KRISEN-TV Letzte Ausfahrt: Artern
Im Büro des Bürgermeisters von Artern hängt ein Bild mit einer Stadtansicht aus den zwanziger Jahren: rauchende Schlote, wuchtige Fabrikhallen, glänzende Industriefassaden. »Goldene Zeiten«, sagt der Bürgermeister in einem Ton, der bedeuten soll, dass diese Ära unwiederbringlich vorbei ist. In seinem Städtchen mit 6751 Einwohnern ohne Industrie gibt es heute mehr Arbeitslose als fast überall sonst in Deutschland. Kurz: Artern, Kyffhäuserkreis, Nordthüringen, ist genau das, was sich der bekannteste TV-Produzent der Republik gewünscht hat.
Ein halbes Jahr lang durchsuchte die Produktionsfirma Endemol ("Big Brother«, »Wer wird Millionär?") Deutschland nach der passenden Kleinstadt. Arm sollte sie sein, aber nicht schäbig. Klein, aber nicht dröge. Vor allem sollte sie Arbeitslose haben. Viele Arbeitslose, die man dabei beobachten kann, wie sie täglich mit Frust und Geldmangel, Bewerbungen und Absagen, Arbeitsamt und Aldi kämpfen - und am Ende gewinnen. Nach Möglichkeit.
Endemol ist nicht der einzige TV-Produzent, der ein simples Konzept entdeckt hat: Bei vier Millionen Arbeitslosen lässt sich auch mit Hoffnungslosigkeit Fernsehen machen. Der Trash-Sender Neun Live hat schon seit Wochen ein Rezept für eine TV-Show in der Schublade, bei der dem Gewinner statt Geld ein neuer Job winken würde. Mehrere Produktionsfirmen arbeiten an ähnlichen Projekten. Weil bis hinauf zu Arbeitsminister Walter Riester sofort alle den drohenden TV-Zynismus geißelten, verschwanden die Ideen erst mal wieder.
Bei Endemol jedoch ist das Projekt Arbeitslosen-TV weit gediehen: Vom MDR gibt es bereits eine mündliche Zusage für die Doku-Soap unter dem Arbeitstitel »Stadt der Träume«. Im Januar könnte es losgehen: einmal wöchentlich eine Stunde aus dem Leben der thüringischen Kleinstadt Artern.
Aufbau Ost als Fernsehshow zur besten Sendezeit? Schon machen wilde Gerüchte die Runde: von einer Stadt im Käfig, von Kameras in allen Straßen, von Observierung rund um die Uhr.
Doch Endemol gibt sich ungewohnt seriös und verspricht ein echtes »öffentlich-rechtliches« Programm: nicht die schmierige Gefühlspatina alter Ideen wie der »Traumhochzeit«, sondern Nutzwert, sogar anspruchsvoll und ernst, mehr Doku als Soap eben. Die Kameras, verkündet Endemol, sollen die gebeutelten Bewohner nicht bloßstellen oder gar ausbeuten. Nein, sie sollen ihnen helfen.
Mit ein bisschen TV-Aufmerksamkeit, so verspricht das Konzept, sollen Unternehmen und Arbeitsplätze entstehen - dank Endemol. Sogar eine Unternehmensberatung steht bereit, um die Anstrengungen zu bündeln. Damit künftig, so hoffen sie in Artern, nichts mehr ist, wie es ist, weil eh nichts mehr ist, wie es war.
Artern ist so eine Stadt, an deren spärliche Höhepunkte nur noch Gedenktafeln und Straßennamen erinnern. Im Park ein Gedenkstein für den Dichter Novalis, der ein paar Jahre hier lebte. Ein Hinweis auf Goethes Urgroßvater, vor 300 Jahren Hufschmied von Artern. Ein paar Straßennamen, die eine jahrhundertelange Tradition als Salzsiederstadt mit eigener Solequelle beschwören.
Von 3000 Arbeitsplätzen blieb nur ein gewaltiger Ziegelblock versteinerter Vergangenheit.
