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Libanon: Das lange Sterben

Aus dem Schlag gegen die Palästinenser im Libanon wurde israels längster Krieg seit 1948. Über 10 000 Zivilisten kamen um. Belrut, die vormals schönste Stadt des Nahen Ostens, versank in Schutt und Elend. Nicht nur die übrige Welt protestierte, auch viele Israelis demonstrierten gegen das Ausmaß des Krieges.
aus DER SPIEGEL 27/1982

Im Süden und Osten israelische Panzertruppen, im Norden christliche Falangisten, im Westen, draußen auf dem offenen Meer, israelische Raketenboote. Und über allem Rauchsäulen, süßlicher Leichengeruch, Verzweiflung - West-Beirut, Stunde Null.

Eingeschlossen zwischen Trümmern, Toten und Ruinen: etwa 6000 palästinensische Freischärler und mindestens dreißigmal so viele libanesische und palästinensische Zivilisten. Und über allem die bange Frage: Würden sie der riesigen Falle, in der sie beinahe nur noch dahinvegetierten, in der es kein Wasser gab, kaum etwas zu essen, keine Medikamente, lebend entkommen?

Eine Chance, den eisernen Belagerungsring zu sprengen, gab es nicht für die eingeschlossenen Truppen der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Von Kapitulation aber wollten sie auch nichts hören. Also Kampf um jede Straße, jedes Haus? Oder doch ein ehrenvoller Abzug? Aber wohin?

Am Freitagabend jedoch, fast auf den Tag genau vier Wochen nach dem israelischen Marsch auf Beirut, schien plötzlich Licht zu flackern am Ende des Tunnels: Palästinenser und Libanesen, so meldete der libanesische Rundfunk, hätten sich auf einen Modus vivendi geeinigt, eine Formel, die es ihnen erlaubte, das Gesicht zu wahren, eine rein bilaterale Lösung also, wie sie Arafats Vertrauter Hani el-Hassan schon vorher in einem Interview mit dem SPIEGEL gefordert hatte (siehe Seite 90), nicht ein Diktat der Israelis. Die Libanesen dementierten schon wenig später.

Und ohne die Israelis läßt sich im Libanon ohnehin längst nichts mehr entscheiden. So blieb, wegen des jüdischen Sabbat, zunächst einmal alles offen, war bis zum Freitagabend nicht klar, ob auch die Israelis zu einem - sehr wohl tragbaren - Kompromiß bereit wären oder unverändert auf einem totalen Sieg und einer bedingungslosen Kapitulation beharrten.

Auf den von Bomben zerfurchten Straßen hatte vorige Woche Endkampfstimmung geherrscht. PLO-Kämpfer schütteten aus beschlagnahmten Wagen der Beiruter Müllabfuhr Sandbarrikaden auf die Boulevards. Zwangsverpflichtete S.88 Handwerker schweißten Panzersperren aus T-Trägern und mauerten Splitterschutzstände. In den oberen Etagen verlassener Hochhäuser nisteten sich MG-Schützen ein. Auf der Hamra, der einstigen Prachtstraße der Stadt, brachten Artilleristen schwere Flak in Stellung - kaum eine geeignete Waffe für den Straßenkampf.

Endkampfstimmung verbreitete auch Israels Premier Menachem Begin. »Wir werden den Krieg fortsetzen«, drohte er, »bis wir siegen.« Israels Geduld, sekundierte sein Außenminister Jizchak Schamir, sei »sehr bald« zu Ende.

Doch was sollte das wohl für ein Sieg werden? Noch niemals seit 1948 hatte ein arabisch-israelischer Waffengang so lange gedauert wie Israels unerklärter Krieg gegen die Palästinenser. Kaum jemals seit 1948 hatte ein arabisch-israelischer Waffengang so viel Tod und Verwüstung gebracht.

Die Israelis selbst hatten bis Ende voriger Woche schon an die 300 Soldaten verloren, ein immens hoher Blutzoll für den jüdischen Kleinstaat. Vor allem aber: Das lange Sterben im Libanon hatte schon mehr Todesopfer unter der Zivilbevölkerung gefordert als die vier bisherigen Nahostkriege zusammen.

Dabei war es beinahe irrelevant, welchen Zahlen man Glauben schenkte, ob es 30 000 Ziviltote waren, wie PLO-Chef Jassir Arafat behauptete, 15 000, wie die Libanesen wissen wollten, oder »höchstens ein Zehntel davon«, wie die Israelis verlautbarten.

Die strengen israelischen Zensurbestimmungen und Begins Weigerung, ausländischen Hilfsorganisationen Zugang zu den Schlachtfeldern und den bombardierten Städten und Dörfern zu gewähren, nährten den Verdacht, daß die libanesischen Schätzungen näher an der Wahrheit liegen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz jedenfalls glaubt, der Krieg habe bisher 10 000 Menschen das Leben gekostet.

Und die Welt war sich nahezu einig in der Verurteilung Israels für dieses Leid. Der kleine Judenstaat, dem man bislang - wenn auch oft widerwillig und grollend - noch immer Respekt bezeugt hatte, hier hatte er offenbar den Bogen überspannt, sich nicht mehr nur selbst verteidigt, sondern zum Vernichtungsschlag ausgeholt.

Österreichs - jüdischer - Kanzler Bruno Kreisky schalt die Machthaber in Jerusalem »Halbfaschisten«. Die Briten verhängten im Alleingang einen Waffenboykott gegen Jerusalem. Die EG forderte die Israelis auf, ihre Truppen unverzüglich aus dem Libanon abzuziehen. Frankreichs Francois Mitterrand, der Israel noch Anfang des Jahres unter dem Zorngeschrei der arabischen Welt einen Staatsbesuch abgestattet hatte, warnte vor der »Vernichtung des palästinensischen Volkes«.

Begin antwortete auf die Schelte aus dem Ausland mit Wutausbrüchen und Beschimpfungen. Den Amerikanern bedeutete er, er pfeife auf ihre finanzielle Unterstützung. In der Knesset wütete er pauschal gegen jede Kritik von »deutschen Völkermördern und Söhnen der Völkermörder«. Die Botschaft, die ihm Willy Brandt im Namen der Sozialistischen Internationale geschickt hatte, treibe ihm »Blut vor Augen«.

Schließlich sei die israelische Armee »die humanste der Welt«. Begins Beweis: Vor jedem Flächenbombardement warfen israelische Aufklärer Flugblätter ab, auf denen die Bevölkerung aufgefordert wurde, das Kampfgebiet zu verlassen. Erst danach wurde gebombt und geschossen. Aber dann auch konzentriert und ohne Rücksicht auf Zivilisten, die - freiwillig oder gezwungen - zurückgeblieben waren.

»Wir werden dafür sorgen«, hatte Verteidigungsminister Ariel Scharon gesagt, »daß die PLO aufhört zu existieren.« Dies Ziel war am vergangenen Wochenende greifbar nahe. Doch die Vernichtung der PLO hat ihren Preis: die Vernichtung libanesischer und palästinensischer Zivilisten.

Die PLO-Führung hätte das Schlimmste verhindern können. Doch PLO-Chef Jassir Arafat und seine Freischärler schienen lange Zeit entschlossen, in ihrem auf wenige Quadratkilometer geschrumpften Machtbereich die Zivilbevölkerung in den Untergang hineinzuziehen, wenn sie ihm denn selbst nicht mehr entkommen konnte. Die gespenstischen Szenen, die letzte Woche aus dem PLO-Führerbunker in West-Beirut übermittelt wurden, erinnerten an die letzten Tage in der von Sowjet-Truppen umzingelten Reichskanzlei.

Der libanesische Rundfunk meldete noch am Donnerstag, PLO-Streitkräfte und syrische Armee-Einheiten versuchten, den Bewohnern von West-Beirut die Fluchtwege aus dem eingeschlossenen Stadtteil zu verlegen. Die Palästinenser hätten Zivilisten als Geiseln in ihren Lagern zusammengetrieben - so wie sie mehr als drei Jahrzehnte lang Zivilisten als Geiseln ihrer Vertriebenen-Politik in Flüchtlingslagern gehalten hatten, damit das Palästina-Problem nicht in Vergessenheit geriet. S.89

Die bestürzende Zahl toter Zivilisten rührt auch daher, daß sich die PLO mit den von Palästinensern bewohnten Lagern, Ortschaften und Wohnvierteln tarnte: MG-Nester in öffentlichen Gebäuden, Munitionsdepots in Miethäusern und Tiefgaragen, Terroristentraining in Schulen und Barackensiedlungen, die zum Teil von der Uno-Flüchtlingshilfe finanziert wurden.

Die Palästinenser schickten auch Kinder ins Feuer. Unter den rund 6000 PLO-Kriegern in israelischer Gefangenschaft waren Dutzende von 12-, 13jährigen Jungen, viele von ihnen mit ausländischen Pässen. Von den Israelis aufgefundene Dienstanweisungen der PLO untersagen ausdrücklich, Jugendliche unter zwölf Jahren zu rekrutieren.

Obwohl sie auf ihrem Weg nach Beirut Schutt und Asche zurückließen, blieben die Israelis bemüht, der Welt ihre Operation als Befreiungskampf darzustellen. Wenn es gelänge, die PLO aus dem Land zu treiben, sagte letzten Mittwoch Begins Pressesprecher Uri Porat, werde der Libanon wieder »werden, was er bis 1975 war: eine wunderschöne Demokratie und ein friedliches Land«.

Doch diese schöne alte Welt vermochten nicht einmal Begins Konquistadoren in jenem Libanon zu erkennen, den sie auf höheren Befehl in eine Ruinenlandschaft verwandelt haben. Im Gegenteil: Mitten im Sturmangriff begannen - Trauma aller Feldkommandeure - Soldaten über Sinn und Wahnsinn des Krieges zu debattieren.

Den geachteten Militärkorrespondenten Hirsh Goodman der »Jerusalem Post«, der als Fallschirmjäger der Reserve Freizügigkeit im israelisch besetzten Teil des Libanon genießt, stellten kurz vor Beirut die eigenen Kameraden zur Rede. Mannschaften und Offiziere umringten und beschimpften ihn, weil er und seine Pressekollegen »durch die Verbreitung von erlogenen amtlichen Erklärungen« dazu beigetragen hätten, daß dieser Krieg alle Proportionen sprengt, die die ursprünglichen Kriegsziele gesetzt haben.

Zum erstenmal in der 35jährigen Geschichte des wehrhaften Judenstaates verweigerte ein Großteil der Bevölkerung der kämpfenden Truppe die zivile Rückendeckung und ihren Kriegsherrn den patriotischen Konsens, ohne den die israelischen Blitzkriege der Vergangenheit nicht möglich gewesen wären. Kriegsgegner und Kriegsbefürworter lieferten sich Wortgefechte in den Anzeigenspalten der Tageszeitungen. Reservisten marschierten für den Waffenstillstand.

Sogar in der kämpfenden Truppe rührte sich kräftiger Widerstand gegen das neue Kriegsziel: Israel kämpfte diesmal nicht für das eigene Existenzrecht und sichere Grenzen, sondern gegen das Existenzrecht eines anderen Volkes.

Das ging nicht nur den »Tauben« wie Professor Jishajahu Leibowitz von der Hebräischen Universität zu weit, der die Frontsoldaten aufforderte, sich Premier Begins »judäo-nazistischer« Kriegspolitik zu versagen.

Auch Mordechai Gur, Veteran aus dem Jom-Kippur-Krieg und heute Abgeordneter der Arbeitspartei, fühlte sich von Verteidigungsminister Ariel Scharon »auf den Leim geführt«.

Sogar die als unanfechtbar gerühmte Israel-Solidarität der US-Juden zeigte Risse. Als Begin vorletzte Woche bei der »Israel Bonds Organization« Mitte Juni in New York eine Kriegssonderspende von 35 Millionen US-Dollar abkassierte, hielten ihm orthodoxe Juden vor dem Eingang Plakate mit antizionistischen Parolen entgegen.

Die »Aufräum-Operation« im Libanon traf schließlich auch die eigene junge Generation. »Wir haben Kinder zur Welt gebracht und nicht Kanonenfutter«, stand auf einem Transparent, das jüdische Frauen über einem Zelt gleich vor dem Fenster von Premier Begins Residenz aufgezogen hatten. In dem Kleinstaat mit etwa soviel Einwohnern wie in Groß-Berlin sind ein paar hundert Gefallene eine schwere Bürde.

