TÜRKEI Liebe im Herzen
Bülent Ersoy ist eine fromme Frau. Die türkische Schnulzendiva betet nach eigener Behauptung fünfmal täglich, fastet im Ramadan und trägt privat ein Kopftuch. Sie tritt nicht vor ihr Publikum, ohne Allah in der Garderobe vorher um Beistand gebeten zu haben. Im Juni ist sie 45 geworden - höchste Zeit, wie sie meint, die vornehmste Muslimpflicht zu erfüllen und im Frühjahr nach Mekka zu pilgern.
Die Wallfahrerin wird Aufsehen erregen in Saudi-Arabien. Denn Bülent Ersoy, ein Superstar der türkischen Musikszene, ist transsexuell. Bis 1981 war sie ein Mann. Und auch nach der Geschlechtsumwandlung stellt sie beruflich wie privat einen Typ Frau dar, der nicht eben dem herkömmlichen Bild einer hingebungsvollen Muslimin am häuslichen Herd entspricht.
Die Kleider, in denen sie auftritt, sind oft hauteng und manchmal bis zum Nabel ausgeschnitten. Die schwarze Federboa ist fester Bestandteil ihrer Bühnengarderobe. In einem aktuellen Musikvideo ist die Sängerin beim Bad in einer Wanne voll Milch zu sehen.
Dazu verbreitet die Presse täglich Klatschmeldungen über sie und ihren neuen Liebhaber, einen 18jährigen Deutsch-Türken aus Berlin. Man sollte meinen, Ersoys angekündigte Mekka-Reise sei für glaubensstarke Muslime eine Provokation.
Doch der türkische Staatsislam unterstützt ihren Wunsch. »Der Koran schreibt vor«, so Ismail Öner vom Hohen Religionsausschuß in Ankara, »daß jeder, der gesund ist und die Mittel dazu besitzt, die Hadsch antreten muß. Ob er sein Geschlecht hat ändern lassen, ist unerheblich. Hauptsache, er trägt die Liebe zu Allah in seinem Herzen.«
Ersoys Plan macht deutlich, daß Islam nicht gleich Islam ist in der Türkei. Während die fundamentalistische Refah-Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan aus dem Land gern einen Gottesstaat machen würde, wacht in Ankara eine staatliche Religionsbehörde darüber, daß der Glaube nicht in Widerspruch zu den Verfassungsgrundsätzen der laizistischen Republik gerät.
Das »Präsidium für religiöse Angelegenheiten« ("Diyanet isleri reisligi") wurde 1924 vom Republikgründer Mustafa Kemal geschaffen, um den Islam unter staatliche Kontrolle zu bringen. Es verwaltet die rund 72 000 Moscheen des Landes, bildet Muezzins aus und organisiert die Pilgerfahrten nach Mekka - alles unter den stahlblauen Augen Atatürks, der das Kalifat und die arabische Schrift abschaffte und den Islam am liebsten ganz aus der Türkei verdrängt hätte. Sein Porträt hängt in jedem Büro der Religionsbehörde wie in jedem staatlichen Gebäude an der Wand.
Ein populärer Fall wie der von Bülent Ersoy kommt den staatlichen Glaubensverwaltern gelegen, um eine aufgeklärte Haltung zu demonstrieren - nicht zuletzt den Militärs gegenüber, die mit Argwohn die zunehmende Radikalisierung der Islamisten beobachten.
Bülent Ersoy steht in der Türkei über den Parteien; alle summen ihre melancholischen Weisen von Liebe, Tod und Elend mit, die Gemäßigten ebenso wie die Fundamentalisten, die Linken genauso wie die Faschisten.
»Selbst Erbakan hört meine Lieder«, sagt Ersoy, »er mag nach außen fromm und unversöhnlich tun, in seinem Herzen ist er Türke, und kein Türke kann sich meiner Musik entziehen.«
Diese Anerkennung genoß sie nicht immer. Nach dem Militärputsch von 1980 gehörte Ersoy zu den Verfolgten des Regimes, die Generäle duldeten keine Männer in Frauenkleidern. Ersoy wurde, wie fast alle Istanbuler Transvestiten, mehrmals verhaftet und mißhandelt; ihre Auftritte waren verboten.
1981 unterzog sie sich in London einer Geschlechtsumwandlung. Da das Bühnenverbot aber auch für »Frau« Ersoy bestehen blieb, ließ sie sich vier Jahre lang in Deutschland nieder. In der Türkei, so das Massenblatt »Hürriyet«, gingen in dieser Zeit zehn Millionen Bülent-Ersoy-Kassetten über den Ladentisch.
Erst 1988 kam dann die späte Genugtuung: Der noch von den Generälen an die Macht gebrachte Ministerpräsident Turgut Özal überreichte Ersoy persönlich einen neuen Paß, in dem unter Geschlecht »weiblich« eingetragen war. Ersoy war der erste Türke, der sich offiziell vom Mann zu einer Frau gewandelt hatte. Özals Gattin schickte Blumen.
Seither warten die türkischen Transsexuellen auf ein solidarisches Wort ihrer »großen Schwester«. Anders als der gefeierte Star, der viele Freunde in der Istanbuler Schickeria hat, leiden sie nach wie vor unter alltäglicher Diskriminierung und polizeilichen Übergriffen.
Doch Ersoy lehnt es ab, öffentlich über ihre Transsexualität zu sprechen. Sie ist seit ihrer Geschlechtsumwandlung daran gewöhnt, wie eine Dame behandelt zu werden. Als während der Europa-Tournee auf dem Frankfurter Flughafen ein Landsmann sie mit »Bülent Bey«, »Herr Bülent«, ansprach, rastete sie aus. Ersoys Leibwächter mußten den Unglücklichen in Sicherheit bringen.
Auch der andere Superstar der türkischen Musikszene, der im vergangenen Jahr verstorbene Zeki Müren, hat sich nie öffentlich geoutet, obwohl seine homosexuelle Veranlagung offensichtlich war.
Der Lohn für seine Diskretion: Müren bekam praktisch ein Staatsbegräbnis, Zehntausende kamen zur Trauerfeier in seine Geburtsstadt Bursa. Linke wie Rechte schickten Beileidsbriefe, Staatspräsident Demirel nahm Abschied von »einem Freund«, Generalstabschef Hakki Karadayi ließ bewegt ausrichten: »Zeki Müren hat sein Vaterland geliebt.« In der Tat, einen großen Teil seiner Millionenhinterlassenschaft vermachte er der Armee.
Ersoy, die eng mit Müren befreundet war, hat sich ebenfalls mit den Machthabern in Ankara und der Doppelmoral arrangiert: »Ich bin ein Kind der modernen Türkei, ich liebe dieses Land. Wer von mir ein Wort der Kritik über diesen Staat oder die Militärs erwartet, der wartet vergebens.«