Der schnippische SPIEGEL, so schrieb das amerikanische Nachrichten-Magazin »Time« in einem 130-Zeilen-Artikel über den kleinen Bruder in Europa, habe sein eigenes Zehn-Jahres-Jubiläum nicht erwähnt. Die große Schwester sieht den Grund für dies Versäumnis »in der für den SPIEGEL charakteristischen Verachtung für das Naheliegende« und fährt dann fort: »Statt dessen beging der Herausgeber das Jubiläum, indem er seinen Korrespondenten Claus Jacobi nach Washington entsandte, wo er das erste Redaktionsbüro des SPIEGEL in Übersee eröffnen wird.«
In der Tat, unser zehnjähriges Bestehen zu Beginn des Jahres 1957 haben wir nicht gefeiert. Wir begehen auch die Geburtstage anderer Leute nicht, warum also den eigenen? Zudem hinderte uns unser Sinn fürs Exklusive daran, einen Massengeburtstag mitzufeiern. Unsere Entstehung ist ja etwas anrüchig, wie die aller anderen Lizenzblätter der ersten Stunden nach Kriegsende auch, zudem die Vaterschaft umstritten. Aber Feier oder nicht, Claus Jacobi, unser Bonner Bürochef seit 1952, 30 Jahre alt, ist in Washington. Der junge Mann war nahezu von Kindesbeinen an europamüde, und er hatte den etwas makabren Dauer-Karneval am Rhein leid. Obwohl er den Oxford-Kragen mit runden Ecken in Bonn salonfähig gemacht hat, zählten in seinen Augen nur eingeborene Amerikaner zur Creme der Welt, den Sefton Delmer und einige Angehörige des amerikanischen Intelligence - Dienstes ausgenommen. Wie das Wasser an seinen tiefsten Punkt, so drängte er nach drüben. Er und seine liebenswerte Gattin, die Schauspielerin Anneliese Witt ("Insel ohne Moral"), betrachteten den Dienst in Bonn zuletzt als eine besonders akkurat zu leistende Fegefeuer-Prüfung an den Pforten des Paradieses. Ich war der Erzengel, der das Flammenschwert zu strecken in einer leichtsinnigen Stunde versprochen hatte.
Jacobi hatte drei Bonner Pressechefs verschleißen helfen und dem vierten vorige Woche ein Titel-Jubellied gesungen, schon ganz Lerche, den letzten Triller vom Kapitänstisch der »United States«. Er hatte die fußkranke EVG vorüberhumpeln und auf Nimmerwiedersehen in den Blaubart-Armen des Generals Aumeran verschwinden sehen. Er hatte dem Überminister in spe ein Bein gestellt ("Der Lenz ist nicht mehr da"). Er als einziger hatte nach der Sonne geschaut, die am Mehrheits-Morgen der 51-Prozent-Wahlen 1953 über Bonn aufging: Er fand sie kardinalsrot. Er hatte die Figuranten des Bonner Milieus in Titelgeschichten abgehandelt, den Aktenbock Globke mit seinen Stiefelchen, den Bankiersfreund des Kanzlers, den Steh-auf -Francois-Poncet (Zitat des bedeutenden Staatsmannes über SPIEGEL-Jacobi:
»Daran, daß er mir die Stiefel pißt, sehe ich, daß er ein Hund nur ist.") Mochte Heinrich von Brentano in Brüssel auf der Europa-Konferenz ankommen oder auf Moskaus Flugplatz Wnukowo zur Militärparade die Zigarette zerdrücken ("Gospodin, immerwährende Gesundheit!"), es war wie mit Has' und Swinegel: Stets winkte Jacobis amerikanische Mecki-Haarbürste aus 187 cm Höhe ein freundliches »Ick bün all da«.
