Es ist möglich, daß Sie den SPIEGEL dieser Woche mit zwei verschiedenen Titelbildern am Kiosk hängen sehen, was in der 10jährigen Geschichte unseres Blattes ohne Beispiel ist. Nicht nur, daß der angekündigte Rock-Wimmerer Presley auf ruhigere Zeiten verschoben wurde - statt seiner erscheint auf 80 000 Umschlägen das Bild des ägyptischen Oberkommandierenden Abd el -Hakim Amir, auf 190 000 hingegen der Ungar Nagy, der erste kommunistische Ministerpräsident, der die Uno gegen die Sowjets angerufen hat.
Eine politisch derart turbulente Woche hat es seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben. Aus London war der SPIEGEL - Korrespondent Dr. Alexander nach
Hamburg geeilt - er spendete als einer der ersten im Eilbeker Krankenhaus Blut für die ungarischen Aufständischen -, um mit dem Israel-Korrespondenten des SPIEGEL, Dr. Dolan, zum Nutzen der Redaktion die Hintergründe des Geschehens in London und Tel Aviv zu analysieren. Dolan, Pole von Geburt, wurde auf Grund seiner Sprachkenntnisse und Beziehungen in das Warschau Gomulkas umdirigiert. Der Wiener SPIEGEL-Korrespondent Dr. Germani, studierter Arzt, half derweil in Budapester Ambulanzen.
»Es erscheint unglaublich«, schreibt Leser Wolfgang Hörnink aus Berlin -Schöneberg, »daß eine Zeitschrift, die Anspruch auf politische Meinungsbildung erhebt, in Zeiten weltpolitischer Ereignisse von noch nicht absehbaren Ausmaße ihren Leitartikel an einen amerikanischen Halbstarken verschwendet.« Gemach, als wir Presley, »diesen typischen Vertreter ultramaritimer Unkultur« wie Leser Pooch aus Hannover schreibt, ankündigten, war der Krieg am Nil noch nicht entbrannt. In Ungarn züngelte bereits der
Freiheitswille des Volkes, aber wir hatten noch kein Bild, weder von der Situation noch von der Schlüsselfigur Nagy. Also mußten wir Presley ankündigen, von dem sich die amerikanische Nation dies Jahr immerhin mehr hat beunruhigen lassen als von den Präsidentschaftswahlen. Wir waren bei der Ankündigung ziemlich sicher, daß wir Presley nicht bringen würden, aber wir wußten noch nicht, wen wir an seine Stelle setzen sollten. Leser Dr. Schmid aus Stuttgart bestellte sich telegraphisch Churchill, der jetzt »seinen dritten Weltkrieg anzetteln« wolle.
Nun war die Auswahl der Titelbilder und -Geschichten für uns noch nie eine Frage des Geschäfts, vielmehr der Aktualität. Während die Ungarn mit ihren Unterdrückern abrechneten, besorgten wir ein Photo des tragisch zu spät gekommenen Nagy, den wir immerhin für den einzigen hielten, der die diffizile Situation in Ungarn würde auffangen können. Aber die Nachrichten, daß er sich gegen das überschäumende Freiheitsstreben nicht halten könne, vermehrten sich Mitte voriger Woche immer mehr.
Inzwischen hatten die Engländer und Franzosen am Suez-Kanal mit Rock'n'-Roll à la Presley begonnen. Unser Umschlag, der nicht mit dem Textteil durch die Rotation laufen kann, sondern Bogen für Bogen vorweg hergestellt wird, mußte nun losdrucken. Wir klischierten General Amir, den Oberbefehlshaber der ägyptischen Verteidigungs-Streitkräfte, einen Mann in einer wenig beneidenswerten Situation und auch nicht gerade eine Schlüsselfigur der Weltpolitik. Nagy klischierten wir ebenfalls, aber Amir lief durch die Druckmaschine.
Da wurde am Donnerstagabend gemeldet, daß Nagy gegen die Verstärkung der Sowjet-Truppen in Ungarn protestiert und daß er die Vollversammlung der Vereinten Nationen angerufen habe. Nun hatte der Kommunist, gleichgültig, was aus ihm persönlich werden würde, Tatsachen geschaffen. Er hatte den Zeiger der Weltenuhr um eine Minute vorgerückt, die niemand wieder ungeschehen machen kann, was immer den tapferen Ungarn an Wirren noch bevorstehen wird.
Die Bogen mit Hakim Amir wurden gestoppt. Imre Nagy wurde die Titelfigur unserer Nummer 45, die solcherart zwei Titelgeschichten enthält.
Nächste Woche freilich kann geschehen was will, das Titelbild, unter dem die SPIEGEL-Serie »Ich bin ein Lump, Herr Staatsanwalt« anläuft, wird in jedem Fall programmgemäß gedruckt. Die Serie handelt von der Götzendämmerung, die über Osteuropa hereingebrochen ist, seit es nicht mehr möglich ist, ganze Völker mittels riesiger Ketzerprozesse in Kaninchen -Lähmung an der Strippe zu halten. Das Titelbild selbst zeigt eine Karikatur des Zeichners Behrendt, auf der Ungarns neuerdings geflohene Stalinisten der Witwe des von ihnen hingerichteten László Rajk ihr Krokodils-Mitleid aussprechen. Es gibt kein aktuelleres, kein größeres, kein unaufschiebbareres Thema.
Herzlichst Ihr Rudolf Augstein
Titel Presley
Titel Amir
Titel Nagy