HITLER Lieber Gustl
Ich richte mein Buch so ein«, schrieb der Hitler-Biograph Franz Jetzinger im Sommer 1949 in einem Brief, »daß ich... natürlich immer auf den ,Gustl' verweise, kann ja gar nicht anders, aber stets so, daß der Leser sich denken muß: Jetzt möchte ich doch wissen, wie eigentlich der Gustl die Sache ausführlicher darstellt'.«
Jetzingers Brief war an den ehemaligen Kapellmeister und Stadtamtsleiter von Eferding, August Kubizek, gerichtet. August ("Gustl") Kubizek war von 1904 bis 1908 eng mit Hitler befreundet gewesen und hatte lange Zeit mit ihm das Zimmer geteilt. Über seine Erinnerungen veröffentlichte Kubizek 1953 ein Buch unter dem Titel »Adolf Hitler, mein Jugendfreund"* (SPIEGEL 41/1953). Kubizek starb im Dezember des Jahres 1956. Erst einige Monate nach seinem Tod erschien Jetzingers Hitler-Biographie mit dem Untertitel »Phantasien, Lügen - und die Wahrheit«.
Ob die Leser beim Studium von Jetzingers Hitler-Biographie wirklich neugierig darauf sind, »wie eigentlich der Gustl die Sache ausführlicher darstellt«, ist zumindest äußerst fraglich. Jetzingers Schrift liest sich nämlich zuweilen, als käme es dem Autor weniger auf eine Darstellung der Jugend Hitlers als auf den Nachweis an, daß Kubizeks Darstellung falsch sei. Jetzinger findet, Kubizeks Bericht sei ,weiter nichts als ein Märchenbuch«.
Was Jetzinger für sich in Anspruch nimmt - »Ich schrieb ohne Liebe zu Hitler, aber auch tunlichst ohne Haß gegen
ihn, will einzig nur der Wahrheit dienen« -, möchte er für den Autor Kubizek nicht gelten lassen. »Es geht denn doch wirklich nicht an«, klagt Jetzinger, »über einen Menschen, der so- viele entsetzliche Greueltaten persönlich auf dem Gewissen hat, derart verherrlichende Märchen zu dichten und dadurch für die Zukunft jede ernste, wahrheitsgetreue Geschichtsschreibung zu behindern.«
Diesen Vorwurf aber, daß Kubizek »jede ernste, wahrheitsgetreue Geschichtsschreibung« behindere, hat Jetzinger keinesfalls immer erhoben. Der Kapellmeister Kubizek war vielmehr als einziger greifbarer Jugendfreund Hitlers aus den Jahren 1904 bis 1908 für den Hitler-Biographen Jetzinger ein wesentlicher Zeuge. Er konnte darüber Aufschluß geben, was Hitler in diesen Jahren getrieben hatte. Zudem durfte Kubizek als politisch integer gelten. Er hatte aus seiner Jugendfreundschaft zu Hitlers Lebzeiten kein Kapital geschlagen und sogar Hilfsangebote Hitlers freundlich abgewiesen.
Für seine Hitler-Forschungen wollte sich Jetzinger daher der Zeugenschaft Kubizeks versichern. Am 2. Dezember 1948 schrieb der damalige Landesarchivar von Oberösterreich an Kubizek, er beschäftige sich mit dem Entwicklungsgang Hitlers und wisse sehr wenig über die Wiener Jahre. Da würden nun Sie«, schrieb Jetzinger, »der Geschichtsschreibung einen geradezu unschätzbaren Dienst erweisen, wenn Sie Ihr damaliges Zusammenleben mit Hitler schildern würden...«
Hitler-Freund Kubizek hielt allerdings den Zeitpunkt für verfrüht, seine Erinnerungen bekanntzugeben. Überdies ließ er
den Archivar Jetzinger wissen: »Jedenfalls würde ich allfällige Veröffentlichungen selbst herausgeben.« Dem Kubizek hatte seine Hitler-Freundschaft zwar keine Vorteile, aber allerlei Ungemach eingebracht. Er war von den Amerikanern sechzehn Monate in ein Lager gesperrt und nach dreißig Dienstjahren ohne Ruhegehalt entlassen worden.
