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KRIMINALITÄT Leichen im Keller

Im Kardiologenskandal kommen jetzt die Krankenkassen in Bedrängnis. Verantwortliche Funktionäre haben offenbar mit den Ärzten gekungelt.
Von Georg Mascolo und Milena Pieper
aus DER SPIEGEL 50/1997

Die Männerrunde traf sich, ganz diskret, im beschaulichen Siegburg - im Haus des Verbandes der Angestelltenkrankenkassen (VdAK) in der Frankfurter Straße 84. Dorthin hatten die Spitzenmanager der Kassen ihre niedersächsischen Funktionäre zum Rapport einbestellt.

So richtig harmonisch ging es nicht zu. Hinter verschlossenen Türen fielen böse Worte: Von Schlamperei, Inkompetenz und schwerwiegenden Versäumnissen war die Rede. »Unglaublichen Dilettantismus« machte der Verwaltungsratsvorsitzende des AOK-Bundesverbands, Peter Kirch, im Medizinwesen zwischen Harz und Nordsee aus.

Eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft Hannover hatte die grobe Abrechnung ausgelöst. Im vergangenen Monat erstatteten die Spitzenverbände gegen 30 deutsche Herzspezialisten Strafanzeigen wegen Betrugs (SPIEGEL 48/1997). Doch jetzt stehen Mitarbeiter der Kassen im dringenden Verdacht der Kumpanei mit den Abzockern.

Den Versicherern dämmert jetzt, daß ihr Versuch, Betrug und Selbstbedienung im Gesundheitswesen auszumerzen, nicht nur die Ärzte treffen wird. »Wir kommen«, ahnt ein Spitzenfunktionär, »nicht ungeschoren davon.«

Da hat er wohl recht. Die Verwalter von jährlich immerhin rund 265 Milliarden Mark Patientengeldern müssen fürchten, wegen grober Versäumnisse bei der Aufsichtspflicht gemaßregelt zu werden. Schlimmer noch: Systematischer Betrug soll vertraglich sanktioniert worden sein. Jetzt drohen Ermittlungsverfahren gegen Kassenverantwortliche.

Dabei haben die Versicherer den ersten Schlag selbst geführt. In einer bisher beispiellosen Revision kontrolliert eine Taskforce der Kassen flächendeckend die Abrechnungen eines ganzen Berufsstands. Approbierte Abkassierer quer durch alle Branchen sollen jährlich nach Schätzungen der Krankenversicherer einen »Schaden im Milliardenbereich« anrichten.

Die Stabsaktion der Kassen begann in Niedersachsen. Seit Ende des vergangenen Jahres ermittelt die Staatsanwaltschaft Hannover aufgrund einer Strafanzeige von AOK und VdAK gegen den Kardiologen Klaus Fischer. Der Doktor steht im Verdacht, durch 100maligen Betrug die Kassen um einen zweistelligen Millionenbetrag geprellt zu haben. Der Arzt bestreitet die Vorwürfe.

Im Pilotfall Fischer lassen sich wie unter einem Mikroskop der Irrsinn des Gesundheitssystems und die Versäumnisse der Kassen betrachten. Ärztliche Leistungen werden nach einem auch für Insider kaum durchschaubaren System vergütet, das nur scheinbar bundesweit einheitlich ist.

Tatsächlich aber sind Regeln keine Regeln, weil jeder Landesverband einer jeden Kasse Dutzende von Zusatzvereinbarungen, Ausnahmebestimmungen und Nebenabsprachen mit den Doctores getroffen hat. Was der AOK Rheinland als korrekte Abrechnung gilt, kann also bei der AOK Westfalen schon wieder ganz anders zu beurteilen sein.

Daß es im Gesundheitsgewerbe keine Grundsätze gibt, erfuhr die Abteilung Organisierte Wirtschaftskriminalität der Staatsanwaltschaft Hannover Ende vergangenen Monats am Beispiel Fischer.

Fast die Hälfte des ermittelten Schadens soll durch eine einfache Verschiebung von Patienten zwischen Krankenhaus und Praxis entstanden sein. Während Fischer die Herzkranken tatsächlich in der Klinik behandelte, habe er Rechnungen für weit teurere ambulante Eingriffe vorgelegt.

