Die Angeklagtenbänke des lichtdurchfluteten Schwurgerichtssaales im neuen Landgericht Hannover scheinen nicht für Journalisten gemacht, sondern für Analphabeten: Keine Schreibgelegenheit, kein pultähnlicher Gegenstand. Immerhin, welch fulminanter Wechsel im Vergleich zu der traurigen Gerichtsstube, in der ich namens des SPIEGEL vor acht Jahren mit einem hart erkämpften Freispruch meinen Einstand vor der hannoverschen Justiz hielt. Der Staatsanwalt hatte auf drei Monate Gefängnis angetragen, und mir war mehr als bänglich zumute.
Nun, die Justizverwaltung mausert sich, und ihre Kunden mausern sich. Zum Schmeißer-Prozeß, zu unserer Abschiedsvorstellung vor einem hannoverschen Gericht - inzwischen ist Hamburg zuständig - hatten nicht nur die Veranstalter einen ungewöhnlichen Aufwand getrieben; wir selbst erschienen stark armiert, in der Mitte der Turm Reinhold Maier aus Stuttgart, für sich ganz allein eine »fleet in being«. Wenn General Gruenther solch eine Phalanx zur Verfügung hätte, wie die fünf Angeklagten dieses Prozesses sie hatten, brauchte uns allen um das Schicksal der Nato nicht bange zu sein.
Wir waren in der festen Absicht nach Hannover gekommen, keine kleinen Brötchen zu backen. Schließlich wußten wir, was wir Professor Dahs, dem ständigen Rechtsvertreter der Bundesregierung, schuldig waren. Nachdem die Hauptverhandlung einmal angefangen hatte, hielten wir einen Vergleich für ausgeschlossen, und sollte gekämpft werden, dann ohne Rücksicht auf Verluste. Zumindest »taktische Atomwaffen« sollten dann eingesetzt werden.
Wenn der Prozeß trotzdem ein so überraschendes und jähes Ende fand, so müssen wir uns bei allen Presseleuten und Geheimdienstlern, die uns die Ehre gegeben hatten, entschuldigen. Verzeiht, Ihr Freunde, wir hätten Euch zu Gefallen gern drei Wochen die harten Holzbänke gedrückt. Vergebt uns, Ihr hattet es nicht verdient, daß so schnell Schluß war, vergebt uns SPIEGEL-Leuten um etwaiger früherer Verdienste willen, die wir um Eure Spalten haben. Aber Prozeß führen ist eine eigene Kunst, und nicht immer gewinnt, wer am längsten sitzt.
Wir hatten zwei Ziele: Erstens wollten wir selber freigesprochen werden, und zweitens wollten wir unsere Mitangeklagten Schmeißer und Ziebell freibekommen. Nicht wir waren darum eingekommen, daß über den Wahrheitsgehalt der am 9. Juli 1952 im SPIEGEL verbreiteten Behauptungen gerichtlich befunden würde. Man verletzt den Respekt nicht, den wir den Gerichten schulden, wenn man feststellt, daß sie ihrer ganzen Arbeitsweise nach nicht tauglich sind, politische Tatbestände zu beurteilen. Wir verstehen gut, daß die Öffentlichkeit eine Klärung der Angaben Schmeißers erwartete. Indessen, in den über drei Jahren, die zwischen der Hauptverhandlung und dem Artikel lagen, hatten wir selbst den Glauben, eine Klärung lasse sich vor dem Strafrichter erreichen, verloren.
Warum hatte man Schmeißer zu uns auf die Anklagebank gesetzt? Es ging um die Verbreitung eines SPIEGEL-Artikels.
Schmeißer hatte den Artikel nicht angeboten und nicht gewollt, das stand fest. Er war ein Hauptgewährsmann, das stand auch fest. Wegen seiner Protokolle war er nicht angeklagt worden. Warum also saß er bei uns auf der Anklagebank und nicht auf der Zeugenbank?
