Asyl Letztes Paradies
Über eine Einschränkung des Grundrechts auf Asyl ließ der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Johannes Rau (SPD) bislang partout nicht mit sich reden. Diese Säule des Grundgesetzes, plädierte Rau, schon immer ein Verfechter großzügiger Ausländerpolitik, dürfe »nicht tangiert werden«.
Seit Anfang letzter Woche redet der Düsseldorfer Regierungschef und stellvertretende Vorsitzende der Bundes-SPD darüber anders.
Bedrängt vom Ansturm der Asylbewerber aus dem Osten, erklärte das Rau-Kabinett in einem eigens zur Asylpolitik formulierten Beschluß, daß es nötig werden könnte, den Grundgesetzartikel 16 einzuschränken. »Die gegenwärtige rechtliche Ausformung _(* Oben: Hochbunker aus dem Zweiten ) _(Weltkrieg mit Duschzelten; unten: ) _(Unterführung am Hauptbahnhof. ) des Asylrechts«, umschrieb die Landesregierung ihre Wende in der Fremdenpolitik, »muß überprüft werden.«
Mit der überraschenden Entscheidung, die in der Landesregierung einen handfesten Krach auslöste, folgt Nordrhein-Westfalen als erstes SPD-Bundesland dem umstrittenen Asylkurs des Kanzlerkandidaten und Saarbrücker Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine. Der scheint sich - wieder mal - durchzusetzen.
Seit zu Beginn des Monats der Protest empörter Bürger gegen das überfüllte Asylantenlager im saarländischen Lebach für bundesweites Aufsehen sorgte, hat der Saarländer das traditionelle Unions-Thema »Asylmißbrauch« für seinen Wahlkampf entdeckt (SPIEGEL 32/1990). Im Einigungseifer zeitweise kaum bemerkt, sind von Januar bis Juli fast 100 000 Flüchtlinge, vor allem aus Rumänien und dem Libanon, in Westdeutschland eingetroffen. 1989 waren es im ganzen Jahr nur rund 120 000.
Den populären Vorschlag, wie der Flüchtlingsflut beizukommen sei, hat Lafontaine ("Ich pflege meine Argumente nicht daran auszurichten, ob ein anderer sie teilt") vom Wahlkampfgegner abgekupfert: Durch eine Rechtsverordnung der Bundesregierung sollen künftig jene Völker von der Asylgarantie ausgeschlossen sein, in deren Heimat »nach allgemeiner Überzeugung keine politische Verfolgung stattfindet«.
Scharfmacher in der CSU wie der bayerische Landeschef Max Streibl begrüßten den Vorschlag aus Saarbrücken als Schwenk in die rechte Richtung. Doch in der SPD sperren sich selbst engste Gefolgsleute des Saarländers wie der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Björn Engholm. Eine derart massive Grundrechtseinschränkung, so der Kieler Sozialdemokrat, »widerspricht grundsätzlich meiner Philosophie«.
Daß ausgerechnet die bislang für ihre großzügige Ausländerpolitik bekannten Düsseldorfer Sozialdemokraten nun als erste auf Lafontaines Kurs gegen das Asylrecht gehen, ist die Folge des gerade in NRW besonders massiven Ansturms einer überaus ungelittenen Asylantengruppe: der Roma-Flüchtlinge aus Rumänien.
Seit die Grenzen des Ostblocklandes nach dem Sturz der blutigen Ceausescu-Diktatur geöffnet sind, gelangen die Zigeuner, daheim wie alle Minderheiten zunehmend Agressionen ausgesetzt, vorwiegend über die DDR-Grenze nach Westdeutschland. Allein seit Anfang des Jahres kamen rund 12 000 Roma. Sie prägen in Großstädten örtlich schon das Straßenbild.
Bettelnde Zigeunerkinder rühren oder nerven Passanten auf dem Rathausplatz der Hauptstadt Bonn ebenso wie auf der Kölner Domplatte, ziehen in der Frankfurter Freßgaß von Tisch zu Tisch oder gehen Passanten vor der Berliner Gedächtniskirche mündlich und schriftlich ("Wir haben Hunger") um Geld an.
