Kurdenhilfe Leises Sterben
Das Protokoll vermerkte fünfmal: »Beifall im ganzen Hause.« Hans-Dietrich Genscher, wegen seiner Sprachlosigkeit im Golfkrieg in der Koalition häufig kritisiert, konnte zufrieden sein.
Schneller als die Amerikaner, schneller auch als sein Kanzler hatte der Außenminister gemerkt, daß die Bilder von aus dem Irak fliehenden Kurden, von hungernden, frierenden und sterbenden Kindern die Menschen in der Bundesrepublik aufwühlen.
Genscher setzte sich an die Spitze der Bewegung, noch ehe seine Kabinettskollegen das ganze Ausmaß »einer der größten Tragödien dieses Jahrhunderts«, so der luxemburgische EG-Ratspräsident Jacques Poos, begriffen. Der Außenminister tat Gutes und sprach darüber.
Fast täglich telefonierte er mit seinen EG-Kollegen, um eine großzügige Hilfsaktion der westeuropäischen Länder für die Verfolgten und eine neue Resolution der Vereinten Nationen gegen den Völkermord im Irak zustande zu bringen.
Das Kabinett, das sich Anfang April noch mit läppischen 28 Millionen Mark aus der Verantwortung stehlen wollte, erhöhte prompt die Mittel für die Versorgung der flüchtenden Kurden mit Lebensmitteln und Medikamenten auf insgesamt 415 Millionen Mark. Der Verteidigungsminister stellte sechs »Transall«-Maschinen für eine Luftbrücke und 40 Hubschrauber für die Direktversorgung der in der Türkei und im Iran kampierenden Flüchtlinge zur Verfügung.
Arbeitsminister Norbert Blüm, der bei seinen Auftritten in den wirtschaftlich daniederliegenden neuen Bundesländern hilflos gewirkt hatte, flog zu den Flüchtlingen in die Türkei, versprach ihnen Hilfe und ließ sich von den dankbaren Kurden zu seinem Hubschrauber tragen. »Katastrophen-Tourismus«, rügte der SPD-Abgeordnete Norbert Gansel.
»Die Wirklichkeit ist schlimmer als alle Bilder, die wir bisher gesehen haben«, erzählte der Arbeitsminister seinen Kollegen im Kabinett. Im Bundestag berichtete der gute Mensch aus Bonn stockend, was er zuvor schon den Fernseh- und Rundfunkreportern erzählt hatte:
»Von Napalm- und Phosphorbomben Verletzte liegen auf dem nackten Zeltboden. Ich habe Lager gesehen mit 80 000 Menschen ohne Wasserquellen und Lager mit verschmutzten Bächen. Viele sterben. Viele, viele Kinder.« Unter Plastikplanen finde »das leise Sterben des kurdischen Volkes statt. Das ist Völkermord«.
Der Außenminister forderte derweil, den Schuldigen für die Morde, den irakischen Diktator Saddam Hussein, auf die Anklagebank zu bringen. »Das Gerede über einen Prozeß gegen Saddam ist rein theoretisch«, urteilte der Würzburger Völkerrechtler Dieter Blumenwitz. Die Vereinten Nationen haben keine Möglichkeit, den irakischen Diktator, wenn sie ihn denn hätten, vor ein Gericht zu stellen. Das Thema Internationaler Gerichtshof ist bislang nur in den Fachausschüssen der Uno behandelt worden; und da wird es vorläufig wohl auch bleiben. In den Vereinten Nationen sitzen zu viele Vertreter von Ländern, in denen Tag für Tag die Menschenrechte verletzt werden.
Der Außenminister will dennoch nicht von seiner populären Forderung abrücken. Entscheidend sei derzeit nicht, daß Saddam tatsächlich vor Gericht gestellt werde, so Genscher. Entscheidend sei die vorbeugende Wirkung. Jedem Diktator solle bewußt werden, daß er die Folgen für die von ihm zu verantwortenden Morde tragen müsse.
Dieser Meinung schlossen sich am vergangenen Montag auch Genschers EG-Kollegen an - wohlwissend, daß ihr Anliegen in New York, wenn überhaupt, so schnell ganz bestimmt nicht zu verwirklichen ist.