Wenn die ausländischen Zeugen sich nicht dingfest machen ließen, mochte das hingehen; aber welchen Zufällen ist die Wahrheitsfindung ausgeliefert, wenn die eine Partei es in der Hand hat, jenen Zeugen, auf die sie Einfluß hat, kurzerhand die Aussagegenehmigung zu verweigern? Warum hat man selbst Otto John diese Genehmigung versagt, bei dem doch gar nicht feststand, ob er würde kommen dürfen und wollen? Hatte man Angst, er könnte um Rück-Asyl nachsuchen?
Dabei hätte John interessante Angaben über die seinerzeitige Arbeitsweise des hessischen Verfassungsschutzes machen können, für den Schmeißer tätig war. Dem damaligen Chef dieses hessischen Amtes nun wiederum hatte der hessische Innenminister die Genehmigung verweigert, zu bestimmten Komplexen auszusagen. Und was soll man zu jenem Angestellten des Bundesverfassungsschutzamtes sagen, der es unternahm, den 15 Jahre alten angehenden Schwager des Hans Konrad Schmeißer zu einem Aktendiebstahl bei Schmeißer anzustiften? Auch dieser Verfassungsschützer hat keine Aussagengenehmigung, sonst könnte sich der Herr Minister für Bundesmoral dieses Kindesmißbrauchs annehmen.
Wir wollten unangetastet und ohne einen Schritt zurückzuweichen den Prozeß überstehen. Dazu war es erwünscht, die Anklagebank von unnützen Zutaten freizumachen. Veröffentlicht hatten die SPIEGEL-Leute, nicht Schmeißer und Ziebell, beschlagnahmt worden war der SPIEGEL. Vor Gericht gehörten die SPIEGEL-Leute, niemand sonst. Schmeißer auf der Anklagebank, das bedeutete eine ständige Einladung an die Gegenseite, diesem in den letzten fünf Jahren arg mitgenommenen Kandidaten der Rechte einen Pfad zu eröffnen, der etwas anders ausgesehen hätte, als der schließlich beschrittene.
Wir mußten also versuchen, Schmeißer und Ziebell von unserem Verfahren abzutrennen, dann konnten wir, die eigentlichen Angeklagten, als Wellenbrecher fungieren. Dem früheren Ministerialrat Ziebell, der uns seinerzeit über Schmeißers Zuverlässigkeit Auskunft gegeben hatte, warf die Anklage vor, uns Schmeißers Protokolle aus dem hessischen Verfassungsschutz zugänglich gemacht zu haben. Sein Verteidiger war der Rechtsanwalt Christian Oestmann, der sich selbst als Klein-Kind in hellsichtiger Vorausahnung seines künftigen Wesens den Namen »Kille« zugelegt hat. »Kille« Oestmann blockierte das Gericht solange mit Anträgen, bis sein Mandant, Schirm eingerollt und Monokel
in der Westentasche, freundlich winkend und von Segenswünschen begleitet der Anklagebank entschritt. Man hatte versäumt, den Eröffnungsbeschluß rechtswirksam zuzustellen*). Rechtsanwalt Oestmann blieb gleichwohl als »Beobachter« auf der Verteidigerbank sitzen, mit der Begründung, er müsse Herrn Ziebell fortan bei dessen Zeugenaussagen beraten.
Jetzt war Schmeißers Rechtsanwalt Dr. Ziegler am Zuge. Er rügte den Eröffnungsbeschluß, der in der Tat nicht erkennen ließ, was denn nun in dem Artikel »Am Telefon vorsichtig«, der auch nicht zitiert war, eigentlich beleidigend sei. Das Gericht, vor der Notwendigkeit, sich selbst ein zweites Mal zu desavouieren, lehnte den Antrag ohne Rücksicht auf die so geschaffene Revisionslücke ab. Traurig blickte Schmeißer zur Tür hin, durch die Ziebell entschwunden war.
Seine schwere Stunde nahte, da er seinen stürmischen Lebenslauf vortragen mußte. Drei Stunden beichtete er in achtbarer Form. Dann mußte er mit anhören, wie jene Protokolle verlesen wurden, die Ziebell mit ihm im hessischen Verfassungsschutzamt zu Papier gebracht hatte und die wiederum Beichtgeheimnisse enthielten. Der Vorsitzende der Großen Strafkammer, Landgerichtsdirektor z. Wv. Raatz, las aus Schmeißers Scheidungsakten die pikantesten Stellen vor. Die Vernehmung zur Person endete unmittelbar vor Schmeißers Erlebnissen in Bonn und Köln. Am Abend dieses ersten Verhandlungstages war Schmeißer ehrlich fertig.