Israels Schlag gegen die PLO war auch ein Schlag gegen die eigene Volkswirtschaft. Begins Soldaten haben in gut 14 Tagen 10 bis 15 Prozent des israelischen Bruttosozialprodukts eines Jahres verschossen. Zum Ausgleich hat die Regierung drastische Steuererhöhungen verfügt, welche die von Exportflaute und dreistelligen Inflationsraten geschüttelte Wirtschaft des Judenstaates vollends aus der Balance bringen können.

Der gigantische Materialaufwand legte den Verdacht nahe, daß Premier Begin und sein Feldherr Scharon - die der Kolumnist der Tel Aviver »Haaretz« noch wenige Wochen zuvor als »Max und Moritz der israelischen Politik« veralbert hatte - von Anfang an vorhatten, diesmal den letzten entscheidenden Schlag gegen die Palästinenser zu führen. Nur wenige Tage vor dem Beginn der Invasion menetekelte Stabschef General Rafael Eitan: »Eine rein militärische Lösung des PLO-Problems ist durchaus denkbar.« Wenige Tage später wußte die Welt, was damit gemeint war.

Der Zeitpunkt war nicht schlecht gewählt: Die Falklandkrise vor dem Höhepunkt, danach Fußball-WM in Spanien. Das verhieß optimale Ablenkung.

Den aktuellen, propagandistisch aufgeblasenen Anlaß zum Losschlagen lieferte der Mordanschlag auf den israelischen Botschafter in London am Abend des 3. Juni. Die Operation »Schlom Hagalil« (Friede für Galiläa) begann drei Tage später wie eine der üblichen grenzüberschreitenden Polizeiaktionen, die dem elitären Judenstaat von der Weltöffentlichkeit stillschweigend als Gewohnheitsrecht zugebilligt wurden.

Die Armee sollte einmal mehr unter den PLO-Stellungen im südlichen Libanon aufräumen, aus denen die Siedlungen in Galiläa häufig - obschon längst nicht so häufig, wie Scharon behauptet - mit Katjuscha-Raketen beschossen worden waren. Die Zeit des »ungestraften Luxus-Terrors«, meldete Begin-Pressesprecher Porat, sei vorbei.

Man werde sich jedoch darauf beschränken, die PLO-Verbände aus den grenznahen Gebieten zu verjagen, und im übrigen bemüht sein, die Konfrontation mit den syrischen »Ordnungstruppen« im Libanon zu vermeiden. S.91

Doch der knapp 40 Kilometer breite Sicherheitskordon, auf den sich der Waffengang nach heeresamtlicher Mitteilung beschränken sollte, war schnell durcheilt. In drei Tagen hatten die jüdischen Bataillone den ganzen südlichen Libanon aufgerollt und sich mühelos bis in die Außenbezirke der Hauptstadt Beirut vorgekämpft. Wichtiger noch: Die strategisch wichtige Landstraße zwischen Beirut und Damaskus und die von Syrern besetzte Bekaa-Ebene lagen im Bereich israelischer Artillerie. Solche Chancen läßt ein Kriegsherr ungern ungenutzt.

Die Bombardierung der syrischen Raketenstellungen im Bekaa-Tal fand noch die Zustimmung der israelischen Öffentlichkeit. Doch als die mörderischen Auswirkungen des »Krieges für den Frieden« (Außenminister Schamir) bekannt wurden, schlug die Stimmung um. In Tel Aviv gingen - zum erstenmal in Kriegszeiten - 20 000 Demonstranten auf die Straße und mahnten auf Spruchbändern: »Wir haben keine Zukunft auf den Gräbern der Palästinenser.«

Professor Kalmann Altmann vom »Technion« in Haifa malte gar düstere Visionen von künftigen PLO-Führern an die Wand, »mit denen palästinensische Mütter heute schon schwanger gehen«.

Doch Menachem Begin weiß die Mehrheit der Israelis unverändert auf seiner Seite. Deshalb fällt es ihm nicht schwer, die weltweite Kritik voller Empörung zurückzuweisen. Und da er weiß, auf welche Feindbilder Amerikas Präsident Ronald Reagan anspringt, nutzte er die Kritik der Europäer sogar noch zu seinem Vorteil. Flugs strichelte er das Bild einer von Europa schnöd verlassenen westlichen Ordnungsmacht, die ihren Schicksalskampf allein ausfechten muß.

