und informierte uns über die bevorstehende Evakuierung der Vertretung. Die Botschaft war unmissverständlich: Wenn wir weg sind, dann seid ihr hier auf euch allein gestellt.
Etwa zwei Wochen vor Kriegsausbruch saß zum ersten Mal ein Mann dabei, den wir vorher noch nie gesehen hatten, etwa 40 Jahre alt, untersetzt, mit Brille. Ellner stellte ihn kurz vor, allerdings ohne Namen: Das sei einer von zwei Mitarbeitern, die voraussichtlich bleiben würden, um die Botschaft zu bewachen.
Viele von uns horchten auf: Die Botschaft hatte einen Bunker, Wasser- und Lebensmittelvorräte, das hatte man uns in den Wochen vorher gezeigt. Auch wenn der Botschafter gehen würde, wäre also in den Kriegstagen jemand da. Vielleicht konnte ich ja doch bleiben. »Man wird keinen wegschicken, der mitten im Krieg an der Tür klingelt«, sagte Ellner.
Der neue Mann und sein Kollege, etwas jünger, waren nicht besonders gesprächig. Sie hielten sich aber auch nicht von den Journalisten fern - was man von hochrangigen Geheimdienstleuten angenommen hätte. Sie hatten lupenreine Legenden: »Botschaftsmitarbeiter«, »Sicherheitsleute«, offiziell akkreditiert bei Saddams Außenminister Nadschi Sabri.
Beim letzten Treffen vor der Evakuierung am 17. März zog Ellner sein Versprechen dann aber zurück, im Notfall könnten Journalisten noch in der Botschaft unterschlüpfen. Niemand werde dort bleiben, auch die beiden neuen Mitarbeiter nicht. Das Gebäude werde vollständig geräumt.
Und tatsächlich: Am Morgen des 17. März, drei Tage vor dem ersten Bombenangriff auf Bagdad, verließ der deutsche Botschaftskonvoi die irakische Hauptstadt Richtung Amman. Die beiden »Sicherheitsleute« hatten die Abreise arrangiert; sie waren die Treppen zum Sekretariat rauf- und runtergerannt, hatten das Satellitenfernsehen verfolgt, das in der Empfangshalle lief. Kurz darauf fuhren sie in einem gepanzerten Mercedes-Geländewagen voran, Botschafter Ellner, ein deutsches Ehepaar und etliche Journalisten in den anderen Wagen hinterher.
Doch ein paar Kilometer westlich von Bagdad zog der Mercedes plötzlich rechts an den Rand, der Konvoi stoppte. Einer der beiden Sicherheitsleute stieg aus, ging zum Wagen des Botschafters, verabschiedete sich. Dann fuhren die beiden davon.
Die Männer blieben offenbar doch in Bagdad - wo genau, mit welchem Auftrag, dazu sagte Ellner nichts. Für uns sah es einfach nur so aus, als hätten die beiden Sicherheitsleute den Botschaftskonvoi bis an die Stadtgrenze von Bagdad eskortieren sollen. Nun, so schien es, war ihr Auftrag, die deutschen Liegenschaften in Bagdad zu bewachen.
Erst am 21. April traf ich sie wieder. So wie zahlreiche öffentliche Gebäude war auch die deutsche Botschaft ausgeplündert worden. Ich fuhr hin, um mir die Verwüstung anzusehen.
Draußen stand derselbe Mercedes, der vier Wochen vorher den Konvoi angeführt hatte. Hinter dem Eingangstor staksten, zusammen mit der zurückgekehrten Botschaftssekretärin, die beiden Männer durch das Chaos. Das Haus war zerstört, der Krieg vorbei, die Stimmung gelöst, die Männer schilderten freimütig ihre Version der letzten Kriegstage.
Bis kurz vor dem Ende, so erzählte der jüngere der beiden Beamten, hätten sie in
der meterhoch mit Sandsäcken verbarrikadierten Botschaft ausgeharrt und über Satellitenfernsehen den Vormarsch verfolgt. Am Morgen des 8. April, einen Tag bevor die Amerikaner in die Stadtmitte vorstießen, habe dann plötzlich Saddams Polizei die Wache vor der Botschaft abgezogen. Weil nun jeder mit dem Beginn der Straßenkämpfe im Zentrum rechnete, hätten sich die beiden Deutschen abgesetzt - »in das Privathaus eines Botschaftsmitarbeiters«, wie der Jüngere der beiden sagte.
Dass sie sich zu diesem Zeitpunkt in der französischen Botschaft aufgehalten haben sollen, wie amerikanische Quellen heute behaupten - davon kein Wort. Auch nicht davon, dass einer der beiden am Tag vor ihrem Abzug aus der Botschaft ans andere Tigrisufer gefahren sei, um im Mansur-Viertel einen angeblichen Aufenthaltsort Saddam Husseins auszuspionieren.
Am 9. April, einem Mittwoch, fiel Bagdad. Erst am Morgen darauf, so erzählten mir die beiden Beamten elf Tage später, seien sie zur Botschaft zurückgekehrt. Dort wütete bereits der Mob. »Wir kamen etwa eine halbe Stunde zu spät«, sagte der Jüngere. »Die Leute hatten als Erstes eine Klimaanlage im Erdgeschoss gestohlen. Durch das Loch in der Wand sind sie dann in das Gebäude hinein.«
Als die beiden Männer die Sirene ihres Dienstwagens angestellt und in die Luft gefeuert hätten, seien Dutzende Plünderer mit ihrer Beute durch das Loch wieder aus dem Gebäude herausgekrochen. Besonders ein etwa sechsjähriges Mädchen sei ihnen aufgefallen, mit einem riesigen Computermonitor in den Händen: »Die Kleine dachte, sie hätte den ersten eigenen Fernseher ihres Lebens. Sie machte nicht den Eindruck, als hätte sie ein schlechtes Gewissen dabei.«
Sie hätten sich entschieden, die Botschaft nicht zu verteidigen, so der jüngere Beamte. »Alle Wertsachen und wichtigen Papiere waren vorher schon weggebracht worden. Wir wollten uns nicht für eine Kaffeemaschine in einen Schusswechsel verwickeln lassen.«
War das wirklich alles? Die ganze Geschichte? Unklar blieb, was genau die Aufgabe der beiden Deutschen in den vorangegangenen Tagen gewesen war. Am 20. April 2003, einen Tag bevor ich sie traf, hatten sie jedenfalls noch eine unbestritten patriotische Tat vollbracht: Sie hissten die schwarz-rot-goldene Fahne über dem Trümmerhaufen, der von der deutschen Botschaft übriggeblieben war.
»Das war ein Akt, für den wir keine Erlaubnis aus Berlin eingeholt haben«, sagte einer der beiden Beamten. »Wir hatten ein paar Reservefahnen zurückgelegt. Nur für den Notfall.«