Die Maschinenfabrik hat 1998 endgültig dichtgemacht - abgewickelt wie der ganze Rest einer Industrieregion, die sich gern mit Superlativen schmückte: die Zuckerfabrik, immerhin einst die drittgrößte der DDR, der Kali-Bergbau, eines der größten Abbaugebiete in Deutschland, die Kyffhäuserhütte, »der größte Molkereimaschinenhersteller im sozialistischen Lager«.
Heute hat Artern noch die größte Wasserrutsche Nordthüringens. Und eine Zeit lang hatte Artern schon mal die höchste Arbeitslosigkeit in ganz Deutschland.
In einer Stadt, in der jeder Vierte arbeitslos ist und alle wissen, wer in der Straße einen Job hat und wer nicht, ist jeder Heilsbringer willkommen. Auch wenn er Endemol heißt und einen ambivalenten Ruf genießt. Deswegen haben der Bürgermeister und seine Stadträte zugestimmt, als die Kölner Produzenten im April plötzlich vor der Tür standen und fragten, ob sie ihre Stadt filmen könnten. Oder besser: ihre Bewohner, und zwar die interessanten.
Endemol-Deutschland-Chef Borris Brandt spricht vom »Lindenstraßen-Element« und meint damit Menschen, die interessant genug sind, um ihr Leben auch jahrelang zu zu verfolgen. Und die gewöhnlich genug sind, dass man sich an sie gewöhnt.
Brandt nennt das Projekt Artern »mein Baby«. Brandt ist nervös, weil er lange kein »Baby« mehr hatte, schon seit »Big Brother« vor zwei Jahren nicht mehr, und weil Endemol seinen Ruf als Kreativschmiede zu verlieren droht. Artern darf kein Fehlschlag werden.
Im Sommer, als es darum ging, den Arternern klar zu machen, dass die Wahl auf sie gefallen war, da ist Brandt selbst nach Thüringen gefahren. Hat »sogar übernachtet«. Hat »sogar im Ratskeller gegessen«. Hat fässerweise Kölsch mitgebracht, um die Stimmung aufzulockern. Hat im Kino von Artern, das »Filmtreff« heißt und mit seiner Holz- und Wellblechverkleidung an eine umgebaute Scheune erinnert, das Demo-Band vorgeführt und den Leuten »Big Brother« aus den Köpfen rausgeredet.
Seitdem nennen sie ihn »den Vielredner Herr Brandt«. Auf seine Seite gezogen hat er all jene, die man immer die örtlichen Honoratioren nennt: die Geschäftsinhaber und Behördenleiter, Parteichefs und Vereinsvorsitzenden.
»Der Arbeitstitel hat uns überzeugt«, sagt Bürgermeister Wolfgang Koenen. »Stadt der Träume«, das klingt nach Zukunft, Perspektiven, Aufbruch. Nicht wie vor vier Jahren, als Artern schon einmal deutschlandweit in den Medien auftauchte. Damals, als die Arbeitslosenquote 32,7 Prozent erreichte und von einer »Stadt im freien Fall« die Rede war, von einer »vergessenen Region«. »Jetzt können wir das Bild geraderücken«, glaubt Koenen.
Jörg Neubauer ist einer von denen, die mitrücken sollen. Endemol hat ihn als einen der Hauptdarsteller ausgewählt. Weil er reden kann, viel und über alles. Weil er motzt, ohne zu nörgeln. Weil er zum Beispiel sagt: »So wie Artern schaut doch der ganze Osten aus.« Oder: »Es geht bei alldem um die Hoffnung, und wir sind sture Schweine in Artern.« Neubauer ist Schwimm-Meister des Solebads, staatlich geprüft. Nicht Bademeister, wie er gern anfügt. »Die passen nur auf, dass in der Wanne keiner absäuft.«
Drei Wochen hat Neubauer mit einem Endemol-Filmteam gelebt. Die Kamera vorm Gesicht ab morgens um sechs, beim Frühstück mit den drei Kindern, bis abends um zehn, beim Training mit der Ringermannschaft. Und den ganzen Tag im Solebad. »Das ist mein Leben hier«, sagt Neubauer. Seit 1976 ist Neubauer Schwimmbad-Chef. Vielleicht der sicherste Job in Artern.