Als wir uns am nächsten Morgen pünktlich um 8 Uhr einfanden, roch die Atmosphäre nach Überraschungen. (Schmeißer: »Mein Wohlbefinden am Morgen hängt davon ab, wie die Nacht war.") Verhandlungen hatten in der Nacht stattgefunden. Schmeißers Anwalt beschwor uns, seinem Mandanten den Weg in ein neues Leben nicht zu verbauen. Schmeißer stehe dicht vor dem juristischen Staats-Examen, das selbst durch einen Freispruch mit anschließender Revision unmöglich gemacht würde. Zudem seien Schmeißers Nerven nicht so gut, wie es nach außen hin scheine. Kurzschluß-Handlungen seien nicht ausgeschlossen. Kurzum, er sehe eine Möglichkeit, die er mit der Gegenseite sondiert habe.
Wir waren ehrlich verblüfft. Für uns stellte sich die Frage, ob wir Schmeißer allein weiterverhandeln lassen sollten, oder ob wir, gewissermaßen »aus einer Position der Stärke heraus«, Schmeißers Verhandlungen an uns ziehen wollten. Mir war die Antwort nicht zweifelhaft. Uneinigkeit auf der Anklagebank konnten wir uns nicht leisten. Um uns von seinem ehrlichen Willen zu überzeugen, bot Schmeißer uns noch an, uns jene Kosten zu erstatten, die uns auch das Gericht im Falle eines Freispruches wegen erwiesener Unschuld hätte zurückerstatten müssen. Schmeißer sagte, er sei im Augenblick zur Zahlung nicht in der Lage, hoffe aber zuversichtlich, bald die Mittel in Händen zu haben. Damit war der Weg zu einer Regelung offen.
Hinterher hat in einigen Zeitungen gestanden, ich sei gegen das Endergebnis gewesen.
*) Solche Unterlassungen, die unter das Kapitel »Sorgfaltspflicht der Gerichte und Staatsanwaltschaften« einzureihen wären, gab es in diesem Verfahren etliche. Wohl zum erstenmal in einem Presse-Prozeß ist der Verleger und Herausgeber einer Zeitung vor Gericht gestellt worden, ohne daß man den Dienst tuenden Chefredakteur, den man aus dem Impressum mühelos hätte feststellen können, auch nur vernommen hätte. Das ist nicht richtig. Mein Bruder Josef war dagegen, da er sich seiner Sache hinsichtlich der von ihm vertretenen Angeklagten sicher war. Ich habe im Gegenteil die beiden Erklärungen selbst mit Dr. Dahs ausdiskutiert und niedergeschrieben. Den Zettel habe ich noch, er wird in unsere Souvenir-Sammlung eingereiht werden.
Am schärfsten opponiert hat der für den Artikel verantwortliche Redakteur Jaene. Er sagte mir in echter Kohlhaasen-Manier, ich solle ihn nicht fragen, denn das Geld des Verlages stehe auf dem Spiel, und dafür sei ich verantwortlich. Drei Wochen Hauptverhandlung in dieser Besetzung hätten naturgemäß etliche zehntausend Mark gekostet, die keinesfalls erstattet worden wären, da ja auch dem Freigesprochenen nur die »notwendigen Auslagen« ersetzt werden. (Allein die nicht »notwendigen« Stenographen hätten uns an die 6000 Mark gekostet.) Ich antwortete Jaene etwa: »Die Kosten spielen in diesem Prozeß überhaupt keine Rolle. Es geht um unser Prestige, und dafür setzen wir notfalls den ganzen Verlag aufs Spiel. Sie sind angeklagt, und wenn Sie unbedingt den Freispruch wollen, dann machen wir weiter. Ich kann Ihnen da keine Vorschriften machen.«
Jaene insistierte, und ich schickte mich gerade an, Dr. Dahs mitzuteilen, wie er von der Zustimmung des Herrn Bundeskanzlers abhängig sei, so habe mir der Redakteur Jaene einen Strich durch die Rechnung gemacht: da erschien wie ein Deus ex machina der weißhaarige Altministerpräsident von Baden-Württemberg, aufgeboten von Schmeißers Anwalt, und erläuterte, gestützt auf ein ehrenhaftes Leben im Dienst der Politik, dem Hans Dieter Jaene die Vorteile der geplanten Regelung.
