»LEIDER IST SIE NICHT TOT ...«
Sie heirateten am 20. Mai 1965. Sie waren damals 26 und 21 Jahre alt. Konrad Hanzlicek und Sieglinde Wendel heirateten, weil sie sich liebten.
Daß sie sich liebten, wie man mit 26 und 21 Jahren die Liebe versteht, darf niemand ihnen vorwerfen. Die Frage, wen der Mensch liebt, wenn er einem anderen sagt, er liebe ihn, mußte für sie keine Frage sein.
Doch nun findet ihrer Liebe wegen ein Strafprozeß statt. Und wir, die wir zuzuschauen und zuzuhören meinen -- befinden uns in Wahrheit mitten in diesem Strafprozeß.
Diese Hauptverhandlung verfolgt uns. Es schreibt sich das nicht leicht hin: doch diese Hauptverhandlung lehrt uns die Furcht, daß wir den anderen, den wir lieben sollten, zu spät lieben.
Zu spät schrieb Konrad Hanzlicek den folgenden Brief; einen Brief, den man kaum lesen, geschweige denn drucken mag. Doch dieser Brief muß gedruckt und gelesen werden. Er wurde am 24. Juni 1968 an Sieglinde Hanzlicek, geborene Wendel gerichtet, nur an sie. Doch heute wird gegen Konrad Hanzlicek verhandelt, und das heißt, reden wir nicht drumherum: gegen uns alle.
Gegen uns alle: denn wem unterläuft nicht, was er in vollem Bewußtsein zu tun meint; was er zu tun und zu sagen meint -- was ihm jedoch nur unterläuft. Der Brief hatte folgenden Wortlaut:
»Mein geliebtes (die Koseform der Anrede lassen wir aus)! Darf ich Dich überhaupt noch so nennen? Ich finde keine und mir fehlen einfach die Worte, Dir das alles zu erklären. Ich selbst kann es einfach nicht fassen, was mich dazu bewegt hat, Dir so etwas anzutun. Bitte verzeih Du mir, aber Du sollst wissen, daß ich Dich mehr als alles in der Welt liebe und Dich immer lieben werde. Die Schande, die ich Dir, Deinen Eltern und meinen Angehörigen angetan habe, ist einfach unfaßbar. Heute frage ich mich immer warum. Du hast meinetwegen sehr, sehr viele Schmerzen ausgehalten, und ich weiß nicht, wie ich dies an Dir wieder gut machen werde oder kann. Wie gern wäre ich jetzt bei Dir und würde Dir alles erklären und für Dich alle Schmerzen auf mich nehmen. Bitte liebes ... ich bitte Dich um Verzeihung, daß ich Dir das angetan habe. Hoffentlich wirst Du bald gesund und hast keine Schmerzen mehr. Viele Grüße Dein Dich liebender Conny.«
Der Mann, der am 24. Juni 1968 aus der Untersuchungshaft alle Schmerzen auf sich nehmen möchte, der Sieglinde Hanzlicek, seiner Ehefrau, schreibt, daß er sie mehr als alles in der Welt liebt -- hat dieser seiner Frau, welche nuancierenden Tatsachen ein Gericht auch feststellen wird, die Schmerzen zugefügt, ärger noch: zufügen lassen, mit denen sie darniederliegt. Und er hat ihr auch, entgegen seinen Beteuerungen (oder genauer: vor diesen, bevor sie aus ihm hervorbrachen), einen Beweis von Haß geliefert, wie er sich gräßlicher kaum denken läßt.
Sieglinde Hanzlicek liegt, als sie diesen Brief bekommt, im Krankenhaus. Sie ist in der Nacht vom 10. auf den 11. Juni 1968 von fünf Schüssen fast auf den Tod getroffen worden, nachdem sie den ihr und ihrem Mann gehörenden Wagen in der Tiefgarage bei der gemeinsamen Wohnung abgestellt hatte. Sieglinde Hanzlicek hat durch diese Schüsse ein Kind verloren, das sie wenige Wochen später geboren hätte. Und die fünf Schüsse sind, wie auch immer im Detail, auf Veranlassung ihres Ehemanns auf sie abgegeben worden.
