Zur Ausgabe
Artikel 22 / 97

Abtreibung Leicht übergangen

Beim Ausbau der Schwangerschaftsberatung in der Ex-DDR bevorzugt Bonn konservative Organisationen.
aus DER SPIEGEL 17/1991

Für Präservative, Diaphragmen oder Spiralen im Osten fühlt sich Bundesfamilienministerin Hannelore Rönsch nicht zuständig. Das erfuhr Pro-Familia-Mitarbeiterin Andrea Kocaj, die in ihrer geplanten Chemnitzer Beratungsstelle nicht nur Schwangere beraten, sondern auch über Verhütungsmittel aufklären will.

Als die Ost-Frau finanzielle Förderung für die neue Beratungsstelle beantragte und dabei auch noch die Anschaffung eines gynäkologischen Stuhls verlangte, wurde ihr von der zuständigen Bearbeiterin Karin-Renate Quessel mitgeteilt: »So was braucht eine Beratungsstelle nicht.« Der Antrag wurde abgelehnt.

Im Hinblick auf die Reformierung des Paragraphen 218 möchte Bonn im deutschen Osten lieber solche Beratungsstellen installiert wissen, die der konservativen Regierungslinie näherstehen als Pro Familia. Die Organisation hat sich in Bonn mit ihrer rigorosen Ablehnung des Paragraphen unbeliebt gemacht.

Wie Andrea Kocaj geht es allen 25 Pro-Familia-Mitarbeitern im Osten, die für die Einrichtung von Beratungsstellen kämpfen. »Eine regelrechte Ausgrenzungspolitik betreiben die in Bonn«, beklagt Vorstandsmitglied Elisabeth Lutz.

Im Familienministerium wird zur Zeit das Gebiet der früheren DDR unter den Organisationen, die für Schwangerschaftsberatung zuständig sind, aufgeteilt. Da es kein Bundesberatungsgesetz gibt, sondern nur vage Richtlinien, kann Pro Familia leicht übergangen werden: Von den bisher errichteten 69 Beratungsstellen sind 49 kirchlichen Trägern zugeschlagen worden, 20 gingen an kommunale Träger. Pro Familia bekam bei dieser ersten Runde nichts.

Zu einer zweiten Verteilungsrunde kam es bislang nicht, weil - peinlich genug - der Bundesfinanzminister den angekündigten »zügigen« Aufbau von mindestens 220 Beratungsstellen (eine Fachkraft pro 40 000 Einwohner) in der Ex-DDR nicht finanzieren wollte. Beim monatelangen Hickhack um 15 Millionen für den Aufbau blieben 147 Anträge auf der Strecke.

Per Verwaltungsvereinbarung einigte man sich jetzt: Vom 1. Mai an übernimmt der Bund 90 Prozent der Kosten, die restlichen 10 Prozent werden von den neuen Ländern getragen. Damit sind die Länder ihre Geldsorgen, aber auch ihre Mitbestimmung los.

Welche Beratungsstelle wohin kommt, bestimmen die Bonner. Bei der Entscheidung bezieht sich das Familienministerium auf eine Formulierung im Einigungsvertrag, ohne sie wörtlich zu nehmen. Darin hatte man sich, im Vorgriff auf eine neue Entscheidung über den Abtreibungsparagraphen, darauf geeinigt, zunächst Beratungsstellen in der Ex-DDR einzurichten. Der Aufbau in den neuen Ländern soll laut Artikel 31 des Einigungsvertrages »ein flächendeckendes Netz von Beratungsstellen verschiedener Träger« garantieren.

Wie »verschieden« diese Träger sind, zeigt das Beispiel Sachsen. Dort wurde aus Bundesmitteln ein Netz von Beratungsstellen des Deutschen Roten Kreuzes aufgebaut; auch die katholische Caritas wurde gut bedacht. Frank Kroschel, Pro-Familia-Mitarbeiter in Leipzig, kann sich nur wundern: »Wir haben in Sachsen nur drei Prozent Katholiken - die Frauen gehen da doch nicht zur Caritas.«

Dreimal hat der gelernte Psychotherapeut seinen Antrag auf wenigstens eine Pro-Familia-Beratungsstelle in ganz Sachsen erneuern und verbessern müssen ("Ich hab' so was als DDR-Bürger doch noch nie gemacht"). Nun hat seine Hartnäckigkeit Erfolg. Voraussichtlich im Mai entsteht in Leipzig die erste Beratungsstelle der in Bonn unbeliebten Gesellschaft für Sexualberatung.

Im Westen verfügt sie über 120 Beratungsstellen. 60 Prozent aller Frauen mit einer ungewollten Schwangerschaft gehen zu Pro Familia. Von Lebensschützern wird der Organisation deshalb immer wieder vorgeworfen, sie rate Frauen zu selten und nicht nachdrücklich genug zur Fortsetzung der Schwangerschaft.

Auch Joachim von Baross, der West-Verantwortliche für den Pro-Familia-Ost-Aufbau, bekommt die Abneigung zu spüren. Nur bei der Beratung von ungewollt Schwangeren werde »voll gepowert«, beklagt er. »Wenn man die Beratung den konservativen Organisationen überläßt, werden Ost-Frauen eher verunsichert als beraten.«

So wünschen es sich die Bonner. Schließlich hatte Bundeskanzler Helmut Kohl nach der Wahl dafür gesorgt, daß in wichtigen Ämtern - von Frauenministerin Angela Merkel bis zur Fraktions-Arbeitsgruppenvorsitzenden - nur erzkonservative Frauen sitzen (SPIEGEL 11/1991).

Wenn der Paragraph 218 über einseitige Beratungsangebote im Osten konservativ angewandt werden soll, bleibt kein Pfennig übrig für Aufklärung, Verhütungs- und Familienplanungsberatung. So erfuhr die Bundestagsabgeordnete Monika Ganseforth (SPD) auf ihre kleine Anfrage, ob Geld dafür gar nicht vorgesehen sei, von Familienstaatssekretärin Roswitha Verhülsdonk: »Für die Finanzierung sexualpädagogischer Beratung vor Ort zur Verhütung von ungewollten Schwangerschaften hat der Bund keine Förderungskompetenz.« Beraten wird also erst, wenn es zu spät ist. o

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 22 / 97
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten