Bonn/Moskau Lex specialis
Im Gästehaus des sowjetischen Außenministeriums wartete ein nachdenklicher Gastgeber auf seinen Gast aus Bonn. Die Zeit werde knapp, sinnierte Moskaus Außenminister Eduard Schewardnadse am Freitag vergangener Woche. Die Vereinigung der Deutschen vollziehe sich »schneller als erwartet«, die »Abstimmungen« über die äußeren Aspekte der Einheit müßten beschleunigt werden.
Als Hans-Dietrich Genscher in den kleinen Saal stürmte, gab er sich aufgeräumt: »Ich schließe mich dem an, was der Außenminister gesagt hat«, rief er den Presseleuten zu, »mein Vertrauen ist so groß, daß ich kein Risiko eingehe.«
Bonns Außenminister hat gut reden. Die innenpolitischen Probleme mit den Konsequenzen der deutschen Einheit hat sein Moskauer Kollege.
So harmonisch sich die beiden bei ihrem elften Treffen in diesem Jahr Ende letzter Woche gaben, so sehr sie glauben machen wollen, »einen großen Schritt vorwärts« (Schewardnadse) gemacht zu haben - die sowjetische Führung hat ihre liebe Not mit den Kritikern in den eigenen Reihen. Sie werfen Schewardnadse vor, schon zuviel weggegeben zu haben.
Kaum vorstellbar scheint da, daß der Oberste Sowjet, das Moskauer Parlament, dem Drängen der Deutschen nachkommt und die Rechte der sowjetischen Siegermacht suspendiert, noch bevor die neuen Verträge mit den Deutschen in Kraft treten.
Es geht um die Rechte und Pflichten der 380 000 Soldaten aus der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte, die bis 1995 Deutschland »mit guten und freundschaftlichen Gefühlen« (Genscher) verlassen sollen. Eile ist geboten. Denn nachdem sich die Deutschen mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges über die außenpolitischen »Substanzfragen« (Genscher) der staatlichen Vereinigung verständigt haben, werden die »Zwei plus Vier«-Verhandlungen am 12. September abgeschlossen. Wenn sich danach die DDR dem Grundgesetz anschließt, müssen Aufenthalt, Fristen und Abzug der Sowjetstreitmacht aus Deutschland-Ost vertraglich geregelt sein. Die Soldaten und Zivilbediensteten - samt Familienangehörigen gibt es etwa 600 000 Sowjetbürger im Lande - sind dann nicht mehr aus eigenem Recht auf deutschem Boden.
Für den Unterhalt der sowjetischen Soldaten in der DDR, die seit Anfang Juli in D-Mark besoldet werden, war Außenpolitiker Genscher nicht zuständig. Mit den Devisenwünschen der Sowjetarmisten muß sein Finanzkollege Theo Waigel diese Woche persönlich in Moskau einen »Überleitungsvertrag« aushandeln.
Aber auch Genscher war auf ein heikles Thema vorbereitet. »Die Materie«, umschreibt ein Bonner Diplomat den Verhandlungsgegenstand, »ist aus innenpolitischen Gründen mit größter Subtilität zu behandeln« - in Moskau wie in Bonn; und deshalb möchte wohl das Kanzleramt Experten der DDR »grundsätzlich« von den Verhandlungen ausschließen.
Bis zur Ratifizierung des Abzugsvertrages durch ein gesamtdeutsches Parlament soll die Sowjetunion aber schon mal auf ihre Vorbehaltsrechte aus dem Besatzungsregime verzichten; nötig sind Antworten auf »einen gewaltigen Wust von Fragen«, wie ein Bonner Emissär stöhnt.
Festzulegen ist ein präziser »Abzugszeitplan«, Transportmittel und -wege inklusive, für die Freunde des untergehenden SED-Staates. Zu klären ist, welche Bewegungsfreiheit die Sowjetarmisten und ihre Familien im neuen Deutschland haben, was mit ihren riesigen Liegenschaften und baufälligen Unterkünften geschieht, ob sie im Nato-Staat Deutschland ins Manöver ziehen und welche Hoffnungen sich Fahnenflüchtige machen dürfen.