Ist dieser Brief also nichts als gemeinste Verlogenheit, als die rüde Leistung eines Burschen, der seiner Schuld zu entrinnen sucht? Es wäre -- fast wäre es angenehm, wenn der zitierte Brief dies und nichts anderes wäre. Man könnte ihn abtun, ihn einem »Tier in Menschengestalt« zur Last und damit zu den Akten legen. Doch der Mensch ist, wo immer er von Liebe spricht (und also auf dem Weg ist, zu lieben, aber noch fern vom Ziel), kein Wesen, für das es einen Schlüssel gibt, sondern unentschlüsselbar und darum jedermann ein Unbekannter -- vor allem sich selbst. Dieser Brief ist, ärger als wenn er eine sorgsam bedachte Lüge wäre, die reine Wahrheit.
Konrad Hanzlicek liebt seine Frau, nun, da es selbst nach dem großmütigsten menschlichen Ermessen zu spät ist. Er schreibt über einen Abgrund hinweg. Er schreibt in der Verzweiflung, in der nur jener schreiben kann, der weiß, daß er nach menschlichem Ermessen vertan hat, was hätte sein können; was vielleicht sogar hätte sein sollen. Wir haben diese Situation einmal in Lengede erlebt, als Bergleute unter Tag verschüttet waren. Da waren es die Frauen droben über Tag, die in einem Übertragungswagen ans Mikrophon traten, um mit ihren Männern unter Tage zu sprechen; die in Sekunden zu sagen versuchten, was sie nie zu sagen gewußt hatten, als noch viel Zeit gewesen wäre, es zu sagen: daß ich dich mehr als alles in der Welt liebe und dich immer lieben werde.
Die Frauen von Lengede hatten noch eine Hoffnung, und der Himmel oder wer auch immer erfüllte sie ihnen. Konrad Hanzlicek schrieb am 24. Juni 1968 aus einem Abgrund, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint.
Die Geschichte von Konrad Hanzlicek handelt von der Eifersucht. Über die findet sich in kaum einem Wörterbuch der Psychologie eine Erklärung. Es findet sich kein Wort in Kröners »Wörterbuch der Psychologie«, im Wörterbuch Kurt v. Surys gerade der Satz: »Intensiver Gefühlskomplex aus Angst, etwas zu verlieren, oder aus gierigem Besitzanspruch.« Selbstverständlich haben es andererseits die Seelenkundigen an anderer Stelle nicht an Erwägungen fehlen lassen.
Der Psychiater Nikolaus Petrilowitsch etwa spricht in seinem Buch »Abnorme Persönlichkeiten« von der »,Paranoia' des schlechten Gewissens. Die Erwartung oder die Überzeugung selbst Unrecht zu erleiden, korreliert gar nicht einmal selten mit dem Bewußtsein freilich abgedrängten Wissens, selbst im Unrecht zu sein und anderen Unrecht zuzufügen.« Kluge, anregende Worte, die allerdings, angesichts des Falls Hanzlicek, nur von Macht und Ohnmacht des Definierens künden.
Später spricht man lächelnd, nachsichtig oder mit dem melancholischen Stolz des Überlebenden von der Eifersucht; wie einer, der einen Krieg überstanden hat. Doch die Eifersucht kann so verblendend zuschlagen wie keine andere Gewalt. Und keine definitorische Bemühung ist fähig, sie in ein Verhältnis zum Begriff »Neid« zu setzen, das sie allein dem Eifersüchtigen und keinem anderen als ihm zur Last legt. So bekennt man sich erst zur Eifersucht, wenn man sie überstanden hat. Konrad Hanzlicek jedoch -- hat die Eifersucht nicht überlebt.
