FRANKREICH Lieber verdrängen
Er ist ein Bulle von einem Mann, lief lange mit einer schwarzen Augenklappe durch die Gegend, redet mit Geschwindigkeit und Feuerkraft eines Maschinengewehrs und ist der Schrecken aller etablierten Parteien: Jean-Marie Le Pen, Rechtsaußen der Nation und französischer Abgeordneter im Europäischen Parlament.
Neuerdings spielt der Reaktionär mit der wachsenden Anhängerschaft (elf Prozent bei den Europawahlen im letzten Juni) noch eine andere, wenn auch unfreiwillige Rolle. In Veröffentlichungen des satirischen Wochenblatts »Le Canard enchaine« und in der linken Tageszeitung »Liberation« ist er als Folterer bezeichnet worden, der 1957 in Algier mit den Aufständischen kurzen Prozeß gemacht haben soll.
Wer Le Pen einen Rassisten oder Faschisten schimpft, verleumdet den 56 Jahre alten Haudegen. So wenigstens haben die Gerichte entschieden. Den Vorwurf, ein »Anhänger Francos und Hitlers« zu sein, muß er sich dagegen gefallen lassen.
Die angekündigte Verleumdungsklage gegen »Liberation« hat Le Pen noch nicht eingereicht, das Verfahren gegen den »Canard« läuft von einer Vertagung zur nächsten. Doch zu zahlreich sind die Zeugen, zu präzise die Anschuldigungen, als daß den Zeitungen ein Maulkorb verordnet werden könnte.
Im Jahr 1957, als Le Pen angeblich in Algier wütete, war der Gefolgsmann des populistischen Mittelstandsrevoluzzers Pierre Poujade eigentlich Mitglied der Pariser Nationalversammlung. Doch er hielt es nicht auf seiner Abgeordnetenbank aus und gab dem dringenden Bedürfnis nach, sich zum Kampf gegen die Aufständischen in Algerien zu melden.
Er schloß sich einer von General Jacques Massu befehligten Fallschirmjägereinheit an und geriet mitten in die Schlacht um Algier, in der beide Seiten keinen Pardon gaben.
Daß dabei auf französischer Seite gefoltert wurde, ist unbestritten. Schon 1955 lagen der Regierung an der Seine zwei Berichte vor, die solche Praktiken bei Polizeiverhören belegten. Zwei Jahre später wiesen Blätter wie »Le Monde«, »L'Express« und »l'Humanite« darauf hin, daß auch Massus Soldaten ihre Gefangenen folterten.
Der französische Kommunist Henri Alleg, in Algerien auf der Seite der Rebellen, beschreibt in seinem Buch »La Question« (Die Frage) detailliert, mit welchen sadistischen Zugaben die Militärs aus dem Mutterland ihre Gefangenen gefügig machten.
Selbst der Haudegen Massu wich 1971 in seinem Buch »Die wahre Schlacht um Algier« der Folter-Frage nicht aus: »Ich kann darauf nur mit Ja antworten, auch wenn die Folter nie institutionalisiert oder kodifiziert wurde.«
Die regierenden Linkskoalitionen der Jahre 1955 bis 1957 indes stellten sich taub - typisch war das Verhalten des Justizministers unter Guy Mollet: »Die einzige Verhandlung (mit den algerischen Rebellen) ist der Krieg.« Sein Name: Francois Mitterrand, heute Präsident der Nation.
Auch Charles de Gaulle, der 1958 an die Macht kam, weil er als Garant für ein französisches Algerien galt, kreidete seinen wenig zimperlichen Militärs ihre Tortur-Methoden nicht an. Keine einzige Anklage wurde je wegen der Folterungen erhoben. Ganz im Gegenteil: Seit 1962 gilt für alle mit dem Algerienkrieg verbundenen Delikte eine Amnestie.
Die Folgen des Krieges waren aber nicht mit einem Federstrich aus der Welt zu schaffen. Nach dem französisch-algerischen Friedensschluß von Evian im März 1962 strömte rund eine Million Algerienfranzosen, die »pieds-noirs«, ins Mutterland. Sie waren die Opfer der Entkolonialisierung, ein ständiger Stachel im Fleisch des französischen Stolzes.