Ordnungspolitiker Reagan, der Begin noch in der Vorwoche zu maßvollerer Gangart ermahnt hatte, reagierte wie erwartet. Am Donnerstag ließ er bekanntgeben, die Regierung der Vereinigten Staaten ginge mit Jerusalem in der Überzeugung konform, daß die PLO aus dem Libanon verschwinden müsse.

Dabei trennt Europa von Amerika in der Palästinenserfrage weit weniger, als die harschen Worte und Gesten vermuten lassen. Tatsächlich paart sich das durchaus ehrlich empfundene Mitgefühl über das Resultat der israelischen Gewaltaktion mit Hintergedanken wie: Gottlob ein Unruhestifter weniger auf der Welt. Niemand erwog auch nur, die Israelis - so wie noch vor knapp drei Monaten die Argentinier - für ihre Völkerrechtsverletzung mit einem Handelsboykott zu strafen.

Eher noch reservierter verhielt sich das arabische Lager: Niemand rührte einen Finger, um den bedrängten Brüdern in Beirut beizustehen. Zur Sondersitzung der Araberliga, die fast 35 Jahre lang vom Palästinenserproblem zusammengehalten worden war, schickten die meisten Mitgliedstaaten Delegierte der zweiten oder dritten Diplomaten-Garnitur. Kein Wort vom Ölembargo, mit dem die Scheichs sonst schnell bei der Hand sind. Kein Wort von militärischem Beistand.

Die Konferenz endete ohne Kommunique. Nicht einmal eine bescheidene Geste der Solidarität ließen sich die Araber entlocken. Der Meldung, die Regierung von Saudi-Arabien sei bereit, eine Flotte von Jumbo-Jets zur Evakuierung der eingekesselten PLO-Soldaten zur Verfügung zu stellen, folgte nur Stunden später aus Riad das Dementi. Die 2000 Mann starke libanesische Armee tat so, als ginge sie der Einmarsch fremder Truppen nichts an. Sie rührte sich nicht aus den Kasernen.

Starke Töne kamen lediglich aus Tripolis. Der Libyer Gaddafi rief die Araber auf, »unverzüglich Streitkräfte zu entsenden, die an dem ewigen Kampf in Beirut teilnehmen«. Doch der Appell blieb ohne Echo. Auch Gaddafi schickte keine Streitkräfte.

Die Passivität der Araber stand der vorläufigen Lösung des Palästinenser-Problems im Libanon bis zum Wochenende im Weg.

Kairo und Riad hatten sich zwar als Standorte für eine - natürlich zivile - palästinensische Exilregierung angeboten. Aber eine halbe Division schwer bewaffneter Berufsheimatloser, die außer Schießen und Bombenlegen nichts gelernt haben, wollten Präsident Mubarak und König Fahd nicht übernehmen. Auch die konservativen Scheichtümer kamen als Ersatzheimat für die militant linken Asylanten kaum in Frage.

Jassir Arafat hatte Mühe, trotz aller Aussichtslosigkeit jene ungeminderte Bereitschaft zum Durchhalten glaubhaft zu machen, die er öffentlich ("Ich werde Beirut ebensowenig verlassen, wie Churchill im Zweiten Weltkrieg London verlassen hat") für sich reklamierte. »Von unseren Oberen«, beschwerte sich »Fatah«-Kämpfer Chalid Mansur gegenüber dem SPIEGEL, »nehmen die Israelis mit Sicherheit keinen gefangen, die setzen sich rechtzeitig per Erste-Klasse-Flug ab, bevor sie eine Generation junger Leute in den Tod schicken.«

Jenseits der »grünen Linie«, die den moslemischen Westteil Beiruts vom christlichen Ostteil trennt, vergnügte sich derweil die Christen-Jeunesse bei Surf und Wasserski. Während die Palästinenser sich auf den tödlichen Showdown vorbereiteten und Hunderte von Obdachlosen sich im Sanajey-Park ängstlich unter dem Geheul israelischer Bomber duckten, entfaltete sich nur ein paar hundert Meter weiter ein durchaus ansehnlicher Abglanz jener Pracht, die Beirut als Playground des Nahen Ostens einst berühmt gemacht hat.