Er wurde am 3. Juli 1938 in Trzynietz in Schlesien geboren. Ein weicher, schlesischer und unentschiedener Eichendorff-Ton färbt seine Stimme noch heute. Der Vater war Lebensmittelkaufmann und starb 1957 an einem Speiseröhrenkrebs. Die Mutter war krank ihr Leben lang und lebt noch heute. Sein Vater sei nie, für sein Empfinden, ein Freund gewesen, erinnert sich Konrad Hanzlicek. Strenge, Anspruch, Befehl waren seine Erziehung. Damit soll nichts gegen die gelegentliche Notwendigkeit von Strenge, Anspruch und Befehl gesagt sein. Es soll im Fall Hanzlicek bitte nicht erst der Verdacht aufkommen, hier werde frühkindliches Erleben unbillig zur Entlastung späteren Versagens herangezogen.
Doch Hanzliceks noch lebende Mutter ist nicht nur streng gewesen. Sie stand dem Leben puritanisch gegenüber, nicht erst heute, nicht erst jetzt, zu einer Zeit, in der es leicht fällt, Anschauungen wie ihre als puritanisch zu empfinden. Von Konrad Hanzlicek ist berichtet worden, er habe nahezu einen Sauberkeitskomplex. Ohne jeden Willen, ihn zu entlasten (denn was ihn entlastet, geht zu unseren Lasten): es leuchtet ein, daß Ordnung, Verhältnisse, wie man sie »geregelt« zu nennen pflegt, und »strebsamer« Fleiß des Lebens Höchstes waren, wie es ihm anerzogen wurde.
Er hat eine ältere Schwester, eine jüngere Schwester und als jüngsten der Familie einen Bruder. Er besuchte die Volksschule in Schlesien, kam 1945 ins Lager, danach, unter Schlägen, in eine tschechische Schule. Schließlich fand die Familie in Kempten im Allgäu eine neue Heimat, wo der Vater für Verpflegungslager der Amerikaner arbeitete. 1952 zog man nach Frankfurt. Dort begann Konrad Hanzlicek 1953 eine Lehre als Spitzendreher, die er 1956 mit der Gesellenprüfung abschloß. Doch das war nicht genug für ihn, für die Leistungsforderung, die man in ihm angelegt hatte.
Er war immer wieder bemüht, sich fortzubilden. Doch das hieß für Ihn eben leider eher »Hinauferreichen« als Fortbilden ... Er besuchte eine private Ingenieurschule und beendete sie mit dem Ausbildungsstand eines Technikers. Er hat eine Handelsschule besucht, eine Abschlußprüfung gemacht und eine Prüfung als Kaufmann abgelegt. Er war rastlos, was den Aufstieg angeht. Konrad Hanzlicek hat kein düsteres, aber ein dürres Leben gehabt als Kind und junger Mensch. Erst als Konrad Hanzlicek heiratete, zog er aus der Wohnung seiner Mutter aus. Er kannte Sieglinde Hendel flüchtig schon als Kind. Im November 1962, sie war aus Amerika zurückgekommen, traf man sich zufällig auf einem Schulbau. Konrad Hanzlicek begann, sich um Sieglinde Hendel zu bemühen. Sie habe mit beiden Beinen auf der Erde gestanden, hat er sich später erinnert. Und das darf man wohl dahin deuten, daß sie ihm nicht nur wegen ihrer unübersehbaren äußeren Vorzüge gefiel, sondern auch ihrer Haltung zum Leben halber.
Sie wollte nach Frankreich. Er redete es ihr aus. Sie ging in die Schweiz. Er brachte sie hin, besuchte sie und machte Urlaub mit ihr. Sie kam nach Frankfurt zurück, arbeitete eine Weile in der Werkstatt ihres Vaters. Sie ist ein Mensch, der immer etwas findet: Arbeit, Menschen, Aufgaben. Sie ist kontaktfähig. Sie weiß sich auszudrücken. Er hingegen -- ist 1,82 Meter groß und wiegt weniger, als er sollte. Er hat es schon immer mit dem Magen gehabt. Kontakt findet er schwer; am leichtesten dort, wo alles klar ist; wo er sich auf einem Platz in einer Hierarchie befindet. Zuletzt ist er technischer Bauleiter gewesen, also genau an seinem Platz und darum tüchtig und anerkannt.