Dennoch schrieb EG-Ratspräsident Poos am vergangenen Dienstag einen Brief an den Uno-Generalsekretär: Die Brutalität der Verfolgung der Kurden und das Ausmaß der Flüchtlingswelle erlaubten es nicht, sich auf eine moralische Verurteilung des irakischen Regimes zu beschränken. Geprüft werden müsse die Frage der persönlichen Verantwortung - und die Möglichkeit, die Schuldigen vor ein internationales Gericht zu stellen.
Die von dem amerikanischen Präsidenten George Bush angestrebte neue Weltordnung dürfe ihr politisch-moralisches Fundament nicht verlieren, bevor sie geschaffen worden sei, pflichtete Genscher bei.
Einen ersten Schritt, das von den Vereinten Nationen geheiligte Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten einzuschränken, hat der Uno-Sicherheitsrat mit seiner Resolution 688 immerhin getan. Sie verweist zwar noch ausdrücklich auf die Nichteinmischungsklausel, macht aber gleichzeitig deutlich, daß die Mißachtung der Menschenrechte den internationalen Frieden und die Sicherheit bedroht und deshalb nicht mehr nur als innere Angelegenheit eines Staates betrachtet werden kann.
Dieser Ansatz, der nach Genschers Ansicht von »historischer Bedeutung« ist, könnte die Grundlage für Aktionen der Uno sein - für friedliche ebenso wie für militärische.
Genscher: »Künftig kann sich keine Regierung, die Völkerrecht und Menschenrechte mit Füßen tritt, die Bürger ihrer Länder unterdrückt und zur Flucht zwingt, darauf berufen, daß solche Vorgänge eine innere Angelegenheit sind, die der Mitsprache der Völkergemeinschaft und den Vereinten Nationen entzogen sind.«
Professor Karl Kaiser, Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, hat zwar Zweifel, daß die Vereinten Nationen ihre neuen Möglichkeiten wirklich nutzen werden. Aber auch er sieht darin »ein völlig neues Element der internationalen Politik«. Kaiser: »Da die Welt nun einmal bevölkert ist mit vielen Diktaturen und Unrechtsregimen, könnte hier der Anfang sein für eine neue Rolle der Uno - die Sowjetunion hat mitgestimmt, China hat sich enthalten.«
Die Not der Kurden und die Einigkeit der Vereinten Nationen haben auch in Bonn zu ungewöhnlicher Eintracht geführt. In der Debatte um die Lage im Irak am vergangenen Mittwoch im Bundestag hörten sich Regierung und Opposition nicht nur ausnahmsweise zu, sondern versprachen sich auch Unterstützung.
Völlig überraschend für die Regierenden erklärte der SPD-Abgeordnete Freimut Duve, daß die Opposition sich auch Gewalt zur Durchsetzung der Uno- und EG-Beschlüsse über die Rückkehr der Kurden in ihre Heimat vorstellen könne. Duve: »Es muß politisch und, wenn nötig, auch militärisch garantiert werden können, daß die irakischen Kurden ohne Todesfurcht umkehren können.«
Diese Haltung der SPD, die von Duves Parteifreundin Katrin Fuchs ("Ich plädiere nicht für einen neuen Militäreinsatz") relativiert wurde, wird Folgen haben. Falls sich Saddam und seine Garden doch noch gegen die Rückkehr der Kurden sperren und zu den Waffen greifen sollten, wird auch die zu Hilfseinsätzen in die Türkei und in den Iran abkommandierte Bundeswehr in den Konflikt hineingezogen. Zurückhaltung kann es dann nicht mehr geben.
Einen Tag nach der Duve-Erklärung schlug der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Karl Lamers, vor, die Bundeswehr solle sich nicht nur an der humanitären Hilfe, sondern auch »am militärischen Schutz der Flüchtlingslager« beteiligen. Das vereinte Deutschland könne es sich nicht mehr leisten, abseits zu stehen.
Der Streit, ob und - wenn ja - unter welchem Kommando die Bundeswehr außerhalb des Nato-Gebietes eingesetzt werden kann, scheint beigelegt, ehe er ausgetragen wurde. o