RICHTER Leicht abgeschüttelt
Hilferufe einer Frau schrecken die Anwohner der Robert-Mayer-Straße im schwäbischen Nürtingen aus dem Schlaf; in den Reihenhäusern gehen nachts gegen drei die Lichter an. Vom Balkon ruft jemand »Aufhören!«
Doch der Mann, der da in der Nacht zum 22. September am Straßenrand auf seine Freundin einschlug, weil sie ihn verlassen wollte, hörte nicht auf. Und als er ihr »drohte, daß er sie totschlagen werde« (Polizeibericht), lief der Beobachter, bewaffnet mit einer Pistole, vom Balkon hinunter und gab einen Warnschuß ab.
Der Schläger ließ von seinem Opfer ab und wandte sich dem Schlichter zu. Der drückte noch zweimal ab: Erst traf er die Wade, dann streckte er den nächtlichen Störer mit einem Bauchschuß nieder.
Der Schlichter von Nürtingen ist ein ganz besonderer Täter. Der Schütze heißt Ulrich Berroth, 53, ist Richter am Oberlandesgericht Stuttgart und hat als Beisitzer im Baader-Meinhof-Prozeß amtiert. Zur Zeit nimmt er in Stammheim am Verfahren gegen den RAF-»Aussteiger« Peter-Jürgen Boock teil. Nun müssen seine Kollegen von der Stuttgarter Staatsanwaltschaft klären, ob der Jurist in Notwehr gehandelt oder überreagiert hat.
Berroths besondere berufliche Stellung erklärt, warum der Jurist so schnell eine Waffe zur Hand hatte: Staatsanwälte und Richter, die wegen ihrer Teilnahme an Prozessen gegen Terroristen der Rote-Armee-Fraktion gefährdet scheinen, dürfen - zum Schutz vor Racheakten - eine Dienstwaffe tragen. Sie sind im Schießen auch ausgebildet.
Daß die Waffe des Richters nun nicht gegen einen Terroristen, sondern gegen einen enttäuschten Liebhaber losging, macht den Fall erst recht problematisch. Juristisch geklärt werden muß jetzt, ob der Pistoleneinsatz angemessen oder gar zwingend geboten war. Die »Stuttgarter Nachrichten« notierten schon kritisch, in der Bevölkerung werde »gerätselt«, warum der Richter »so schnell zur Waffe gegriffen« habe.
Unbestreitbar stand Berroth vor einer verzwickten Güterabwägung: Hätte er überhaupt nicht eingegriffen, wäre ihm womöglich unterlassene Hilfeleistung vorgeworfen worden. Nun muß er sich für die Schüsse, die sein Opfer lebensgefährlich verletzt haben, verantworten und findet sich damit unversehens in einer Situation, die er und andere Strafrichter täglich zu beurteilen haben.
Die Tat von Nürtingen könnte, einerseits, sowohl ein versuchter Totschlag als auch fahrlässige Körperverletzung gewesen sein. Andererseits will die Staatsanwaltschaft in Stuttgart, die gegen Berroth ein Ermittlungsverfahren eingeleitet hat, erst einmal klären, »ob der Richter in Nothilfe oder Notwehr gehandelt hat«.
Diese beiden Begriffe umschreiben eine Situation, in der sich der Schütze tatsächlich befunden haben könnte. Nach deutschem Strafrecht handelt jedenfalls derjenige »nicht rechtswidrig«, so der Rechtsprofessor Theodor Lenckner, der »sich gegen einen rechtswidrigen Angriff wehrt (Notwehr) oder einen rechtswidrigen Angriff von einem anderen abwehrt (Nothilfe)«.
Allerdings verlangt die Rechtsprechung auch, daß »die Verteidigung nach Art und Maß das relativ mildeste Gegenmittel« sein müsse. In Sachen Berroth ist mithin zu prüfen, ob der dritte, lebensgefährliche Bauchschuß gegen einen unbewaffneten, bereits verletzten Gegner wirklich die angemessene Verteidigung war. Zweifelhaft ist schon jetzt, ob eine etwaige Fehleinschätzung der Bedrohung, die Laien bei sogenannten Notwehr-Exzessen meist zugute gehalten
wird, auch für einen erfahrenen Richter gelten kann.
Den Richter Berroth plagen solche Selbstzweifel offenbar nicht. Während sein Opfer noch in Lebensgefahr schwebte, nahm der Jurist am Dienstag letzter Woche seinen gewohnten Platz im Stuttgarter Boock-Verfahren ein.
Der Schütze hinter dem Richtertisch wirkte nicht bedrückt, zumindest hatte er sich gut in der Gewalt. Prozeßbeteiligte hatten den Eindruck, daß er das tragische Geschehen »ziemlich leicht abgeschüttelt zu haben schien«. Boock-Verteidiger Heinrich Hannover: »Als er in der Pause den Saal verließ, war er heiter und locker wie immer.«
Vor der Sitzung hatten die Verteidiger sorgfältig geprüft, ob sie Berroth wegen Befangenheit ablehnen sollten. Im Boock-Prozeß, in dem auch der Umgang mit Waffen eine Rolle spielt, könnten Berroths Schießkünste durchaus »geeignet« sein, »Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit« des Richters zu rechtfertigen (Paragraph 24 der Strafprozeßordnung). Hannover verzichtete aber auf einen Antrag, weil er nicht den Eindruck erwecken wollte, »als ob wir unser Süppchen an dem Unheil eines Richters kochen wollen«.
Ob Berroth selbst seine Verstrickung auch als Unheil empfindet, war ihm nicht anzumerken. Von der Möglichkeit, sich selbst für befangen zu erklären, machte er jedenfalls keinen Gebrauch. Und auf den naheliegenden Gedanken, sich einen Schock attestieren und krankschreiben zu lassen, war er auch nicht gekommen.