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STERBEHILFE Letzter Atemzug

Ein Krefelder Arzt, der eine Frau sterben ließ, wurde freigesprochen. Die Diskussion um den Gnadentod kommt von neuem in Gang. *
aus DER SPIEGEL 40/1983

Als ihr Mann nach fast fünfzig gemeinsamen Ehejahren starb, begann die Witwe Charlotte Uhrmacher, 77, sorgfältig zu planen. Sie bereitete ihr eigenes Ende vor.

Sie arbeitete Jean Amerys Suizid-Leitfaden »Hand an sich legen - Diskurs über den Freitod« durch, studierte »Das Recht zu sterben« und las in Christiaan Barnards Bestseller »Glückliches Leben - Würdiger Tod«. Über Monate hinweg sammelte die Krefelderin einen Giftschrank an: Barbiturathaltige Schlafmittel und Morphium, insgesamt 250 Milligramm - zum Sterben mehr als genug.

Ihren Hausarzt, Dr. med. Herbert Wittig, 63, weihte Charlotte Uhrmacher in ihre Pläne ein. Doch der praktische Arzt mit mehr als dreißig Jahren Berufserfahrung riet energisch ab. Nach einer routinemäßigen Untersuchung seiner herzkranken Arthrose-Patientin am 27. November 1981 sagte sich Wittig für den darauffolgenden Tag zu einem privaten Besuch an. Er wollte im Gespräch »die Selbstmordabsichten zerstreuen«.

Als der Hausarzt gegen 19.30 Uhr erschien, fand er die Frau »im Zustand schwerster Vergiftung« vor. Ihr Puls war nicht mehr fühlbar, der Atem ging nur noch stoßweise alle zehn Sekunden. In den gefalteten Händen hielt die Sterbende ein Photo ihres Mannes, neben leeren Morphium-Ampullen und Tabletten-Röhrchen lag ein Zettel: »An meinen Arzt. Bitte kein Krankenhaus. Erlösung. Ich will zu meinem Peterle.« Ein weiteres Schreiben ordnete testamentarisch an, die Sterbende wolle keinesfalls an lebensverlängernde Medizin-Maschinen angeschlossen werden.

Wittig akzeptierte den letzten Wunsch, zumal ihm ärztliche Hilfe nicht mehr möglich schien. Mit einem Nachbarn hielt er Wache. Morgens, kurz vor sieben, stellte er fest: Exitus.

Die Krefelder Staatsanwaltschaft sah in Wittigs Verhalten eine »Tötung auf Verlangen durch Unterlassung« - eine etwas widersinnige Rechtskonstruktion, die sich so im Strafgesetzbuch nicht findet. Die Dritte Große Strafkammer des Landgerichts Krefeld sprach den Arzt am Mittwoch letzter Woche frei. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Wittigs Entscheidung, weitere Maßnahmen zu unterlassen, und dem »Eintritt des Todes« sei nicht nachweisbar, erklärte der Kammervorsitzende Dieter Hoberg.

Der Krefelder Richter hatte den Prozeß nach Studium der Akten gar nicht eröffnen wollen. Auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft ordnete das Oberlandesgericht Düsseldorf aber die Hauptverhandlung an - wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Falles.

Wenn sich die Beweisführung auch streng an die vorhandenen formalen Kriterien hielt, so offenbarte der Krefelder Strafprozeß doch eine neue Dimension der Diskussion um das Recht auf einen würdigen Tod: Erstmals hat ein deutsches Gericht einen Arzt freigesprochen, obgleich er sich nicht bis zum letzten Atemzug um die Reanimation des Patienten bemüht hatte.

Tagtäglich geraten Ärzte in den schweren Konflikt, daß ihre überlieferten Berufspflichten, Leben zu erhalten und Leiden zu mindern, einander ausschließen können. Zum Arbeitsalltag gehört es, daß Mediziner bei der Gratwanderung zwischen Leben und Tod einem schwerleidenden Patienten so viel Morphium spritzen, daß dessen letzte Kräfte schneller verbraucht werden. Oder sie verzichten darauf, die leere Sauerstoffpatrone im Beatmungsgerät auszutauschen, um die Qualen nicht zu verlängern - praktizierte Euthanasie.