Gegen alle Verträge und die rechtlichen Bestimmungen habe Fischer damit gehandelt, erklärten AOK und VdAK Niedersachsen unisono der hannoverschen Staatsanwaltschaft. Denn der Paragraph 33 des einschlägigen »Bundesmantelvertrages Ärzte/Ersatzkassen« unterscheide eindeutig zwischen ambulanter und stationärer Behandlung. Sonderabsprachen, die Fischers Praktiken decken könnten, bestünden nicht.

Im November tauchten dann plötzlich für das Verfahren brisante Gesprächsvermerke auf. Am 7. Oktober 1992 hatte Fischer Vertretern der niedersächsischen Krankenkassen seinen Behandlungsmix ausführlich erläutert. Teil seines geplanten »Leistungsspektrums«, dozierte der Kardiologe, sei die ambulante Behandlung infarktbedrohter Patienten mittels Kathetereingriffen. »Aus medizinischen Erfordernissen« wolle er allerdings die frisch Operierten noch mindestens »eine Nacht zur Beobachtung ins Krankenhaus« verlegen.

Ausweislich der Protokolle erhoben die Unterhändler keine Einwände. Und das, obwohl Fischers Methode nach Überzeugung der Kassenoberen nicht nur gegen die Bundesregelung verstößt, sondern auch unnötige Millionen kostete.

Den Versicherern ist der Fall nun furchtbar peinlich. Wie die Staatsanwaltschaft hatten zuvor auch die Spitzenverbände die niedersächsischen Kollegen penibel nach derlei Sonderregelungen abgefragt. Ergebnis: Alles in Ordnung, nichts bekannt. »Das müssen wir jetzt intern gründlich aufklären«, gesteht der Justitiar des VdAK, Horst Rehkopf.

Einfach wird das nicht. Denn der Feldzug gegen die Ärzte ist intern durchaus umstritten, da etliche Funktionäre von vornherein Konsequenzen auch für sich fürchteten. Denn den Kassen wird es schwerfallen zu erklären, daß ihnen die massenhafte Abzockerei bei den Abrechnungen unbekannt war. Rehkopf räumt ein: »Ein Betrogener ist immer selbst mit schuld.«

In wie vielen weiteren Fällen die Kassen mit Kardiologen und anderen Medizinern insgeheim unwirtschaftliche oder juristisch heikle Nebenabsprachen ausgekungelt haben, ist unbekannt. Ein hessischer Kassenfunktionär ahnt Schlimmes: »Das ist unser Leichenkeller.«

Daß manchem der niedersächsischen Funktionäre die Akte 224 Js 11299/97 offenbar zu heiß wurde, bemerkte die Staatsanwaltschaft Hannover schon im Oktober. Irritiert informierte sie die Spitzenverbände der Kassen, daß der Landesvorsitzende des VdAK, Jörg Niemann, darauf gedrängt habe, »daß die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren einstellen möge«. Die Kassen würden ihre detaillierte Anzeige gegen Fischer ohnehin zurückziehen.

Die Ermittler, die nach monatelangen Recherchen bereits »Lücken und Schwachstellen im Abrechnungswesen allgemein« auf der Spur waren, witterten sogar Sabotage. Sie monierten, daß die ihnen zugewiesenen Gutachter vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen systematisch mit anderen Aufträgen eingedeckt würden. Es dränge sich der Verdacht auf, heißt es in ihrer Beschwerde, »daß auf diesem Wege« die Ermittlungen »verzögert oder blockiert« werden sollten. Niemann bestreitet die Vorwürfe.

Seit die Kassen Front gegen die Ärzte machen, geloben alle Verantwortlichen im Gesundheitsgewerbe eilig Besserung. Daß das sieche System nicht funktioniert, sei doch längst jedem klar gewesen.

Rainer Hess, Geschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, verlangt forsch eine grundlegende Neuordnung des Abrechnungswesens: »Unser Vergütungssystem ist anfällig für Manipulationen, und das wollen wir ändern.« Auch Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer drängt auf neue Prüfverfahren. »Wir können nicht zur Tagesordnung übergehen«, empört sich der CSU-Mann.

Das will auch Gernot Kiefer, Chef der Kassenermittler, nicht. Kiefer realistisch: »Wir kriegen Schrammen ab, das müssen wir aushalten.«

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