Die verletzte und verunsicherte Nation verweigerte sich einer richtigen Vergangenheitsbewältigung.
Die Militärs hingegen, obwohl letztlich erfolglos, wurden zu Helden. Für algerische Folteropfer war da kein Platz mehr.
»So sind die Franzosen nun einmal«, erklärte das Magazin »Le Point« den großzügigen Umgang mit der eigenen Geschichte, »sie verdrängen lieber, was sie entzweit hat oder was ihnen im Verhalten der Nation in unrühmlicher Erinnerung ist.«
Der Beleg des Magazins für die These: »Die Amerikaner haben große Filme über den Vietnam-Krieg gedreht, die Engländer über ihre Kolonialkonflikte. Doch es gibt keinen großen französischen Film über Algerien.«
Ganz in dieses Bild paßte die Reaktion der französischen Öffentlichkeit, als im Frühjahr 1982 im algerischen Aures-Gebirge Massengräber mit über 1000 Opfern brutaler Hinrichtungen durch französische Truppen gefunden wurden. Mit
ein paar Zeitungsartikeln war die Sache abgehakt.
Aus der Verstümmelung und Haltung vieler Skelette war aber unzweideutig abzulesen, daß viele der Insassen des Internierungslagers von Khenchela vor der Exekution gefoltert worden waren. Doch selbst dem linken Publizisten und Algerienfreund Jean Daniel fiel dazu nur ein, daß eine Polemik um die gräßliche Entdeckung »unnütz« sei.
Verdrängung um jeden Preis praktizierte auch der sozialistische Staatspräsident Mitterrand. Gut ein Jahr nach seinem Amtsantritt ließ er einen Gesetzesentwurf mit dem Ziel einbringen, »gewisse Folgen der Ereignisse in Nordafrika« aus der Welt zu schaffen. Damit war nichts weniger als die Rehabilitierung der acht noch lebenden OAS-Generale gemeint, deren Verrat und Bombenkommandos ganz Frankreich während der frühen 60er Jahre in Angst und Schrecken versetzt hatten.
Damit nicht genug. Trotz deutlichen Widerstandes bei den sozialistischen Abgeordneten wurden die einst zum Tode (Raoul Salan, Edmond Jouhaud) oder zu langen Haftstrafen verurteilten Generale wieder in ihre alten Dienstgrade und Pensionsansprüche eingesetzt. Mitterrands Begründung: »Die Nation hat nach 20 Jahren das Recht, zu verzeihen.«
Ihren Militärs haben die Franzosen in der Tat eher verziehen als den Algeriern, die sich für die Befreiung ihres Landes schlugen. Das wurde erneut deutlich im November 1984, als Paris zur Feier des 30. Revolutionstages seinen Außenminister Claude Cheysson nach Algier entsandte.
Die Entrüstung über diese naheliegende Geste schlug rechts wie links hohe Wellen. Typisch der Protest des gaullistischen Fraktionschef in der Nationalversammlung, Claude Labbe: »Claude Cheysson entehrt sich, wenn er der Gedenkfeier für die Massaker an französischen Zivilisten beiwohnt.«
Bitter fragte »El Moudjahid«, das offiziöse Blatt der algerischen Regierung: »Wer hat eineinhalb Millionen seiner Kinder in diesem Krieg verloren? Wer entdeckt fast täglich noch Massengräber? Wenn Rachegefühl ein Recht wäre, wäre es sicher auf unserer Seite.«
So ist es leicht zu verstehen, daß auch bei der Diskussion um den vermutlichen Folterer Le Pen manchem Franzosen nicht wohl ist. Denn je mehr die Linke auf den rechten Maulhelden einschlägt, um so mehr wächst die Gefahr, daß er damit in die Rolle des Märtyrers gerät, dem die Wähler noch mehr als bisher zulaufen.
Zumindest aus dieser Sicht hat - wider alle politische Moral - der für seine rüde Sprache bekannte Fallschirmjägergeneral i. R. und Algerienkämpfer Marcel Bigeard gar nicht so unrecht mit dem Satz: »Es ist absolut sinnlos, heute die alte Scheiße wieder aufzurühren.«