»Wir wollen die Sowjets zu einem Verhalten bringen«, gibt ein ranghoher Offizier der Bonner Hardthöhe die Richtung vor, »das zumindest mit dem unserer Alliierten vergleichbar ist.« Was immer das heißt: Auch die nehmen es mit den Wünschen, Umgangsformen, Umwelt- oder Lärmschutzbestimmungen ihres Gastlandes nicht so genau.
Genscher allerdings sieht »kein Problem«, in den nächsten Wochen die Zukunft der Sowjeteinheiten zu regeln, die sich in 45 Jahren bis zu 25 Prozent des DDR-Territoriums als militärische Sperrgebiete einverleibt haben und in ihre Kasernen noch nicht einmal die Verbündeten der Nationalen Volksarmee ließen. Mit der ihnen eigenen Gründlichkeit haben sich Bonner Bürokraten an einen Vertragsentwurf gemacht, der den Sowjetsoldaten einen »gesichtswahrenden und konfliktfreien Abzug« ermöglichen soll.
Das streng vertrauliche »Arbeitspapier« aus verschiedenen Bonner Ministerien empfiehlt, den Stationierungsvertrag »auf den bisherigen Regelungen« zwischen der DDR und der Sowjetunion aufzubauen. Begründung: _____« Parallelen zu den Stationierungs- und » _____« Aufenthaltsbedingungen für die Streitkräfte der » _____« westlichen Entsendestaaten sind nicht möglich; keine » _____« Bündnisrechte und -pflichten; im Gegensatz zu westlichen » _____« Streitkräften werden die sowjetischen Streitkräfte » _____« vollständig abgezogen; ihre innere Stabilität ist » _____« aufgrund der angespannten wirtschaftlichen, sozialen und » _____« psychologischen Lage ungleich labiler als die der » _____« Streitkräfte der westlichen Entsendestaaten; erstmals » _____« Aufenthalt in einer freien Marktwirtschaft; keine » _____« ermutigenden Eingliederungsperspektiven; angestaute » _____« latent-feindselige Stimmung der deutschen Bevölkerung. »
So viel Einfühlungsvermögen für die sowjetischen Gäste verschafften sich die Bonner Ministerialen durch Rückfragen in den Stationierungsländern Ungarn und CSFR. Dort erfuhren sie zu ihrem Schrecken, daß abziehende Sowjettruppen Munitionsdepots auch schon mal in der Nähe bewohnter Häuser in die Luft gejagt oder Betriebsöle ihrer Militärfahrzeuge dem Mutterboden des Bruderlandes zugeführt hatten.
Solche »Abzugspannen« soll es dem Arbeitspapier zufolge in Deutschland nicht geben, im deutsch-sowjetischen Vertrag wird eine »geordnete, sichere, die Bevölkerung und Natur schonende Abwicklung des Truppenabzugs« garantiert. Den Bonner Militärs graust allerdings schon jetzt, was alles auftauchen mag an hochexplosiven Stoffen und Giften, wenn die Sowjets ihre Standorte und Übungsflächen geräumt haben werden.
Bis dahin müssen sie sich an deutsche Gesetze halten: »Die sowjetischen Streitkräfte sowie ihre Familienangehörigen sind verpflichtet, das im Aufenthaltsgebiet geltende Recht zu achten und sich jeder mit dem Geiste dieses Abkommens nicht zu vereinbarenden Tätigkeit, insbesondere jeder politischen . . . zu enthalten.«
Auch den Bewegungsspielraum der sowjetischen Gäste wollen die Bonner mit »verstärkten Routinekontrollen deutscher Behörden im Gebiet der ehemaligen innerdeutschen Grenze« regeln: »Uns liegt nichts daran«, schildert die Vertragsskizze freimütig, »Angehörigen der sowjetischen Streitkräfte Freizügigkeit innerhalb des gesamten geeinten Deutschlands zu gewähren.« Zwar heißt es: »Wir streben keine absolute Kasernierung an«, doch gibt es freien Ausgang für Moskaus Soldaten nur »im ehemaligen Territorium der DDR« und in Berlin.