Aber dort, wo sie Sterbehilfe leisten, sprechen Mediziner nicht öffentlich darüber. Lieber leugnen sie beispielsweise, Kenntnis über die Folgen bestimmter Medikamente gehabt zu haben. Denn sie laufen dabei stets Gefahr, mit dem Strafgesetz zu kollidieren. In Frage kommen unterlassene Hilfeleistung, Körperverletzung, fahrlässige Tötung, Tötung auf Verlangen oder sogar Totschlag.

Den Ärzten droht Strafe, wenn sie, was eigentlich geboten sein sollte, das Leiden abkürzen - gleichgültig, ob ein entsprechender Wunsch des Patienten vorliegt oder nicht. Folgen sie streng der juristischen Norm, müßten sie selbst jene Menschen auf der Intensivstation weiter

pflegen, deren Hirnstrom kaum noch meßbar ist. Nur dem, der den qualvollen Rest eines Lebens um jeden Preis verlängert, droht keine Bestrafung.

Seit Jahren streiten Ärzte, Juristen, Philosophen und Theologen über die Frage, ob Lebenserhaltung um jeden Preis und mit jedem Mittel sinnvoll oder überhaupt zumutbar ist. In der Bundesrepublik kam die Diskussion um einen humanen Tod Anfang der siebziger Jahre nur zögernd in Gang - vor allem die Kirchen zogen immer wieder Parallelen zu Hitlers mörderischen Euthanasie-Aktionen.

In Wahrheit hat Sterbehilfe mit dem staatlich organisierten Massenmord der Nationalsozialisten nichts zu tun. »Patienten, die biologisch an Altersschwäche sterben, die nach mehreren Herzinfarkten immer wieder neue Schäden davongetragen haben, Leute, die an einem unheilbaren Krebs erkrankt sind, lasse ich in Ruhe und Würde sterben« - dieser Meinung war der Mainzer Anästhesist und Intensivmediziner Rudolf Frey, der sich 1981 das Leben nahm. Alles andere wäre »keine Verlängerung des Lebens, wie es Gesetz und christliche Ethik wollen, sondern eine Verlängerung des Sterbens«. Für den evangelischen Theologen Helmut Thielicke »kann der vermeintliche Dienst am Menschen in einen Terror der Humanität umschlagen«.

Zur Vorsicht mahnen vor allem Juristen. Der Münchner Strafrechtsprofessor Paul Bockelmann verlangt vom Arzt selbst dann äußerste Anstrengungen beim Kampf ums Leben, wenn es nur »um Tage oder gar um Stunden oder Minuten geht und wenn überdies das Leben in der kurzen Spanne Zeit ... nur ein klägliches, trostloses Leben sein kann«.

Der Münchner Chirurg Rudolf Zenker behandelt »jedes Individuum weiter, ob es auch noch ein Mensch ist, das ist mir gleichgültig«. Und noch vor wenigen Wochen hat der deutsche Ärztepräsident Karsten Vilmar mit dem Argument, Ärzte seien keine Henker, jede aktive Sterbehilfe abgelehnt.

Noch heftiger umstritten ist, wieweit für den Arzt eine Rechtspflicht zur Hilfeleistung gegenüber Menschen reicht, die freiwillig aus dem Leben scheiden wollen. Wer einem solchen Patienten die tödliche Dosis Schlafmittel nicht wieder aus dem Magen pumpt, hat bis zum Prozeß gegen Wittig damit rechnen müssen, bestraft zu werden.

Der Fall vom Niederrhein wird von neuem die Debatte beleben, die schon in den zwanziger Jahren unter Medizinern und Juristen geführt wurde: Im Berliner Reichstag hatten Abgeordnete vergeblich die Streichung des Paragraphen 216 ("Tötung auf Verlangen") gefordert, und im Nachkriegsdeutschland wurde das Thema Gnadentod von den Rechtspolitikern beiseite geschoben. Im Bundestag erklärte 1975 der damalige Parlamentarische Staatssekretär Hans de With, es gebe »kein Bedürfnis nach einer korrigierenden gesetzlichen Regelung«.

Der Bundesgerichtshof hat sich mit der Frage auf Leben und Tod letztmals 1963 befaßt. Inzwischen aber gibt die Apparatemedizin den Ärzten die Möglichkeit, hoffnungslos Erkrankte über längere Zeit künstlich am Leben zu halten. Auch deshalb soll ein aktuelles Karlsruher Urteil zur nötigen »Rechtssicherheit« und zu einer »einheitlichen Rechtsprechung« beitragen.

Unmittelbar nach dem Freispruch für Wittig hat die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt. Jetzt muß der Bundesgerichtshof neu entscheiden.

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