Konrad Hanzlicek will nicht nur, er braucht Ordnung. Doch das Mädchen, das ihn im Mai 1965 heiratet -- hat kurz zuvor genau die Tätigkeit gefunden, die seinem zu Bindung und Unabhängigkeit begabten Naturell entspricht. Es ist Bodenstewardeß bei der TWA geworden. Je nun -- er ist einverstanden gewesen. Sie hat sich ja dazu überreden lassen, immerhin am Boden zu bleiben. Doch sie ist nun in ihrem Element -- und hat einen Mann, den dieses Element einschüchtert, ängstigt, mißtrauisch macht. Der ihrer Fähigkeit, sich in diesem Element zu bewegen, ratlos gegenübersteht -- und schließlich meint, diese Fähigkeit sei nicht ohne Preisgabe, ohne Lüge. ohne Betrug möglich. Daß sie so anders ist als er, hat ihn angezogen
Als seine Frau ihm sagt, daß sie ein Kind erwartet, schlägt etwas über ihm zusammen. Ist er der Vater des Kindes? Wäre er klar und nicht schon tief drinnen in der Eifersucht: er würde sich fragen, ob ihn nicht in Wahrheit beschäftigt, was für ein Nebenbuhler dieses Kind sein kann. Die Chiffre für den Versuch, aus dem gleichzeitigen Angezogen- und Abgestoßensein heraus zur Liebe zu gelangen, lautet im Fall Hanzlicek »Eifersucht«. Es versteht sich, daß diese Eifersucht, was Sieglinde Hanzliceks Verhalten angeht, völlig unbegründet ist. Dennoch ist sie nicht ohne jeden Sinn, ob sie nun einen »Krankheitswert« hat, den der Jurist anerkennt, oder nicht.
Zwei Geschworene des Gerichts über Hanzlicek und den Türken Gebes, den Mann, der sich überreden ließ, zu schießen und der vielleicht nicht begriffen hat, daß er schließlich nicht mehr schießen sollte ("Leider lebt sie noch«, soll Hanzlicek, Gebes zufolge, nach den fünf Schüssen gesagt haben) -- zwei Geschworene dieses überaus beanspruchten Gerichts gehören auch dem Schwurgericht in einem Euthanasie-Prozeß in Frankfurt an. Die Hanzlicek-Verteidiger Steinacker und Eggert lehnen diese Geschworenen ab.
Man kann nicht zugleich als Laie in einem Gericht einen seit Mitte vergangenen Jahres andauernden Euthanasie-Prozeß auf das Urteil hin zusammenfassen und eine Stimme haben, wie sie auch in Frankfurt schon dazu beitrug, die Berufsrichter zu überstimmen: und dazu auch noch über einen Türken sitzen, den ein gewisses schlechtes Gewissen zum Opfer seines deutschen Vorgesetzten zu stilisieren bereit ist -- und über einen Mann wie Konrad Hanzlicek. Das Gericht lehnt den Befangenheitsantrag ab.
Verteidiger Steinacker: »Eine einmalige Gelegenheit ist versäumt worden.« Man hat versäumt, etwas gegen den immergrünen Verdacht zu tun, die Justiz drehe und wende alles nach ihrem Belieben. Was nicht ausdrücklich verboten ist, ist zulässig. So argumentiert sonst die Kundschaft der Justiz. Die Hanzlicek-Verteidiger haben nunmehr die drei Berufsrichter abgelehnt. Bis darüber entschieden ist -- man hat am 8. Mai zuletzt zur Sache verhandelt -- dürfte die zulässige Unterbrechungsfrist verstrichen sein. Wir werden weiter berichten.