Der Bonner Malaise, fand Claus Jacobi, könne seine milieuwunde Phantasie nun keine neuen Aspekte mehr abgewinnen, selbst von den Gipfeln des Venusberges nicht. Und weil es sich fügte, daß Conrad Ahlers, ein Freund Jacobis, ein Freund von uns und ein Freund Theodor Blanks, den Stabsoffiziers-Schreibtisch im außenpolitischen Ressort der »Welt« gern wieder mit dem Pionier-Krieg in Bonns Graben-System vertauschen wollte, ging Ahlers für uns nach Bonn. Übrigens ist es dem Theodor Blank sehr viel besser gegangen, als der Fallschirmjäger-Oberleutnant Ahlers noch sein Pressechef war. Der Kanzler hingegen kommentierte die Arbeitsaufnahme des jungen Conrad im SPIEGEL-Büro mit den Worten: »Der hat schon im Amt Blank nicht jut jetan.«
Haben wir Ahlers von der »Welt« bezogen, so Jacobi von der »Zeit«. Er entstammt der Pflanzschule junger Talente, denen Chefredakteur Richard Tüngel den pointierten Stil und die Kultur des Rotweintrinkens beizubringen suchte. Tüngel reüssierte, was die Feder, nicht aber was Jacobis Gaumen anlangt. Der Schüler avancierte zum Mitarbeiter von »Foreign Affairs« und des »Monat«. Nahm der frühere Flakhelfer allerdings etwa den Hans-Christoph Seebohm allzu hemmungslos unter Feuer - meistens geschah das montags - so hieß es: »Claus, spiegeln Sie nicht!« Solche Ermahnungen konnten nicht ohne Früchte bleiben. Wir zählten ihn bald zu den Unseren.
Er beschränkte seinen Aktionsbereich nicht auf jene Stadt, die er »die kleine Residenz am Rhein« zu nennen sich gewöhnt hatte - wie er denn überhaupt äußerst hartnäckig darauf bestand, daß Bonmots, die ihm beigekommen waren,
auch gedruckt wurden. Er setzte sie jeder nachfolgenden Geschichte zu, so daß wir ständig dem Wahn ausgesetzt waren, wir hätten diese oder jene Genüßlichkeit schon einmal irgendwo gedruckt gesehen. Was er aus Bonn nicht losgeworden war, tauchte gewiß im Bericht aus Kairo wieder auf.
Er sah Nagib, den Ägypter, stürzen - mit meinen eigenen Händen habe ich ihn von einer solennen Moslem-Prügelei ferngehalten -, und er hat seinerseits, sehr gegen seinen Willen, einen europäischen Thron ins Wanken gebracht. Die Geschichte über die Gesundbeterin Greet Hofmans stammt von Jacobi.
In allen Himmelsrichtungen kann er sich auf eine Spezies Menschen stützen, von der man gemeinhin die besten Informationen ernten kann: auf die amerikanische Kolonie. So ist es nicht zufällig, daß er die Titelgeschichten über den ersten Botschafter der Vereinigten Staaten in Bonn, James B. Conant, sowie über deren vermutlich letzte Botschafterin in Rom, Clare Boothe Luce, erstellt hat.
Unsere bisherige Berichterstattung aus den Vereinigten Staaten konnte sich trefflicher Mitarbeiter bedienen, wie Kurt J. Bachrach -Bakers, der immer darüber geklagt hatte, daß ihm die intime Kenntnis der bundesrepublikanischen Wirklichkeit abgehe. Jacobi kennt sie. Zwar, »Time« hat dem SPIEGEL bescheinigt, er widme Nachrichten aus Amerika mehr Platz als irgend eine andere deutsche Publikation: 27 Titel-Geschichten amerikanischer Persönlichkeiten in drei Jahren sei eine erstaunliche Ziffer. Gleichwohl, wenn auch »Time« nichts auszusetzen fand, Jacobi wird versuchen, sich nützlich zu machen.
»Am Weißen Haus mußten wir stoppen«, schrieb er uns in seinem ersten Reisebericht, »weil uns im wahrsten Sinne des Wortes Ike über den Weg lief. Er fuhr mit Mamie zur Kirche. Vergebens hielt ich nach ,weißen Mäusen' und Polizei-Eskorte à la Adenauer Ausschau. Eine zivile Leibwachen-Limousine war alles, was den Präsidenten begleitete. Und während ich in Bonn gewohnt war, von Polizisten-Kellen an den Straßenrand gewinkt zu werden, konnte ich hier den Staatschef in aller Ruhe beäugen. Wir parkten zusammen bei rotem Licht.«
Nicht genug Zeit für ein Interview.
Herzlichst Ihr Rudolf Augstein
Claus und Anneliese Jacobi