Ich meinerseits würde unfair handeln, wenn ich an dieser Stelle in die Diskussion der Vor- und Nachteile einträte. Sie mögen selbst lesen und urteilen. Schmeißer ließ durch seinen Anwalt Dr. Ziegler erklären:
»Ich habe bei meinen Aussagen über den Bundeskanzler Dr. Adenauer und die Nebenkläger Botschafter Blankenhorn und Generalkonsul Dr. Reifferscheidt, die ihren Niederschlag in dem Artikel im SPIEGEL vom 9. Juli 1952 gefunden haben, nicht in beleidigender Absicht gehandelt.
»Soweit in meinen Aussagen ein Vorwurf ehrenrührigen oder pflichtwidrigen Verhaltens gegen die Genannten enthalten ist, halte ich diesen nicht aufrecht.«
Unser Anwalt Dr. Augstein erklärte: »Wir, Herausgeber und Redakteure des SPIEGEL, geben die Erklärung ab, daß wir gegen Herrn Bundeskanzler Dr. Adenauer, Herrn Botschafter Blankenhorn und Herrn Generalkonsul Dr. Reifferscheidt den Vorwurf pflichtwidrigen oder ehrenrührigen Verhaltens nicht erheben.« Der Antragsteller - Dr. Adenauer - und die Nebenkläger - Blankenhorn, Dr. Reifferscheidt - nahmen ihre Strafanträge zurück. Der Justiz, deren Vertreter sich jahrelang auf diesen Prozeß gespitzt hatten, war der Boden unter den Füßen
weggezogen worden. Nur das Verfahren gegen den abgetrennten Ziebell fristet noch ein kärgliches Leben.
Der Staatsanwalt und der Vorsitzende bemächtigten sich der Kostenfrage. Der Staatsanwalt warf die Frage auf, wie der mittellose Schmeißer wohl die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Mitangeklagten tragen solle - dazu hatte er sich ja bereit erklärt. Der Staatsanwalt beantragte, Antragsteller und Nebenkläger sollten die Kosten tragen.
Das Gericht, das insgesamt mehr Zeit mit Beraten als mit Verhandeln zugebracht hat, beriet und warf völlig unmotiviert die Frage auf, ob Bundeskanzler Adenauer seinen Strafantrag wohl nur unter der Bedingung zurückgenommen habe, daß er keine Kosten zu tragen brauche. Die Fragestellung führte zwangsläufig dazu, daß Dr. Dahs erklärte, selbstverständlich habe der Bundeskanzler den Strafantrag nur unter dieser Bedingung zurückgezogen. Natürlich war der Strafantrag von Dr. Dahs nicht unter Bedingungen zurückgenommen worden, was ja auch die Strafprozeßordnung nicht vorsieht, sondern auf Grund der Zusage Schmeißers, die Kosten zu übernehmen, und diese Zusage bestand nach wie vor.
Der Vorsitzende machte sogar den einigermaßen widersprüchlichen Vorschlag, die SPIEGEL-Angeklagten, die ja selbst von Schmeißer Kosten zu bekommen hatten, sollten sich überlegen, ob sie die zu zahlenden Gerichtskosten nicht verbürgen wollten. Darauf empfahl unser Rechtsanwalt Dr. Reismann, Mitglied des Rechtsausschusses im Ersten Bundestag, wenn der Bundeskanzler die Rücknahme des Antrags nachträglich von Bedingungen abhängig machen wolle, dann könne ja der Strafantrag Dr. Adenauers alleine weiterverhandelt werden. (Bernhard Reismann hatten wir als Vorsitzenden des ominösen SPIEGEL-Ausschusses kennen und schätzen gelernt, der seinerzeit im Bundestag die Schmiergeld-Affäre aufklärte.)