In Hamburg wie in Berlin kampieren die obdachlosen Flüchtlinge bereits auf den Bahnhöfen und in Fußgängertunneln. Und von den Ostgrenzen Deutschlands kommen Berichte, daß noch Zehntausende der Flüchtlinge im Anmarsch sind.
Das Ruhrgebiet gilt bei Asylbewerbern, wie der Sprecher des Zirndorfer Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Wolfgang Weickhardt, weiß, als »das letzte Paradies«. Statt Warengutscheinen, Gemeinschaftsverpflegung und Sammellagern, wie in den meisten Bundesländern, erwartete Flüchtlinge im Revier bislang Sozialhilfe (pro Tag 15 Mark) in bar bei Unterbringung in kleineren Heimen, Wohnungen oder Hotels.
Schon haben sich kriminelle Organisationen darauf spezialisiert, die Roma in das gelobte Land zu schleusen. Immer wieder, berichtet etwa der Hagener Sozialdezernent Klaus Dernbach, »bringen Schlepperbanden nachts bis zu 50 Roma in unsere Übergangslager«. Die Klientel, stellte Dernbach fest, kennt nur zwei Worte: »Polizei und Asyl«.
Die Aufnahmekapazitäten der NRW-Kommunen, ohnehin durch Aus- und _(* Vor dem Weitertransport in andere ) _(Unterkünfte. ) Übersiedler belastet, sind längst ausgeschöpft. »Wir schrappen schon jetzt von Tag zu Tag an einer Katastrophe vorbei«, klagt der Herner Sozialdezernent Wolfgang Schäfer. In Bad Salzuflen erklärt Sozialamtsmitarbeiter Wolfgang Vögeding den Bankrott der städtischen Asylantenbetreuung: »Wir haben den Überblick verloren.«
Die Bürger verlieren zunehmend die Geduld. In Herford kündigten Geschäftsleute die Gründung einer »Bürgerwehr« gegen die Roma an, um sich vor Ladendiebstählen zu schützen. Aus Furcht vor Läusen und ansteckenden Krankheiten weigerten sich in Hohenlimburg Eltern, ihre Kinder in eine Realschule zu schicken, deren Turnhalle mit Roma belegt war.
In Hagen fährt die Polizei schon Streife, um die eilends errichteten Zeltunterkünfte der Zigeuner, sicher ist sicher, vor Anschlägen aufgebrachter Bürger zu schützen. Der für die Asylantenunterbringung zuständige Düsseldorfer Sozialminister Hermann Heinemann, 62, fürchtet Unruhen: »In vielen Gemeinden tickt eine Zeitbombe.«
Zur Entschärfung des sozialen Sprengstoffs empfahl der Minister, den Rau 1985 in seine Mannschaft berief, damit Nordrhein-Westfalen »das soziale Gewissen der Bundesrepublik bleibt«, den Lafontaine-Kurs. Mit seinem Vorschlag, das Asylrecht zu begrenzen, setzte sich der ob seines sicheren politischen Instinktes für Volkesmeinung unter Genossen gerühmte Heinemann sogar gegen den hartnäckigen Asylverteidiger Herbert Schnoor durch.
Der Innenminister protestierte vehement, aber vergebens beim Chef Rau. Dem Kanzlerkandidaten, so mußte sich Schnoor abkanzeln lassen, könne man doch nicht in den Rücken fallen.
Ein Votum Nordrhein-Westfalens für die Eingrenzung des Grundrechts hält Schnoor immer noch für »völlig ausgeschlossen«. Er zumindest will sich auf der am Freitag dieser Woche tagenden Innenminister-Konferenz der Länder für den uneingeschränkten Artikel 16 »kräftig auf die Hinterbeine stellen«.
Entlastung der Kommunen verspricht sich Schnoor auch ohne Grundgesetzänderung - wenn die als Sofortmaßnahme verfügte Einführung von Sammellagern, Gemeinschaftsverpflegung und Sachleistungen greift.
Im Saarland zeitigten solche nach dem Lebach-Protest beschlossenen Verschärfungen raschen Erfolg. Dort zogen daraufhin einige hundert Zigeuner freiwillig weiter - Richtung NRW.
* Oben: Hochbunker aus dem Zweiten Weltkrieg mit Duschzelten; unten:Unterführung am Hauptbahnhof.* Vor dem Weitertransport in andere Unterkünfte.