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Kriminalität Lieber Tennis spielen

Muß das Haftrecht reformiert werden? Jugendliche Serientäter schlüpfen immer wieder durch die Maschen der Justiz.
aus DER SPIEGEL 35/1993

Den Polizeibeamten galt der Fall als »reine Routine« - nächtliche Keilerei mit anschließendem Raub. Auch den Hauptverdächtigen, der vor dem Frankfurter Theater die Uhr eines Passanten entwendet haben soll und deshalb festgenommen wurde, kannten sie längst: Der junge Türke, 19 Jahre alt, war bei der Polizei schon »110mal in Erscheinung getreten«.

In der gleichen Nacht, Ende Juli, fischte die Polizei am Frankfurter Stadtrand einen weiteren alten Bekannten aus einem frisch gestohlenen Auto: Ein junger Deutscher, 18 Jahre alt und den Ordnungshütern aus 47 ähnlichen Fällen vertraut, wurde ebenfalls festgenommen.

Fälle solcher Art sind, so ein Polizeisprecher, »Alltag in einer Großstadt«. Dennoch produzieren die wenig spektakulären Vorgänge in Frankfurt Schlagzeilen. Grund: Die zuständigen Haftrichter haben die beiden Vielfachtäter umgehend wieder auf freien Fuß gesetzt.

Der Streit könnte sich alsbald auf die Republik ausweiten. Er geht um die Frage, ob die Gesetze noch genügen, um einem neuen Typ von »Intensivtätern« (Polizei) vor allem unter Jugendlichen das Handwerk zu legen.

Woche für Woche spült die öffentliche Diskussion im Rhein-Main-Raum neue Einzelheiten über Mehrfachtäter hoch, die nach ihrer Festnahme unbehelligt nach Hause marschieren. Die Frankfurter Allgemeine empfindet den Disput als »bedrückend": »Die Botschaft vom hilflosen Staat ist in ihrer Wirkung auf Ordnungskräfte wie Bevölkerung verheerend.«

Einige Haftrichter seien, tönt der örtliche FDP-Chef (und Rechtsanwalt) Hans-Joachim Otto, ein »Sicherheitsrisiko für die Bevölkerung«. Richter wiederum verwahren sich gegen Angriffe auf ihre »Unabhängigkeit«, der Richterbund schiebt die Schuld auf Polizei und Staatsanwaltschaft: Die seien »zu langsam« und zu schwach besetzt. Die Polizei kontert mit Hinweisen auf faule Richter, die nachmittags »lieber Tennis spielen als Haftsachen bearbeiten«.

Leserbriefschreiber wünschen sich in spaltenlangen Meinungsbekundungen mal eine »gesund empfindende Richterschaft«, mal Juristen, die selber Erfahrungen als »Opfer von Gewalttätern« machen.

Die Frankfurter Haftrichter indes beteuern, sie hätten sich nichts vorzuwerfen. Ihre Entscheidung, Vielfachtäter, die noch dem Jugendstrafrecht unterliegen, auch nach Dutzenden von Festnahmen wieder freizulassen, entspreche dem Gesetz und der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts.

Junge Leute, bei denen Fluchtgefahr als Haftgrund meist ausscheidet, weil sie angeben, einen festen Wohnsitz zu haben, schlüpfen besonders leicht durch die Maschen des Gesetzes. Auch »Wiederholungsgefahr«, mit der eine Untersuchungshaft begründet werden könnte, ist, so merkwürdig es anmutet, in der Regel nicht gegeben.

Der junge Türke etwa, in den Polizeiakten mittlerweile bereits mit 114 »Falldaten« registriert, ist kein »Serientäter« im Sinne der Strafprozeßordnung - jedenfalls nicht, wenn er des Raubes verdächtigt wird wie Ende Juli, als er sich nach der Schlägerei am Theater eine Uhr im Wert von 350 Mark angeeignet haben soll. »Wiederholungsgefahr« als Haftgrund setzt im Fall dieses Täters mindestens zweierlei voraus: Es muß die Gefahr bestehen, daß er »weitere erhebliche Straftaten gleicher Art« begeht, also Raub. Und: Er muß »innerhalb der letzten fünf Jahre« schon einmal wegen Raubes verurteilt worden sein.

Raub aber zählte in der Vergangenheit gerade nicht zu den Spezialitäten des Türken, der in Frankfurt dem »Club 77« angehört, einer berüchtigten Jugendbande. Der junge Mann war zwar mehrfach verknackt worden (Gesamtstrafe: ein Jahr und acht Monate), aber stets wegen Diebstahls und Drogenhandels, nie wegen Raubes.

Auf Intensivtäter, die ständig die Delikte wechseln, passen die derzeit geltenden Gesetze nicht. Die einschlägigen Regelungen entstanden zu Zeiten, als kriminelle Karrieren sich durchweg auf gleichartige Straftaten beschränkten und es undenkbar erschien, daß ein Täter ständig andere Delikte begeht.

Als Serientäter im Sinne des Gesetzes gilt dagegen der junge Deutsche, der insgesamt 47mal wegen Fahrens ohne Führerschein erwischt wurde, meistens in gestohlenen Autos. Er habe, sagte er im Juli einem Staatsanwalt ganz offen, nun mal »einen Tick für Autos«. Haftbefehlsanträge gegen ihn hätten »keinen Zweck«, er werde »sowieso freigelassen«.

Damit lag der junge Mann lange Zeit richtig. Auch bei ihm, der auf dem Papier bei seinen Eltern im Rheingau wohnt, mochten die Haftrichter Wiederholungsgefahr nicht akzeptieren. Zwar ließ der Autoknacker nie einen Zweifel daran, daß er sein Tun fortsetzen werde. Aber das Gesetz verlangt als Voraussetzung für die Wiederholungsgefahr auch, daß der Täter »eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr« zu erwarten hat - womit nach dem Jugendstrafrecht nicht zu rechnen war.

Im Juli riß den Strafverfolgern offenbar die Geduld. Nachdem der junge Knacker innerhalb zweier Wochen gleich fünfmal in gestohlenen Autos erwischt worden war, immer in Frankfurt, beantragte die Staatsanwaltschaft Untersuchungshaft, nun doch wegen Fluchtgefahr: Der Täter sei zwar im Rheingau offiziell gemeldet, aber »hält sich dort offensichtlich nicht auf«.

Der Haftbefehl wurde tatsächlich erlassen - am gleichen Tag aber von einem Jugendrichter gegen Meldeauflagen wieder außer Vollzug gesetzt. Den Autoknacker schreckte das wenig. Kurz darauf wurde er von der Polizei abermals aus einer gestohlenen Limousine gezogen.

Diesmal meinten die Staatsanwälte auch den Richter von der drohenden Wiederholungsgefahr überzeugen zu können: »Was sonst könnte der Gesetzgeber denn damit gemeint haben«, erboste sich ein Staatsanwalt. Doch erneut lehnte ein Haftrichter ab: Es fehle, so die Begründung, an »der erforderlichen Straferwartung«, also eben einer Jugendstrafe von mehr als einem Jahr.

Mittlerweile ist der Vielfachknacker dennoch in U-Haft genommen worden, nun plötzlich doch wegen Fluchtgefahr. Der Serientäter hatte - schlimmeres Vergehen offenbar als alle Autodiebstähle - einen Richter desavouiert: Er war zu einem vereinbarten Gespräch nicht erschienen. Y

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