Ältere Juden hätten einen Hauch von Erinnerung an den Verzweiflungskampf S.92 gegen die Deutschen im Warschauer Getto verspüren müssen: Während die SS exekutierte, setzte gleich nebenan der Rummelplatz für die polnische Bevölkerung seinen Betrieb fort.

Die Anführer des jüdischen Aufstands starben damals mit ihren Gefährten.

Die PLO-Führer aber rückten vorige Woche mehr und mehr aus dem Blickfeld. Arafat hatte keine feste Adresse mehr. Georges Habasch, Chef der moskaufreundlichen »Volksfront für die Befreiung Palästinas« (PFLP), zeigte sich kurz im »Commodore Hotel«, um den Resten der dort versammelten Westpresse mitzuteilen, daß »Saudi-Arabien und die amerikanische Erdölindustrie« an dem ganzen Elend schuld seien.

Die Führungsspitze der PLO, seit jeher tief zerstritten, spaltete sich unter dem Einfluß des Desasters noch tiefer. Die libanesische Regierung und US-Unterhändler Philip Habib stellten zwar einen Katalog von Bedingungen zusammen, den sie aus Gesprächen mit den Palästinensern erfahren zu haben glaubten. Doch mit veränderter Lage änderten sich ständig auch die Bedingungen, und niemand konnte zudem sagen, von welcher PLO-Fraktion sie akzeptiert wurden und von welcher nicht.

In völliger Fehleinschätzung ihrer Lage rechnete die PLO mit einer Kooperationsbereitschaft der Libanesen, die es nur noch bedingt gab. Der PLO-Vorschlag, die Palästinenser zu drei Bataillonen zusammenzufassen und dann der libanesischen Armee einzugliedern, erntete bei den Libanesen nur Kopfschütteln. Die Regierung des Libanon-Premiers Schafik el-Wassan wollte der PLO nach dem Abzug der Hauptstreitmacht nicht einmal bewaffnete Lagerpolizisten für ihre Flüchtlingscamps konzedieren.

Der Premier begnügte sich zwar mit einer schrittweisen - statt sofortigen und vollständigen - Entwaffnung der Palästinenser. Aber die christlichen Milizen unter Pierre Gemayel (der gute Aussichten hat, nächster Libanon-Staatschef zu werden) lehnten alle Konzessionen an die PLO kategorisch ab. Sie bestanden zunächst auf bedingungslosem Abzug - wie die Israelis.

Sie forderten nicht einmal den Abzug der Israelis, obwohl die anfängliche Sympathie für die Befreier zerrann, je länger sie blieben. Noch während die israelischen Panzer nach Norden rollten, fluteten libanesische Christen in die von Moslems geräumten Gebiete zurück.

Am deutlichsten zeigte sich das entspannte Verhältnis zwischen Besatzern und Besetzern in Ost-Beirut. Israelische Landser flanierten zwischen libanesischen Passanten. Im »Kasr el-Bacha«, einem vor dem Krieg berühmten Feinschmeckerlokal, dinierten während der Mittagszeit einträchtig libanesische Geschäftsleute und israelische Soldaten. Derweil kurvte eine mobile Wechselstube mit israelischem Nummernschild, die libanesische Pfunde gegen israelische Schekel eintauscht, auf der Suche nach einem Parkplatz um die Piazza. Aufschrift auf dem Lkw-Chasis: »Bank Leumi«.

Von der Vision eines unabhängigen Libanon von Israelis Gnaden lassen sich die libanesischen Christen nicht schrecken. Die Präsenz der 90 000 Israelis empfanden sie, zunächst einmal, weit weniger drückend als die der Palästinenser. Hauptsache: Frieden.

Gemayel sagte am Donnerstag, er werde sich dafür einsetzen, daß alle Ausländer - »Palästinenser, Syrer, Christen und auch die Uno-Truppen« - den Libanon so bald wie möglich verlassen. Doch was dann?

Der Friede jedenfalls ließ auf sich warten. Während sich in Beirut die Palästinenser zum möglichen letzten Gefecht eingruben, wurden aus den Bergen bereits neue Zusammenstöße gemeldet - diesmal zwischen Drusen und christlichen Falangisten.

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