Zweieinhalb Stunden beriet das Gericht, ob es Schmeißer oder dem Bundeskanzler und den Nebenklägern die Kosten auferlegen solle*). Die Anwälte aller Parteien wirkten wie Jockeis, die sich auf ein langes Rennen eingerichtet hatten und vor denen unvermutet das Ziel auftaucht: Sie zogen dem Pferd noch einmal kräftig eins über, endlich vereint gegen Staatsanwalt und Gericht (siehe Protokoll).
Die Kammer, drei Berufsrichter und zwei Schöffen, rang sich dazu durch, Schmeißer die Kosten aufzubürden, eine Entscheidung, gegen die der Oberstaatsanwalt in Hannover inzwischen Revision eingelegt hat. »Nach dem bisherigen Ergebnis des Verfahrens«, so begründete der Vorsitzende wörtlich, »ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß teilweise Freisprechung erfolgt wäre.« Diese Erkenntnis konnte er aus der Hauptverhandlung schwerlich gewonnen
*) Die Kosten dieses Verfahrens betragen laut Auskunft des Gerichts 2113 Mark. Wenn Schmeißer nicht zahlt, wenn er den Offenbarungseid leisten muß, dann haften Antragsteller und Nebenkläger als Zweitschuldner. haben, die ja nicht weiter gediehen war, als daß der erste von fünf Angeklagten über sein Vorleben Auskunft gegeben hatte.
Der Staatsanwalt hatte sich wohl um den Schaden gekümmert, den die Staatskasse möglicherweise erleiden könnte. Um den sehr viel größeren materiellen Schaden, den der SPIEGEL durch die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft bereits erlitten hat, sorgte er sich nicht. Dem Staatsanwalt hätte es obgelegen, die Frage zu stellen, was denn nun aus den 31 000 Exemplaren werden soll, die auf Antrag des Staatssekretärs Lenz und der Bonner Staatsanwaltschaft durch das Amtsgericht Bonn beschlagnahmt worden waren.
Erstens müssen sie zurückgegeben werden, zweitens aber können wir aus Gründen der Rechtssicherheit nicht darauf verzichten, vom Bundesverfassungsgericht die Feststellung zu erlangen, daß die Beschlagnahme unrechtmäßig erfolgt ist und daß sie wiedergutgemacht werden muß. Die Verfassungsbeschwerde des SPIEGEL liegt seit über drei Jahren beim Ersten Senat in Karlsruhe. Vom Rechtsreferendar Goethe wissen wir, wie lange das weiland Reichskammergericht zu Wetzlar seine Entscheidungen vor sich herschob. Zu einem Berg von 20 000 unerledigten Prozessen kamen jährlich 120 hinzu, während nur 60 Fälle von den 17 Assessoren je Jahr abgearbeitet wurden.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts ist mit einem Vorrat von über 600 Klagen bald ähnlich zugestopft wie Goethes Reichskammergericht und droht ebenfalls funktionsunfähig zu werden. Wenn eine Zeitung zu Unrecht beschlagnahmt wird, dann braucht sie Recht gleich und jetzt. Eine Entscheidung in einem dringenden Notstand, die drei bis zehn Jahre auf sich warten läßt, hat keine innere Überzeugungskraft mehr, wenngleich sie noch, wie hier, von prinzipieller und zukunftweisender Bedeutung sein mag. Welche Rechtsunsicherheit in Beschlagnahmedingen ist inzwischen durch das Schweigen des höchsten Gerichts eingerissen!
Man wird wohl nicht umhin können, diesen Ausgangspunkt der Affäre Schmeißer - die Beschlagnahme des SPIEGEL durch 10 000 Polizisten - nicht ganz aus den Augen zu verlieren. Eine Zeitung muß bringen dürfen, was die Organe des Staates zu Unrecht verwahren und verwerten. Man wird sich erinnern, welche Vorwürfe obrigkeitstrunkene Schreiber uns bei der Veröffentlichung schuldig zu sein glaubten. Nun, die Vorwürfe haben sich verflüchtigt, nachdem das Gericht auch ohne Prozeß in seinem Einstellungsurteil ausdrücklich auf die Möglichkeit hinweist, daß »nur ein wirtschaftlich schwacher Angeklagter« verurteilt worden wäre und die Kosten zu tragen gehabt hätte. Damit konnte nicht wohl ein Angeklagter vom SPIEGEL gemeint sein.