Nun aber begann der Landesarchivar Jetzinger den »einzigen Bestandzeugen« von vier Hitlerjahren wie eine Braut zu umwerben. Er sagte dem Kubizek Unterstützung gegen die ungerechtfertigte politische Verfolgung zu ("Es ist selbstverständlich, daß ich mich auch für Sie verwenden würde, wobei mir eine günstige Lösung Ihres Falles gar nicht so schwierig scheint") und schmeichelte dem Kapellmeister nach Kräften. »Sie scheinen dem Adolf die Treue bewahrt zu haben. Das achte ich ungemein ... Nicht bloß ein Freund, der lügt, sondern auch ein Freund, der zu Lügen schweigt, taugt nichts! Da würde mir der Adolf ganz bestimmt recht geben.«
Zudem riet Jetzinger dem Kubizek dringend ab, seine Kenntnisse über Hitler länger zurückzuhalten. Jetzinger 1948: »Sie wollen mit Ihren Enthüllungen warten, bis der geeignete Zeitpunkt kommt... Glauben Sie, in zehn Jahren interessiert sich noch ein Mensch für Hitler? Interessieren wird sich für ihn dann einzig nur noch die streng wissenschaftliche Geschichtsforschung; dann können Sie Ihre Enthüllung im günstigsten Fall in einer geschichtswissenschaftlichen Fachzeitschrift bringen, falls man sie Ihnen (ab)nimmt. Verleger für ein Buch finden Sie dann keinen mehr
Auf festem Boden
Immerhin begann Kubizek nun doch, dem Jetzinger auf seine zahlreichen Fragen zu antworten. Im Januar 1949 trafen sich die beiden Herren zum erstenmal in Linz. »Wenn ich Sie um Freundschaft bat«, schrieb Jetzinger einen Tag darauf an Kubizek, »so war das keine bloße Phrase ... Ich hatte bei der gestrigen Unterredung das Gefühl - und habe es heute ebenso -, jetzt endlich auf festem Boden zu stehen, von wo aus man in das fast undurchdringliche Dunkel gerade der entscheidenden Jahre seines (Hitlers) Entwicklungsganges hineinleuchten kann.«
Allmählich gab der naive Künstler Kubizek den Werbungen des geschickten Archivars nach. Seit dem 20. Februar 1949 richtete Jetzinger seine Briefe schon an den »lieben Freund«, später sogar an den »lieben Freund Gustl«. Er erhielt von Kubizek Unterlagen und lobte: »Von dem, was Sie da schreiben, ist nichts drin, was nicht voll und ganz in das Bild passen würde, das ich vom Adolf in jener Zeit bereits entworfen habe, aber die Ausmalung im Detail fehlte mir... Sie haben die Sache noch sehr gut in Erinnerung.«
Der Archivar bekennt dem Kapellmeister, daß er dessen Angaben und Auskünfte stets genau überprüfe: »Selbstverständlich tu ich das nicht aus Mißtrauen gegen Sie. Ich gebe es Ihnen schriftlich, daß ich bis jetzt Ihnen noch nicht auf die geringste Unrichtigkeit draufgekommen bin.«
Was Jetzinger zu lesen bekam, nannte er »eine geradezu einzigartige Geschichtsquelle«. Er sicherte dem Jugendfreund Hitlers zu: »Sie können . . . sicher sein, daß von dem, was Sie mir zur Photokopierung geben, niemand etwas erfährt.«
Als Kubizek dann freilich doch eine Auswertung seiner Erinnerungen und sein Photo in einer Illustrierten entdeckte, gab Jetzinger an, »das Opfer einer großen Gaunerei« geworden zu sein. Die Freundschaft Jetzingers für Kubizek aber endete endgültig, als Kubizeks Erinnerungsbuch »Adolf Hitler, mein Jugendfreund« erschienen war. Hitler-Biograph Kubizek war drei Jahre eher fertig geworden als Hitler-Biograph Jetzinger.
In der Tat konnte Jetzinger in Kubizeks Buch einige Ungenauigkeiten nachweisen, die er in einem Brief aufzählte. Die Überschrift dieses Briefes lautete wieder: »Sehr geehrter Herr Kubizek«. Im Vorwort zu seiner Hitler-Biographie beschwert sich Jetzinger über Gustls Memoiren: »Da dieses Buch sich den Anschein geschichtlicher Wahrheit gibt, muß ich mich leider eingehender damit befassen.«