Verhindern wollen die Gastgeber auch, daß Sowjetbürger als »Angehörige der sowjetischen Streitkräfte unter Umgehung der normalen Einreisevorschriften in das Vertragsgebiet eingeschleust werden«. Mit einem ausgetüftelten Kontrollverfahren gehen die Bonner in die Verhandlungen: _____« Die deutschen Grenzbehörden kennzeichnen die » _____« Rückseite des Dienstausweises der endgültig aus dem » _____« Aufenthaltsgebiet ausreisenden Angehörigen der » _____« sowjetischen Streitkräfte mit einem Ausreisevermerk. Auf » _____« Antrag kennzeichnen die deutschen Grenzbehörden die » _____« Rückseite des Dienstausweises der vorübergehend aus dem » _____« Aufenthaltsgebiet ausreisenden Personen der sowjetischen » _____« Streitkräfte mit einem Wiedereinreisevermerk, der diesen » _____« Personen die einmalige Wiedereinreise in das » _____« Aufenthaltsgebiet innerhalb von zwei Monaten gestattet. » _____« Entsprechendes gilt für die Pässe der » _____« Familienangehörigen. »
Umstritten bleibt, unter welchen Auflagen die Gastsoldaten ihr Kriegshandwerk trainieren dürfen. Außerhalb ihrer Standorte, befanden die Vertragstüftler in Bonn, »sollten angesichts des baldigen Abzugs sowie der schwierigen psychologischen Lage der sowjetischen Streitkräfte und der deutschen Bevölkerung« eigene Sowjetmanöver verboten sein. Großräumige Übungen seien schließlich auch »zum Erhalt der Betriebsbereitschaft des Geräts und der Disziplin der Truppen nicht zwingend erforderlich«. Als absurd wurde der kühne Vorschlag eines Bonner Diplomaten verworfen, den Sowjets die Teilnahme an Manövern der deutschen Streitkräfte anzubieten. Diese vertrauensbildende Maßnahme geht den Bonnern mit Blick auf ihre mißtrauischen Bündnispartner zu weit. Sie wollen den Soldaten Gorbatschows lediglich Gefechtsübungen auf eigenem Gelände gestatten - im Unterschied zu den westlichen Stationierungstruppen, die auch außerhalb ihrer Standorte üben und Kriegslärm machen dürfen.
Schußwaffen sollen Sowjetsoldaten nach den Wünschen der Bonner außerhalb ihrer Standorte »nur ausnahmsweise und nur dann mit sich führen, wenn sie durch Dienstvorschriften hierzu befugt sind": »Bewaffnete Angehörige der sowjetischen Streitkräfte tragen stets Uniform.«
Eines der heikelsten Vertragskapitel möchten die Bonner am liebsten nicht öffentlich erörtert wissen: Was geschieht mit Deserteuren? »Zu Dutzenden«, heißt es verschwommen im Bonner Verteidigungsministerium, seien Sowjetsoldaten bisher mit Asylersuchen in Deutschland-West vorstellig geworden. Das soll im vereinten Deutschland anders werden.
Den Bonner Unterhändlern schwebt eine »Lex specialis« für fahnenflüchtige Sowjetsoldaten vor. Aus den Überlegungen zum Vertragsentwurf: _____« Den sowjetischen Soldaten soll einerseits zwar nicht » _____« grundsätzlich die Möglichkeit genommen werden, Asyl zu » _____« beantragen. Es gilt jedoch zu vermeiden, daß der Status » _____« des »fahnenflüchtigen Sowjetsoldaten« bereits als solcher » _____« einen Asylgrund darstellt (zum Beispiel wegen Aussicht » _____« auf hohe Bestrafung). Ein solcher Automatismus könnte » _____« Asylanträge sowjetischer Soldaten geradezu provozieren. »
Die Bonner haben deshalb in Moskau sondiert, ob ihnen die Sowjetbehörden durch eine Milderung des Strafmaßes für Fahnenflüchtige bei der Abwehr eines neuen Asylantenstromes helfen könnten. Bislang wurden aufgegriffene Deserteure zu langen Gefängnisstrafen verurteilt, wenn sie nicht, von Kampfhunden gejagt, auf der Flucht erschossen wurden.
Daß ihre Soldaten im gesamtdeutschen Konsumland den Versuchungen des Kapitalismus erliegen und von der Fahne gehen könnten, ist sowjetischen Offiziellen klar. Als sich ein Bonner Diplomat vergangene Woche im Moskauer Außenministerium erkundigte, wie viele Fahnenflüchtige es denn nach aller Erfahrung bis zum vollständigen Abzug der Sowjetarmee aus Deutschland geben werde, erhielt er die Auskunft: »Rechnen Sie mit 380 000.«