3000 Kindern hat Neubauer in seinem Leben das Schwimmen beigebracht. Nicht immer nur mit netten Worten. Auf dem Video von Endemol tunkt er einen lustlosen Schwimmschüler einfach unter, bis der dann doch brav strampelt. Erst war ihm die Szene peinlich, aber dann hat ihm der Herr Brandt gesagt, dass er das Klasse findet und ihm im nächsten Sommer seine Tochter schicken will, die das Schwimmen in all den teuren Kursen in Köln immer noch nicht gelernt habe.
So was beruhigt. »Weil doch alle Angst haben, dass wir hier durch den Dreck gezogen werden.« Weil sie hier wissen, dass Endemol »die mit dem Käfig sind«. Weil sie hier keine »Maschendrahtzaun-Liesl« wollen wie die sächsische Hausfrau Regina Zindler, die wochenlang als ostdeutsche Karikatur durch die Medien gescheucht wurde. So jemanden wie Stefan Raab, sagt Neubauer, will hier niemand sehen.
Aber wer will Artern sehen? Das Leben und Leiden einer ostdeutschen Kleinstadt, zu deren jüngsten Höhepunkten die »Patenschaft für die 1. Kompanie des Panzergrenadierbataillons 381« zählt? Wer will sehen, wie die Seniorenmannschaft des Ringervereins sich mit Bockspringen aufwärmt und später bei Bier und selbst geschossenem Wildschwein von alten Zeiten schwärmt? »Tja«, »sagt Neubauer, »das weiß ich auch nicht.«
Endemol glaubt es zu wissen: »Es sind spannende, auch mal skurrile Geschichten von Menschen wie du und ich«, sagt Herr Brandt. Er ist begeistert von »echten Menschen« wie Klaus Schmölling.
Schmölling ist Stadtschreiber, Schauspielintendant, Chefredakteur. Alles ehrenamtlich, versteht sich. Schmölling ist ein beschäftigter Mann, wie man eben beschäftigt sein kann, wenn man nach 42 Jahren als Maschinenbauer entdeckt, dass es auch noch ein Leben außerhalb der Kyffhäuserhütte gibt. Als das Werk dichtgemacht hat, haben sie ihm 4500 Mark Abfindung geboten. »Eine Menge Geld«, sagt Schmölling. Keine Spur von Ironie.
30 Bücher hat Schmölling inzwischen geschrieben. »Beiträge zur heimischen Montangeschichte« etwa oder »Briefe in die alte Heimat«. Eigentlich sind es eher Hefte. Aber das macht nichts. Die Endemol-Leute mögen Schmölling. Er organisiert Operettenaufführungen, die eigentlich Duette sind, weil es keine Bühne gibt, nicht einmal eine Mehrzweckhalle, nur eine kleine Kirche. Schmölling ist CDU-Mitglied und liest das »Neue Deutschland«. Kein Zweifel: Schmölling hat das »Lindenstraßen-Element«, auch wenn er kein Fernsehfreund ist.
Fernsehen, sagt er, sei keine Kultur, nur Unterhaltung. Aber das spielt keine Rolle, denn es geht nur um die Wirkung. Es geht darum, dass irgendeiner sagt: »Mensch, ob wir nun dort investieren oder woanders, ist egal, dann lass uns doch nach Artern gehen. Das aus dem Fernsehen.« Wenn es nur 150 Arbeitsplätze werden, sagt Schmölling, wäre doch schon fast alles erreicht. Vielleicht, sagt er dann noch, verlangsamt es so auch die »Arbeitssuchbewegung der Jungen« - die immer nach Westen führt.
Die Arterner wollen all das wirklich glauben. Die vagen Ideen von einer eigenen Thüringer Rostbratwurst »Marke Artern«, die vielleicht Millionen kaufen, weil sie die prämierten Würstchen der Fleischerei Otto Meyer aus dem Fernsehen kennen.
Aber ist das nicht zynisch, nur der Versuch, Quoten mit einem viel zu ernsten Thema zu machen? »Es ist ein Strohhalm«, sagt Neubauer. Letzte Ausfahrt Artern eben.
Der andere Strohhalm ist ein eigener Autobahnanschluss, der vielleicht in fünf Jahren einmal gebaut wird. Das Projekt ist ziemlich unsicher, aber die Trasse steht schon in den Stadtplänen. THOMAS SCHULZ