Wir sind nicht dazu da, um jeden Preis an uns ausprobieren zu lassen, wieweit eine Strafkammer unter heutigen Gegebenheiten in politicis die Wahrheit finden kann. Sie mag das Recht finden, aber damit ist noch nicht gesagt, daß sie auch die Wahrheit findet. Vor dem Recht zu bestehen, ist unsere staatsbürgerliche Pflicht,
aber die Wahrheitssuche und das Risiko der Wahrheit kann uns niemand, erst recht kein Gericht, abnehmen.
Wir haben dem hohen Antragsteller und den Nebenklägern gern erklärt, daß wir ihnen nicht den Vorwurf pflichtwidrigen und ehrenrührigen Verhaltens machen. Wie sollten wir, der SPIEGEL ist ein Nachrichten-Magazin. Bei meiner ersten Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft vor drei Jahren habe ich den angeblich beleidigenden Charakter des Artikels schon bestritten, worüber sich die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift mokiert hat. Wir haben keinen Beruf und kein Interesse, irgend jemanden zu beleidigen. Der frühere Bundestagsabgeordnete Dr. Reismann, der auch als Politiker einen Ruf zu verlieren hat, hatte aus eigenem Entschluß für die Verteidigung den Nachweis übernommen, daß der Artikel nicht beleidigend im strafrechtlichen Sinne sei.
Ich selbst habe den Bundeskanzler in Gegenwart des Untersuchungsrichters und des Rechtsanwalts Dr. Augstein gefragt, ob er sich etwa durch die Meldung beleidigt fühle, daß er im Falle eines Einmarsches der Roten Armee Deutschland verlassen würde. Der Kanzler hat mir die Frage nicht direkt beantwortet, da der Untersuchungsrichter sie als unzulässig zurückwies. Aber der Kanzler sagte mir: »Ich will Ihnen eine Antwort geben. Wenn der Russe kommt, dann fliehe ich nicht, dann vergifte ich mich.« Hier wäre die Doktor-Frage zu stellen, ob die Staatsanwaltschaft eine Beleidigung für gegeben halten würde, wenn eine Zeitung schriebe: »Der Bundeskanzler wird sich im Kriegsfalle vergiften.«
Wenn wir in Deutschland dahin kämen, daß nicht jeder politische Angriff als Staatsgefährdung angesehen würde, dann könnte auch die Schmeißer-Affäre noch eine heilende und reinigende Wirkung ausüben. Anstatt zu beschlagnahmen, sollte man Stellung nehmen. Ich möchte die Zeitung sehen, die eine Stellungnahme des Bundeskanzlers nicht abdruckte!
Anstatt den Strafrichter zwecks Dienstleistung aus dem Bett zu holen, sollte man vor den Zivilrichter gehen, der schneller klären kann und vor dem die Waffen nicht gar so ungleich sind. Der Journalist, der falsch berichtet hat, ist kein Verbrecher, und der Journalist, der über heikle Themen wahr berichtet, ist nicht notwendig ein Staatsfeind. Gegen beide sollte man nicht den Verfassungsschutz mobil machen.
Die Bonner Gepflogenheit, bei Händeln zwischen Politikern die Immunität nicht aufzuheben, gegen Journalisten und sonstige Staatsbürger aber den strafverschärfenden Ehrenschutz des § 187a geltend zu machen, hat ein ungutes, unehrliches Klima geschaffen, in dem Beleidigungsprozesse kaum noch nützlich sind. Wirksamer Ehrenschutz ist nur möglich, wo die Gleichheit vor dem Gesetz unantastbar dasteht wie ein »rocher de bronce«, das lehrt der Fall Schmeißer.
Herzlichst Ihr
Rudolf Augstein