Gefängnisse Lieber sterben
In Attica flattern 72 Fahnen. Sie flattern zu Ehren der zehn Gefängniswärter, von denen neun im Kugelhagel ihrer Polizeikollegen verendeten.
Sie wehen nicht für 32 andere Tote, die in der letzten Woche ebenfalls auf Tischen und Bänken in der Scheune hinter »Marley's Funeral Home« lagen. Es waren namenlose Tote. An ihren Zehen hingen Schilder, die sie als »P 1« bis »P 32« auswiesen: Gefangene, die bei einem der blutigsten Gefängnisaufstände der amerikanischen Geschichte umgebracht worden waren.
17 000 Polizisten. Gefängnisbeamte und Nationalgardisten hatten den Aufstand von etwa 1000 Gefangenen in einem Feuerhagel erstickt. »Wir versuchten sie alle zu erwischen, bevor sie etwas tun konnten. Und wir haben sie alle erwischt«, prahlte anschließend ein Polizist.
Sie erwischten dem offiziellen Autopsiebefund zufolge aber auch mindestens neun von zehn Gefängnisbeamten, die den Aufständischen in die Hände gefallen waren.
Das Massaker von Attica zeigt: Der Haß zwischen schwarzen Großstadthäftlingen und weißen Kleinstadtwächtern ist so groß geworden, daß es beinahe zwangsläufig zur Explosion kam. In Attica hatten die schwarzen Häftlinge den »Heiligen Krieg« beschworen und ihren Geiseln erklärt: »Wir sind bereit zu sterben, und ihr werdet auch sterben.«
Dabei galt das Gefängnis -- 1931 für neun Millionen Dollar gebaut -- keineswegs als besonders abschreckendes Beispiel unter den amerikanischen Gefängnissen, die Präsident Richard Nixon »Hochschulen des Verbrechens« nennt und die der Oberste Richter der Vereinigten Staaten, Warren Burger, für den am schlechtesten verwalteten Zweig des Staates hält.
Homosexualität, Rassenhaß und Rauschgift waren unter den 2243 Häftlingen in Attica so verbreitet wie in allen anderen Gefängnissen der USA. Die Justizbeamten, mit 6000 Dollar Jahreseinkünften Stiefkinder des Systems, sahen in den Häftlingen Bestien -- und die Häftlinge in den Polizisten ebenfalls.
In sämtlichen Gefängnissen der USA stehen für 426 000 Häftlinge nur 50 hauptberufliche Psychiater zur Verfügung. In Attica gab es keinen. Die beiden Ärzte des Gefängnisses pflegten die nicht englisch sprechenden puertoricanischen Häftlinge (15 Prozent) routinemäßig gegen alle Krankheiten mit zwei Aspirin-Tabletten zu versorgen.
Im Staatsgefängnis von West Virginia in Moundsville sind während der letzten drei Jahre 15 Häftlinge durch Gewalt umgekommen: Sechs wurden erschlagen, drei vergiftet, einer verbrannt, fünf nahmen sich das Leben.
Im Mai dieses Jahres lehnte es Staatsanwalt Thomas Gall ab. den Antrag zu stellen, einen Angeklagten in das Moundsville-Gefängnis zu schicken. Es sei seine amtliche Politik, nur jemand dorthin zu verdammen, »den ich als absolut verloren für die Gesellschaft, als menschlichen Abfall betrachte«, begründete der Staatsanwalt seine Entscheidung. Er selbst würde »den Tod vorziehen. um dort nicht eingekerkert zu werden«
In Arkansas sind die Zustände in den Gefängnissen so, daß Robert Sarver, Boß der Gefängnisverwaltung in diesem Südstaat, einem Washingtoner Kongreß-Ausschuß erklärte: »Wir lesen Exposés über Homosexualität, Glücksspiele, Messerstechereien, Fluchtversuche und politische Korruption in unseren Gefängnissen, und die Reaktion der ausgebildeten und erfahrenen Gefängnisbeamten ist: »Na so was, wissen Sie nicht was Neues?'«
Es gibt etwas Neues: Der alte Typ des Strafgefangenen, dessen oberstes Ziel es war, sich anzupassen und nicht aufzufallen, gehört der Vergangenheit an. »Die guten Gefangenen -- die Alkoholiker und Scheckfälscher, die Taschendiebe und Gelegenheitsklauer -- kriegen wir nicht mehr«, sagt Direktor Raymond K. Procunier von der Gefängnisverwaltung von Kalifornien, »statt dessen haben wir es mit Gewaltverbrechern zu tun.«
Immer häufiger versuchen Richter, mit der Kriminalitätswoge fertig zu werden, indem sie im Schnellverfahren Freiheitsstrafen zur Bewährung aussetzen. Zwei Drittel aller zur Haft Verurteilten in den USA sind laut »Time« zur Zeit auf freiem Fuß. In den Gefängnissen bleiben lediglich die »schweren Fälle«, die noch 1960 nur ein Drittel der Insassen ausmachten.
Die Bereitschaft, Kriminelle laufenzulassen, hat freilich ihre Grenzen, wenn die Straftäter schwarz, arm oder unwissend sind. »Wenn wir in die Gefängnisse sehen und betrachten, wen wir da haben, dann ist die größte Gruppe arm, die zweitgrößte Gruppe ist schwarz ... und eine andere Kategorie sind die Ungeschulten«, sagte Bennett Cooper, Chef der Gefängnisverwaltung von Ohio.
Die Schwarzen in den Gefängnissen -- nach inoffiziellen Schätzungen zwischen 50 und 60 Prozent der Insassen bei einem Bevölkerungsanteil von elf Prozent -- setzen sich gegen das System zur Wehr. In Attica, wo 85 Prozent der Häftlinge Farbige waren, behaupteten Mörder und Vergewaltiger, sie seien »politische Gefangene«. Denn die meisten schwarzen Strafgefangenen fühlen sich nicht schuldig, was immer sie auch getan haben. Sie betrachten sich als Opfer der Gesellschaft -- was sie in der Tat auch oft sind.
Die Politisierung vor allem der schwarzen Strafgefangenen könnte nach dem Gemetzel von Attica zu weiteren Explosionen führen. Häftlinge in vielen Strafanstalten der USA verfolgten die Unruhen am Fernsehschirm und in den Zeitungen.
»Right on«, munterten sich die Gefangenen im Croton-Gefängnis der Bundeshauptstadt Washington auf. In Baltimore verbarrikadierten sich 200 Häftlinge in der Kantine. In Atlanta warfen Häftlinge ihre Mittagsmahlzeit durch den Raum, und in Gleveland (Ohio) verstopften Häftlinge auf Kommando ihre Toiletten mit Papier.
Schwarze Bürgerrechtler sehen in den Gefängnissen der USA jetzt die Fortsetzung einer Entwicklung, die auf den Baumwollfeldern des Südens begann und sich in den Gettos der großen Städte im Norden fortsetzte: Weitere Distanzierung zwischen Schwarz und Weiß und weitere Radikalisierung, wo diese Distanz nicht einzuhalten ist, wie etwa in den Gefängnissen.
»Die Attica-Tragödie ist ein weiterer schlagender Beweis dafür, daß in Amerika etwas schrecklich falsch ist«, fand der demokratische Senator Edmund Muskie. »Wir sind so weit gekommen, daß Menschen lieber sterben, als noch einen Tag in Amerika zu leben.«